Vor der
Seminar-Sitzung habe ich in der Herrengasse 5 (wo am 14. Oktober meine erste
Grillparzer-Lesung stattgefunden hat) in einer vom Außenministerium getragenen
Veranstaltung eine kleine Betrachtung über die Nähe zwischen Poesie und
Religion angestellt. Den direkten Anlaß bildete das Gedicht „Stirb nicht wie
sie“ von Shumisa Al Numani (Oran); eine zusätzliche Inspiration lieferte mir
Grillparzers Satz „Religion ist die Poesie der Poesielosen“. Meine These: die
heiligen Schriften der Religionen sind Dichtungen und daher können sie auch
weitergedichtet werden. Die meisten mir bekannten Religionen verdrängen diese
Tatsache – was den Umschlag in Fanatismus erleichtert. Die seinerzeitige
griechische Religion indessen hat ihre Herkunft von Homer und Hesiod nicht ganz
vergessen.
Meine
anschließende These: eben jene einzigartige kulturelle Situation hat das
Aufkommen der Philosophie ermöglicht – Philosophie als mit der Religion
konkurrierende Orientierungsweise, die von den Wissenschaften herkommt.
Mit diesen
Thesen stelle ich mich in die Nähe der deutschen Philhellenen Martin Heidegger
und Friedrich Kittler – ohne ihnen gänzlich folgen zu müssen. Aber die aktuelle
weltpolitische Lage, in der die sogenannten abrahamischen Religionen
Problemlieferanten sind, erfordert auch Denkschritte, die über eine derzeit
modische – und nicht angstfreie – Religionsbegeisterung hinausführen.
Und daher
Aristoteles lesen. Wir sprechen darüber, dass wir uns mit dem Aristoteles-Lesen
eher ins Abseits bewegen. Seit dem 19. Jahrhundert wird er nur „ausnahmsweise“
ernstgenommen. Zwar haben Hegel und Heidegger ihn ernsthaft studiert, kamen
aber schließlich zum Ergebnis, ihn vollends „überwunden“ zu haben: der eine mit
seiner irrationalistischen „Dialektik“, der andere mit seiner esoterischen
Lehre vom „Seyn“. Andererseits hat auch die technologische Grundeinstellung der
modernen Naturwissenschaft die aristotelische nämlich deskriptive
Wissenschaftsauffassung marginalisiert (obwohl diese ebenfalls stark
naturwissenschaftlich ausgerichtet ist).
Bernd
Schmeikal schreibt heute mit einer gewissen Scharfsichtigkeit zum Buch V: „Es
scheint sich um einen Versuch zu handeln, die Dinge des Lebens mitsamt unseren
Handlungen, ihre Grenzen, Vollkommenheit, Tüchtigkeit, Ziele‚ Ordnung, Haltung
und Disposition – um den ganzen Ball von Begriffen herzurollen bzw. aufzulisten
– mit einer Topologie zu versehen, systemisch, im Sinne von Teilsein und Teilhabe,
Form und Wesen zu verstehen. Die Konstruktion läßt sich im Sinne des damaligen
Denkens verstehen, ist aber falsch. Das ganze teleologische Gebilde mit seiner
quasi topologischen Begrenzung, seinen extremalen Zonen, - die Ziele als
Äußerstes, - seinen wesenhaften Erscheinungsformen ist (schlicht und
ergreifend) in einem etwas weiteren Sinne: unsinnig.“
Doch mit
Aristoteles verzichtet man darauf, parmenideisch zu sagen: was nicht vollkommen
ist, ist nicht existierend – oder zumindest nicht der Rede wert. Man verzichtet
darauf, die gewöhnlichen Wissen für unphilosophisch zu halten. Etwa solche wie,
dass ein Blatt Papier der Gattung der Quader angehört, oder dass der Superlativ
„schlechtest“ vom Positiv „schlecht“ herstammt.
Daher, so
meine These, finden sich heutzutage ernsthafte Aristoteles-Rezeptionen gerade
bei „analytischen“ Philosophen. Als Beispiel dafür wird von Gianluigi Segalerba
(den ich übrigens im Protokoll vom 25. Februar 2015 zitiert habe)
genannt: Lowe, E. J.: The Four-Category Ontology: A Metaphysical Foundation
for Natural Science (Oxford 2006)
Das Beispiel
mit dem Quader wurde eingeführt, als wir uns fragten, ob es einen gemeinsamen
Ausgangspunkt für die platonische und die aristotelische Ontologie gebe. Dieser
dürfte in der sokratischen, in der penetranten sokratischen „Was ist?“ Frage
sowie in der ebenfalls sokratischen Antwort darauf liegen – etwa: Der Mensch
ist ein Lebewesen (Gattung) mit solcher oder solcher Artbestimmung. Solche
Wesensbestimmungen sind dann von Platon zur sogenannten „Ideenlehre“
ausgearbeitet – soll man sagen gesteigert ? – worden. Aristoteles hingegen hat
die schlichte sokratische Frage-und-Antwort zu einer schlichten „Ontologie“
ausgebreitet.
Gianluigi
Segalerba vertritt dazu die These, Platon, der athenische Aristokrat, habe
aufgrund der Erfahrung des Peloponnesischen Krieges, des Niedergangs von Athen
sowie der Hinrichtung des Sokrates in einer Art von politischer Panik gelebt
und sich verpflichtet gefühlt, Athen doch noch zu retten. Seine anthropologische
Reaktion bestand in der Lehre, der Mensch sei aus drei Lebewesen
zusammengesetzt: einem vielgestal†igen Ungeheuer oder Monster, einem
siegessüchtigen Löwen und einem verständigen Menschen (welcher auch die äußere
Gestalt liefert). Je nach dem, welches der drei Lebewesen die Oberhand gewinnt,
falle das Verhalten der Menschen und dementsprechend der politische Zustand
aus.[1] Und
deswegen habe Platon seinem Realitätsverständnis eine quasireligiöse
Verbindlichkeit aufgeladen, die er mit Gleichnissen und Mythen instrumentiert
hat (womit wieder das Verhältnis von Poesie und Religion aufgeworfen wird). Es
handle sich bei Platon und bei Aristoteles um zwei unterschiedliche
Erkenntnisinteressen oder Erkenntnispolitiken – die man einander nicht ohne
weiteres als „wahr“ oder „falsch“ entgegensetzen könne.
Die Lektüre
des 17. Abschnitts über peras (Grenze, Ende, Äußerstes) ist
schwierig, denn das Wort hat viele Bedeutungen (nicht aber: Grenzlinie). Es
steht auch für den Allgemeinbegriff, der Ende und Anfang bedeutet – womit die
Brücke zum ersten Stichwort dieses „Wörterbuchs“ geschlagen ist. Begrenztheit,
Bestimmtheit. Gegenbegriff zu apeiron – unendlich, grenzenlos,
unbestimmt. Aristoteles hegt diesem Begriff gegenüber große Vorbehalte: aktual,
substanziell gibt es das Unendliche nicht, eher nur potenziell. Insofern ist peras
trotz einer gewissen Vieldeutigkeit ein Leitbegriff für Aristoteles – und eben
deswegen vieldeutig, besser vielortig, weil der Begriff „überall“ gebraucht
wird, um das Drohen der Unendlichkeit, der totalen Offenheit aufzuhalten. Mir
kommt jetzt die momentane Situation Europas in den Sinn ... Für die Griechen
war das Meer, insonderheit der allerdings sehr ferne Ozean, eine mögliche und
gefürchtete Realisierung des Unendlichen. Und jede Küste, ja jeder Felsenriff,
ein Anhaltspunkt dagegen ... Ein umgangssprachliches Synonym für peras ist
terma – das uns im lateinischen terminus sozusagen näher
ist.
Nach der
Seminarsitzung hat Ivo Gurschler am IFK den Vortrag „Religiosität und
Subjektbildung – Figurationen in Literatur und Kultur der Gegenwart“ von Nadjib
Sadikou gehört. Darin ging es um Literatur (Roman, Poesie) als Medium der
Subjektivierung, Transformierung, Pluralisierung von Religion, das gegen den
Fanatismus wirken könne. Phänomene, die an die eingangs erörterte These denken
lassen.
Walter Seitter
Sitzung vom 26. November 2015
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