τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 11. Dezember 2015

In der Metaphysik lesen (1022a 13 – 36)

Der Abschnitt 18 wirft bereits mit seiner Themenangabe einige Rätsel auf. Während alle übrigen Abschnitte des „Wörterbuchs“ mit Substantiven tituliert werden, einige wenige mit irgendwie adjektivischen Wörtern, stehen hier zwei von einer Präposition deklinierten Pronomina, ein relatives oder interrogatives und ein reflexives, obenan: „wonach, an sich“, oder: „woran, an ihm selber“. Die  beiden Ausdrücken gemeinsame Präposition lautet: kata – im Sinn von „gemäß“, „aufgrund“, „an“, „nach“.

Es handelt sich also um Präpositionalpronominalausdrücke, die mit dem Artikel to substantiviert werden. Derartige Substantivierungen sind allerdings relativ häufig eingeführt worden – und haben die spezifisch philosophische Sprache hervorgebracht. Aristoteles etwa hat mit „to metaxy – das Zwischen“ den Begriff „Medium“ geschaffen.[1]

Die beiden Ausdrücke werden mit der Standardformel von Buch IV und V eingeführt: dass sie „mannigfaltig ausgesagt werden“, also mit vielen Bedeutungen, flexibel eingesetzt. Diese Flexibilität ist ein Kennzeichen des aristotelischen Denkens. Es gibt nicht nur A – und alle anderen, z. B. B oder M oder X gibt es nicht. Sondern es gibt A auf seine Weise, sozusagen A-artig, B gibt es wiederum anders ... Nicht nur dass B etwas anderes ist, sondern auch seine formale Existenzweise ist eine andere: z. B. eine schwächere oder stärkere, eine selbständige oder abhängige, eine nur abstrakte oder so.

Das „wonach“ und das „an sich“ nehmen überhaupt irgendwie schwache Positionen ein, nur „formale“ – vergleichbar dem „als“ aus der berühmten Formel „das Seiende als Seiendes“. Stehen sie dem „etwas“ oder dem „nichts“ näher? Valerie Deifel erwähnt die Seinsart des „Virtuellen“. Bernd Schmeikal zitiert den Satz des Parmenides (Fragment 8), wonach alles real ist, wovon eine Aussage gemacht wird, alles Kognitive. Ein radikal konstruktivistischer Satz, da er der Aussage eine unbeschränkte Realitätsschöpfung zugesteht? Die beiden Ausdrücke unseres Abschnittes scheinen nicht echte Realitäten zu bezeichnen sondern nur als Schlüssel zu fungieren, die man braucht, um den Zugang zu Realitätsaspekten zu öffnen.

Folglich „bezeichnen“ sie dann doch irgendwie alle Realitätsaspekte als da sind das Wesen, das Gute, die Form, der Stoff, die Ursache – wie etwa die Seele. Die Seele ist „Ursache“ des Menschen im Sinne von konstituierendem Bestandteil; Aristoteles spricht hier ausdrücklich von „Teil“; was wiederum missverständlich ist, denn sie ist kein Extrateil, der etwa irgendwo im Körper steckt oder gar außerhalb des Körpers herumschwebt. Sie ist die mit dem Körper koextensive, ihn gerade zu diesem Körper qualifizierende Formkraft. Dabei wirkt sie mehrstufig: sie „bildet“ sozusagen plastisch die Körperteile aus, lässt sie wachsen, belebt sie zu den jeweiligen Körperfunktionen, sie treibt einige Körperteile zu den Strebungs- und Wahrnehmungsleistungen an, die sich zu Gefühls- und Erkenntnisprozessen steigern.

Nach der Sitzung höre ich – genau zu diesem Thema - in der Universität einen Vortrag von Dory Scaltsas (Edinburgh): „Mind and Matter in Aristotle's Hylomorphic Soul“.

Er behandelt das Thema anhand von zwei weit auseinander liegenden Beispielen: Haus und Zorn. Dabei folgt er De anima, I, 403a. Schon die Tatsache, dass der Zorn, eine Affektion der menschlichen Seele, parallel zum Haus, einem nach prosaischer Auffassung seelenlosen, leblosen Gebilde, behandelt wird, sollte uns verblüffen. Sie weist darauf hin, dass die für Lebewesen konstitutive Seele bei den Lebewesen genau die ontologische Stelle einnimmt, die bei allen irgendwie substanziellen Entitäten das Wesen, die Wesenheit, die Washeit, die Form ausfüllt.

Sowohl der Zorn wie das Haus werden nach Aristoteles von zwei unterschiedlichen Wissenschaftlern betrachtet und definiert: vom Physiker und vom Dialektiker. Der Physiker definiert den Zorn über körperliche Vorgänge: Sieden und Kreisen des Blutes ums Herz; der Dialektiker bestimmt den Zorn als Streben nach Wiedergutmachung eines Leides. Wieso „Dialektiker“? Das ist wohl eine platonische Redensart, Dialektik als höchste und vollständigste Wissensart. Wenige Zeilen davor hatte übrigens Aristoteles die „dialektische“ Redeweise als unzureichend und leer abgetan.[2] Ich würde die zweite Definition des Zornes als „ethische“ bezeichnen.

Und das Haus? Das wird vom einen durch Steine, Ziegel, Hölzer definiert – wohl vom Physiker. Vom anderen als schützender Ort, der Wind, Regen und Hitze abhält. Diese zweite Definition erfasst den „Begriff“ des Hauses – und als Spezialist für den Begriff gilt der Dialektiker. Aber jetzt wird nicht mehr so einer genannt, sondern meines Erachtens viel plausibler der Kunstfertige, der Architekt. Und Sokrates würde sehr plausibel sogar den Hausbewohner an die erste Stelle setzen.

An dieser Stelle möchte ich nicht ohne Sentimentalität anführen, dass meine Aristoteles-Lektüre im Jahre 2000 eingesetzt hat: damals habe ich eine ganze „Physik des Hauses“ sozusagen in den Fußnoten der Metaphysik gefunden und zusammengetragen.

Hier aber im Buch über die Seele stellt Aristoteles das Haus neben die menschliche Seele und deren Affektionen. Und deutet damit das an, was ich im Aufsatz „Morphismus, Energismus, Krypto-Animismus .... Eine postaristotelische Glosse“ ausgeführt habe.[3] Alle Wesen haben eine Wesenheit – das heißt so etwas Ähnliches wie eine Seele.[4]

Wie sieht nun die Haus-Definition des Nicht-Physikers aus? Ist sie etwa möglichst „immateriell“ – wie sie nach der heutigen Mode sein sollte? 

Nein – sie ist genauso „physikalisch“ wie die des Physikers: „Ort, der Wind, Regen und Hitze abhält“. Lauter physikalische Begriffe, einige davon noch „kosmologischer“ (wenn überhaupt möglich) als die „Steine“ und „Hölzer“ der anderen Definition. Auch „abhalten“ ist ein physikalischer Begriff, wie ich hoffentlich weiß. Allerdings wird in dieser Definition auch die Zwecksetzung, die menschenbezogene, immerhin leise angedeutet.

Ich bin jetzt aufs Haus intensiver eingegangen als gestern Dory Scaltsas in seinem Vortrag. Weil der große Komplex aus Bahnhof, Eisenbahn, Straße, Mauer, Haus, Wohnung meine Philosophische Physik motiviert hat – und zwar bereits vor der Aristoteles-Lektüre.[5] Eine solche Lektüre ist ja nicht hauptsächlich dazu da, dass man Aristoteles kennenlernt, sondern dazu, einen Kollegen zu finden, mit dem man, neben dem man, sich für bestimmte Sachen interessiert. Die Kollegialität entspringt aus oder führt hin zu: Sachlichkeit.

Aristoteles nennt die Affekte wie den Zorn logoi enhyloi – in den Stoff eingelassene Begriffe. Scaltsas verbalisiert das zu enmattering – ein Ausdruck, der den Anklang an die christliche Formel von der „Inkarnation“ nicht vermeidet.

Er unterstellt Aristoteles eine „psychosomatische Beschreibung“, womit die traditionelle Bezeichnung „Hylomorphismus“ modernisiert wird. Und er unterstellt ihm „Funktionalismus“, womit der traditionelle Begriff der „Teleologie“ in eine neuere Sprache übersetzt wird.

Literatur:

David Charles: Aristotle on Meaning and Essence (Oxford 2003)
Anna Marmdoro: The Metaphysics of the Incarnation (Oxford 2011)              
Dory Scaltsas: Substances and Universals in Aristotle's
               Metaphysics (Ithaca 1994)


PS.: Erstes Wiener Philosophen-Café  im Café Korb am Samstag, 12. Dezember 2015, um 16 Uhr : „Wer ist Person?“

Nächste Sitzung am 13. Jänner 2016


Walter Seitter  
 
Sitzung vom 9. Dezember 2015



[1] Siehe Walter Seitter: Die Geburt der Philosophie aus einem bestimmten Artikel, in: skug. Journal für Musik 7-9 (2012)
[2] Im Buch IV haben wir gesehen, dass Aristoteles sowohl die Dialektiker wie auch die davon unterschiedenen Platoniker geradezu als Todfeinde des Philosophen stigmatisiert.
[3] Erscheint in I. Albers, A. Franke (Hg.): Nach dem Animismus (Berlin 2015)
[4] Explizit hat Aristoteles einem Artefakt wie der Tragödie gleichsam eine Seele zugesprochen und ihm abverlangt, wie ein Tier wirken zu sollen. Siehe Walter Seitter: Poetik lesen 2 (Berlin 2014): 94ff., 100ff.
[5] Siehe Walter Seitter: Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen (Wien 1997); Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen (Weimar 2002)

Donnerstag, 3. Dezember 2015

In der Metaphysik lesen (1022a 4 – 13)

Vor der Seminar-Sitzung habe ich in der Herrengasse 5 (wo am 14. Oktober meine erste Grillparzer-Lesung stattgefunden hat) in einer vom Außenministerium getragenen Veranstaltung eine kleine Betrachtung über die Nähe zwischen Poesie und Religion angestellt. Den direkten Anlaß bildete das Gedicht „Stirb nicht wie sie“ von Shumisa Al Numani (Oran); eine zusätzliche Inspiration lieferte mir Grillparzers Satz „Religion ist die Poesie der Poesielosen“. Meine These: die heiligen Schriften der Religionen sind Dichtungen und daher können sie auch weitergedichtet werden. Die meisten mir bekannten Religionen verdrängen diese Tatsache – was den Umschlag in Fanatismus erleichtert. Die seinerzeitige griechische Religion indessen hat ihre Herkunft von Homer und Hesiod nicht ganz vergessen.

Meine anschließende These: eben jene einzigartige kulturelle Situation hat das Aufkommen der Philosophie ermöglicht – Philosophie als mit der Religion konkurrierende Orientierungsweise, die von den Wissenschaften herkommt.

Mit diesen Thesen stelle ich mich in die Nähe der deutschen Philhellenen Martin Heidegger und Friedrich Kittler – ohne ihnen gänzlich folgen zu müssen. Aber die aktuelle weltpolitische Lage, in der die sogenannten abrahamischen Religionen Problemlieferanten sind, erfordert auch Denkschritte, die über eine derzeit modische – und nicht angstfreie – Religionsbegeisterung hinausführen.

Und daher Aristoteles lesen. Wir sprechen darüber, dass wir uns mit dem Aristoteles-Lesen eher ins Abseits bewegen. Seit dem 19. Jahrhundert wird er nur „ausnahmsweise“ ernstgenommen. Zwar haben Hegel und Heidegger ihn ernsthaft studiert, kamen aber schließlich zum Ergebnis, ihn vollends „überwunden“ zu haben: der eine mit seiner irrationalistischen „Dialektik“, der andere mit seiner esoterischen Lehre vom „Seyn“. Andererseits hat auch die technologische Grundeinstellung der modernen Naturwissenschaft die aristotelische nämlich deskriptive Wissenschaftsauffassung marginalisiert (obwohl diese ebenfalls stark naturwissenschaftlich ausgerichtet ist).  

Bernd Schmeikal schreibt heute mit einer gewissen Scharfsichtigkeit zum Buch V: „Es scheint sich um einen Versuch zu handeln, die Dinge des Lebens mitsamt unseren Handlungen, ihre Grenzen, Vollkommenheit, Tüchtigkeit, Ziele‚ Ordnung, Haltung und Disposition – um den ganzen Ball von Begriffen herzurollen bzw. aufzulisten – mit einer Topologie zu versehen, systemisch, im Sinne von Teilsein und Teilhabe, Form und Wesen zu verstehen. Die Konstruktion läßt sich im Sinne des damaligen Denkens verstehen, ist aber falsch. Das ganze teleologische Gebilde mit seiner quasi topologischen Begrenzung, seinen extremalen Zonen, - die Ziele als Äußerstes, - seinen wesenhaften Erscheinungsformen ist (schlicht und ergreifend) in einem etwas weiteren Sinne: unsinnig.“

Doch mit Aristoteles verzichtet man darauf, parmenideisch zu sagen: was nicht vollkommen ist, ist nicht existierend – oder zumindest nicht der Rede wert. Man verzichtet darauf, die gewöhnlichen Wissen für unphilosophisch zu halten. Etwa solche wie, dass ein Blatt Papier der Gattung der Quader angehört, oder dass der Superlativ „schlechtest“ vom Positiv „schlecht“ herstammt.

Daher, so meine These, finden sich heutzutage ernsthafte Aristoteles-Rezeptionen gerade bei „analytischen“ Philosophen. Als Beispiel dafür wird von Gianluigi Segalerba (den ich übrigens im Protokoll vom 25. Februar 2015 zitiert habe) genannt: Lowe, E. J.: The Four-Category Ontology: A Metaphysical Foundation for Natural Science (Oxford 2006)

Das Beispiel mit dem Quader wurde eingeführt, als wir uns fragten, ob es einen gemeinsamen Ausgangspunkt für die platonische und die aristotelische Ontologie gebe. Dieser dürfte in der sokratischen, in der penetranten sokratischen „Was ist?“ Frage sowie in der ebenfalls sokratischen Antwort darauf liegen – etwa: Der Mensch ist ein Lebewesen (Gattung) mit solcher oder solcher Artbestimmung. Solche Wesensbestimmungen sind dann von Platon zur sogenannten „Ideenlehre“ ausgearbeitet – soll man sagen gesteigert ? – worden. Aristoteles hingegen hat die schlichte sokratische Frage-und-Antwort zu einer schlichten „Ontologie“ ausgebreitet.

Gianluigi Segalerba vertritt dazu die These, Platon, der athenische Aristokrat, habe aufgrund der Erfahrung des Peloponnesischen Krieges, des Niedergangs von Athen sowie der Hinrichtung des Sokrates in einer Art von politischer Panik gelebt und sich verpflichtet gefühlt, Athen doch noch zu retten. Seine anthropologische Reaktion bestand in der Lehre, der Mensch sei aus drei Lebewesen zusammengesetzt: einem vielgestal†igen Ungeheuer oder Monster, einem siegessüchtigen Löwen und einem verständigen Menschen (welcher auch die äußere Gestalt liefert). Je nach dem, welches der drei Lebewesen die Oberhand gewinnt, falle das Verhalten der Menschen und dementsprechend der politische Zustand aus.[1] Und deswegen habe Platon seinem Realitätsverständnis eine quasireligiöse Verbindlichkeit aufgeladen, die er mit Gleichnissen und Mythen instrumentiert hat (womit wieder das Verhältnis von Poesie und Religion aufgeworfen wird). Es handle sich bei Platon und bei Aristoteles um zwei unterschiedliche Erkenntnisinteressen oder Erkenntnispolitiken – die man einander nicht ohne weiteres als „wahr“ oder „falsch“ entgegensetzen könne.

Die Lektüre des 17. Abschnitts über peras (Grenze, Ende, Äußerstes) ist schwierig, denn das Wort hat viele Bedeutungen (nicht aber: Grenzlinie). Es steht auch für den Allgemeinbegriff, der Ende und Anfang bedeutet – womit die Brücke zum ersten Stichwort dieses „Wörterbuchs“ geschlagen ist. Begrenztheit, Bestimmtheit. Gegenbegriff zu apeiron – unendlich, grenzenlos, unbestimmt. Aristoteles hegt diesem Begriff gegenüber große Vorbehalte: aktual, substanziell gibt es das Unendliche nicht, eher nur potenziell. Insofern ist peras trotz einer gewissen Vieldeutigkeit ein Leitbegriff für Aristoteles – und eben deswegen vieldeutig, besser vielortig, weil der Begriff „überall“ gebraucht wird, um das Drohen der Unendlichkeit, der totalen Offenheit aufzuhalten. Mir kommt jetzt die momentane Situation Europas in den Sinn ... Für die Griechen war das Meer, insonderheit der allerdings sehr ferne Ozean, eine mögliche und gefürchtete Realisierung des Unendlichen. Und jede Küste, ja jeder Felsenriff, ein Anhaltspunkt dagegen ... Ein umgangssprachliches Synonym für peras ist terma – das uns im lateinischen terminus sozusagen näher ist.

Nach der Seminarsitzung hat Ivo Gurschler am IFK den Vortrag „Religiosität und Subjektbildung – Figurationen in Literatur und Kultur der Gegenwart“ von Nadjib Sadikou gehört. Darin ging es um Literatur (Roman, Poesie) als Medium der Subjektivierung, Transformierung, Pluralisierung von Religion, das gegen den Fanatismus wirken könne. Phänomene, die an die eingangs erörterte These denken lassen.

Walter Seitter  
 
Sitzung vom 26. November 2015



[1] Siehe Platon: Politeia, IX, 588c ff.