τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 28. Januar 2024

In der Metaphysik lesen (1093b 7 - 1093b 28)

24. Jänner 2024


 

Die beiden Bücher XIII und XIV machen einen eher schwachen Eindruck, da sie nach dem Buch XII, welches die aristotelische Theologie einigermaßen deutlich umreißt, kein eigenes Thema aufweisen zu können scheinen. 

 

Sie gehen von der Mathematik aus, die in der aristotelischen Wissenschaftsklassifikation einen bestimmten Platz einnimmt: als zweitgenannte theoretische oder kontemplative Wissenschaft nach der Physik und vor der Theologie. In der Metaphysik widmet sich das Buch X mit den Begriffen des Einen und des Vielen und der Zahl grundlegenden Betrachtungen zur Mathematik, die es insgesamt mit einem der Akzidenzien, mit der Quantität, zu tun hat, was er auch in Buch XIV wieder in Erinnerung ruft (1089b 34f.).

 

Folgt man Aristoteles, so fanden vor sehr langer Zeit in Ägypten Menschen die Muße, um sich wissenschaftlicher Tätigkeit, etwa der Mathematik, hinzugeben (siehe I, 982b, 23ff.).

 

Zwei Jahrhunderte vor Aristoteles gründete Pythagoras von Samos (570-510) in Unteritalien eine religiös gestimmte Philosophenschule, in der die Mathematik und die Musik intensiv gepflegt worden sind. Ihre Lehre prägte auch die Akademie von Platon (428-372) sehr stark, in der Aristoteles zwanzig Jahre als Schüler, vielleicht auch schon als Lehrer gelebt hat. 

 

In den jetzt gelesenen Büchern der Metaphysik geht Aristoteles von der Mathematik aus und arbeitet sich kritisch bis polemisch damit ab, die Bedeutung der Zahlen und der geometrischen Figuren von sachlich nicht haltbaren Aufladungen zu befreien. Er möchte ihnen „keine andere Natur zuschreiben, sondern nur schauen, ob sie sind oder nicht sind, und wenn sie sie sind, in welcher Weise sie sind“ (XIII, 1076a 23ff.)

 

Aristoteles insistiert darauf, daß Zahlen nicht Ursachen, nicht Prinzipien, nicht Wesen, nicht Ideen sind. Sie seien nur Zahlen - also Mittel zur Zählung von Dingen, zu deren Existenz und Essenz sie wenig bis nichts beitragen. 

 

Die Hartnäckigkeit, die polemische Intensität, mit der die Zahlen auf ihre Seinsweise zurechtgestutzt werden, verfolgt wohl nicht das Anliegen, eine „Reine Zahlenlehre“ zu entwerfen. Vielmehr geht es darum, von der Mathematik aus mannigfache Phänomene in den Blick zu nehmen und zu fragen, wie sie sich von da aus darstellen. Also die Mathematik wird sozusagen als Observatorium benützt, mit dem fragwürdige philosophische Theorien kritisiert werden. Aber auch neue Schlaglichter auf schon bekannte Phänomene geworfen werden - angeblich bekannte Phänomene: denn die bekannten Phänomene rutschen nur allzu leicht ins Ungefähre und Unbekannte.

 

Die mathematischen Größen können sich in den wahrnehmbaren Dingen nur potenziell befinden; außerhalb ihrer, also selbständig, können sie gar nicht existieren. 

 

In einer entgegengesetzten Richtung betont Aristoteles, daß „die mathematischen Wissenschaften sehr wohl vom Schönen oder Guten sprechen, und daß sie das in höchstem Maße deutlich machen; auch wenn sie sie nicht benennen, so zeigen sie doch ihre Werke und Proportionen auf. Die hauptsächlichsten Arten des Schönen sind Ordnung, Gleichmaß und das Begrenzte. Diese aber werden am besten von den mathematischen Wissenschaften gezeigt. Und weil diese (nämlich die Ordnung und das Begrenzte) Ursachen vieler Dinge zu sein scheinen, so ist es offensichtlich, daß die mathematischen Wissenschaften auch von einer solchen Ursache sprechen, die als das Schöne gewissermaßen Ursache ist. Noch deutlicher werden wir darüber noch an anderen Stellen sprechen.“ (1078a 34ff.)

 

Mein Grazer Übersetzer bemerkt dazu, daß daß dieses Versprechen von Aristoteles nicht eingelöst worden sei. 

 

Und man kann auch die Vermutung anfügen, daß diese Stelle ein ernst zu nehmendes „Symptom“ sein könnte - dafür, daß der Text unvollständig überliefert oder gar unvollständig - nämlich nicht - fertiggestellt worden ist, etwa weil der Autor durch einen schwerwiegenden Zwischenfall daran gehindert worden ist. 

 

Daß er gerade an dieser Stelle unterbrochen, abgebrochen worden ist, muß tatsächlich als schwerer Unfall betrachtet werden - denn die Stelle ist vielversprechend. In höchstem Maße aufzeigend, am besten zeigend - das sind gerade die erkenntnispolitischen Glücksfälle, die hier im Text selber genannt werden. 

 

Daher ist es sehr wohl angebracht, hier einen „Fall“ von „Verstümmelung“ anzunehmen - jenem Unglück, das von Aristoteles in sein Begriffslexikon (im Buch V) aufgenommen worden sind, wo angeblich nur „Grund- oder Hauptbegriffe“ Platz finden können. Wir müssen unser Verständnis von „Grund- oder Hauptbegriffen“ revidieren, wenn wir dem aristotelischen Denken näher kommen wollen, als es die bisherigen Aristoteles-Klassiker zustande gebracht haben. Aristoteles versteht unter Verstümmlung einen Vorgang bzw. einen Zustand, der knapp vor der Zerstörung oder Vernichtung liegt - und das Kriterium für die Unterscheidung liegt im Begriff des Wesens: wenn das gerade noch bewahrt ist (was sich an der Funktionsfähigkeit bemißt), dann kann man von Verstümmelung, dann muß man nicht von Vernichtung sprechen.[1]

 

Diese Stelle liegt gewissermaßen quer, ja konträr zu meiner obigen Einschätzung, daß Aristoteles hier die Mathematik nur zurechtstutzen oder gar reduzieren will. Die Mathematik will er gar nicht zurechtstutzen - nur irrige „philosophische“ Deutungen will er korrigieren.

 

Es folgt eine Auseinandersetzung mit der platonischen Ideenlehre - oder mit einer Auffassung davon, welche dem Begriffsallgemeinen, das von Sokrates erstmalig präzis als das „was“ eines Dinges, einer Eigenschaft oder eines Vorganges definiert worden ist, ein selbständiges Existieren zuspricht. 

 

Und mit der Auffassung, daß innere Formen (die auch Aristoteles annimmt), etwas entstehen lassen. Dazu brauche es auch ein „Etwas, das bewegt hat“ (1080a 4).

 

Sodann eine langwierige Auseinandersetzung mit der These, daß die Zahlen selbständig existieren und agieren - wobei Aristoteles hier auch ein Element der sogenannten ungeschriebenen Lehre Platons kritisiert: „das Eine und die unbestimmte Zwei“. Was wiederum dazu führt, daß er pythagoreische und platonische Ansichten miteinander zusammenbringt (worüber er als langjähriger Platon-Schüler und wohl auch -Assistent) bestens informiert gewesen sein muß. Wiederum verteidigt er die Lehre des Sokrates, die ja Platons Lehre überhaupt erst „bewegt“ hat.

 

Auch der Wahrnehmungsvorgang wird als Beispiel angeführt: „In akzidenzieller Weise sieht der Gesichtssinn die allgemeine Farbe, weil eben ‚diese Farbe‘, die er gerade sieht, Farbe ist.“ (1087 a 19f.)

 

Eine philosophiehistorische Ursache für das Aufkommen der falschen Hypostasierungen, wie sie in der sogenannten Ideenlehre sich durchgesetzt haben, sieht er in einer von Parmenides vorgeschlagenen Vereinheitlichung der Realität - wogegen er seine pluralistische Ontologie zur Geltung bringt: „das Seiende ist teils ein Das, teils ein Qualitatives, teils ein Quantitatives, teils ein Örtliches.“ (1089a 14).

 

Die zahlenartigen angeblich platonischen Prinzipien sind nicht geeignet, Ursache dafür zu sein, „daß es zweierlei Weiß gibt oder viele Farben, Flüssigkeiten und Figuren - sonst wären nämlich auch sie Zahlen und Einsen.“ ( 1089a  37f.).  

 

Die Flüssigkeiten gehören für Aristoteles zu den Körpern, weil eines der vier Elemente das Wasser ist - neben der Erde, der Luft und dem Feuer. Unsere Gewohnheit, nur Festkörper für Körper zu halten, hat sich seit der Neuzeit herausgebildet. Michel Serres hat in dem genannten Buch über Lukrez den beweglicheren Körpern einen gewissen Vorrang eingeräumt - weil sie den mikrophysikalischen Vorgängen näherbleiben.

 

Selbst wenn es die Zahlen nicht gäbe, „gäbe es die Seele und die wahrnehmbaren Körper“ (1090b 1). Die Seele ist eine bestimmte Art von Formursache, die bestimmte Körper auszeichnet - ihnen aber nicht die Körperlichkeit nimmt (eher im Gegenteil!).

 

Empfindungen sind einerseits Bestimmungen des Wahrnehmenden, andererseits Eigenschaften des Wahrgenommenen - der Körper. „Das Weiße, das Süße, das Warme“. (1092b 16). Eine zufällige (?) Zusammenstellung von beinahe intimen Qualitäten, die keine Zahlen sind. 

 

Mit diesen Beispielen „rettet“ Aristoteles das Physische als solches, das aufseiten der sogenannten Subjekte und auch der Objekte besteht.

 

Noch intimer die sprachlichen Laute, etwa die Konsonanten, die an verschiedenen Stellen im Mund gebildet werden. Wenn mehrere Konsonanten unmittelbar zusammentreffen und somit eine Konsonanz bilden, werden sie entweder zu einem Buchstaben zusammengeschrieben - wie etwa X - oder die Schrift schreibt sie einzeln - wie etwa GR. Phonetik und Graphik bilden die Physik der Sprache. (1093a 21ff.) Ein angrenzender Phänomenbereich ist die Musik.

 

Diese „Mikrophysik“ geht direkt in eine Physik der Kultur über, in die Ästhetik, wie sie Aristoteles auch der Mathematik zugeordnet hat.

 

Und die verweist direkt auf die „Physik“ jenes Wesens, die nach Aristoteles eine „andere Physik“ ist:

 

eine des „Ersten, Ewigen, des Selbstgenügsamsten, des Ersten, das das Heil ist und sich selbst genügt, und dem das Gute zukommt. Es muß unvergänglich und sich selbst genügend sein - weil es sich gut verhält“ (1091b 16ff.).

 

Die von den mathematischen Wissenschaften aufgewiesenen Schönheitswirkungen verbinden die Qualitäten des Physischen mit den Qualitäten des ersten Prinzips, welche sowohl ethische wie ontische sind.

 

Eine Figur in einer Konstellation, die die Theographie des Buches X vollendet - und doch nicht vollendet - hat.

 

Die Tatsache, daß Aristoteles zuletzt in Anlehnung an die „mathematischen Wissenschaften“ die Wirkungen und Proportionen des Schönen und Guten herbeiruft, um die Positionierung des „Schönen als Ursache“ plausibel zu machen, wenn auch nicht vollkommen, erlaubt es mir, ein nicht ganz vollkommenes Bild von so einer Ursache hier einzuschalten.

 

 


 

Walter Seitter



[1] Siehe Walter Seitter: Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I-VI) (Freiburg-München 2018): 210ff.

 

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