Vollständig
ist, wem keiner seiner Teile fehlt. Beispiel „Zeit“: wir unterscheiden
zweierlei Dreiteilung (es mag noch mehr Zeitteile geben): die drei Zeitstufen
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und die drei Zeitrelationen früher,
gleichzeitig, später.[1] Die
griechische Sprache umfasst darüber hinaus mehrere Zeit-„Begriffe“: chronos,
nyn, kairos, aion. In dieser Reihenfolge stehen sie für mehr und mehr Gegenwart
bzw. Gleichzeitigkeit. Bernd Schmeikal, der aus Platons Parmenides liest,
plädiert dafür, die Zeitvielheit in der Gegenwart-Gleichzeitigkeit aufzuheben.
An die übliche Redensart, dass die Zeit „vergeht“, lässt sich vielleicht die
einsichtigere Feststellung anschließen, dass die Zeit ständig weiter entsteht:
wir stehen, wir wirken und leiden an der vordersten Front des Zeitwachstums –
persönlich und kosmisch. Die vollständige Zeit enthält nicht nur alle ihre
Teile: je vollkommener sie ist, umso mehr wachsen die Teile zusammen zu kairos,
der in aion übergeht.
Vollkommenheit
ist mehr als Vollständigkeit: nämlich ein Superlativ in einer erwünschten
Qualität (oder aber in einer unerwünschten (die es aber kaum gäbe, wäre sie
nicht doch von jemandem erwünscht)). Beispiel: der vollkommene Dieb. Ein
konkretes Beispiel für einen in gewisser Hinsicht nachträglich doch erwünschten
Dieb bin ich selber, da ich im Winter 1969-70 in der Pariser Bibliothek
Sainte-Geneviève die französische Ausgabe von Heideggers Humanismus-Brief
(Paris 1957) hätte einstecken und mitnehmen können, nachdem ich dort eine
handschriftliche Widmung Martin Heideggers an den General de Gaulle gesehen
hatte: „An den General de Gaulle zur Erinnerung an unsere Spaziergänge im
Schwarzwald – Martin Heidegger“. Ich war und bin eben kein guter Dieb –
einerseits Gott sei Dank, andererseits leider.[2]
Die
Überlagerung zwischen dem gewünschten „Ziel“ und dem neutralen „Ende“ scheint
Aristoteles auch am – menschlichen – Tod zu exemplifizieren, wobei er
allerdings das drastische Wort für den Tod vermeidet und ein Substantiv
einsetzt, das „Ende“ bedeutet und aus derselben Wortwurzel kommt wie das Wort
für „Ziel“. So vermeidet er doch das berühmte heideggersche „Sein zum Tod“ und
begnügt sich mit einer fast tautologischen Formulierung.
Mit dem
Vollkommenen bezieht Aristoteles das platonische und hoffentlich nicht nur
platonische Gute in die „gesuchte Wissenschaft“ ein – gleichzeitig formalisiert
er es derart, dass es geradezu diabolisch auch ins Gegenteil gewendet
wird: wenn etwas “vollkommen“ zugrundegeht oder „vollkommen“ zerstört wird,
dann erreichen die Zerstörung und das Böse ihre Extreme: „zwei letzte Dinge“
(1021b 30).[3]
PS.: : Erstes
Wiener Philosophen-Café im Café Korb am Samstag, 28. November 2015, um 16
Uhr: „Was ist Zeit?“
Walter Seitter
Sitzung vom 26. November 2015
[1]
Siehe
Walter Seitter: Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen (Weimar
2002): 393ff.
[2]
Dafür bin
ich ein Augenzeuge für diese handschriftliche Widmung und gewissermaßen für das
Zusammentreffen Heidegger – de Gaulle. Höchstwahrscheinlich der einzige
Augenzeuge für dieses Ereignis – ein politisches Gegenstück zur Nachkriegsphilosophie, nicht nur zur französischen.
[3]
Das von
Aristoteles hier eingesetzte „Letzte“ stieß mir gleich nach der Seminar-Sitzung
in der Präsentierung des Romans Der letzte Grieche von Aris Fioretos zu.
Seine Widmung in meinem Exemplar des Buches lautet: „Dem Walter Seitter von den
letzten Dingen in seinem Leben ....“. Ich verabschiedete mich mit der
Erklärung, aus meinen letzten Dingen Gutes zu machen und ihm davon berichten zu
wollen.
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