Wenn diesem
Seminar eine geometrische Form zugesprochen werden kann, dann die des
unregelmäßigen Polygons. Philosophen-Polygon mit so vielen Ecken, wie jeweils
Philosophen anwesend sind: die da sitzenden und außerdem Aristoteles, das
gemeinsame Bezugsobjekt.
Unregelmäßiges
Polygon, sofern Aristoteles ohnehin in einem besonderen Aggregatszustand
auftritt, aber auch die Positionen, Zugangsweisen, Erlebnisse der anderen
Teilnehmer sind sehr unterschiedlich. Wir versuchen sie im Gespräch
offenzulegen und anzunähern. Eine besonders andere Teilnehmerin war letzte
Woche die kleine Ida: sehr wohl Teilnehmerin; sie hat zwar wohl nicht
Aristoteles gelesen dafür etwas Wichtigeres, ja Sachlicheres getan: nämlich
ihrer Mutter einen Teil weggenommen. Variables Polygon: die personelle Zusammensetzung
unterliegt leichten Variationen, einmal kommt der dazu, ein ander Mal fehlt
die. Zufällige Variationen: auf Griechisch tychisch=tückisch. Jedes Polygon ist
in Dreiecke zerlegbar, in unserem Fall handelt es sich um tychanalytische
Dreiecke. Tychanalyse nenne ich die Tatsache, daß zwei Subjekte ein Objekt
erleben und davon dann unterschiedliche Berichte abgeben und sich darüber
austauschen.[1]
Also ist das Polygon unregelmäßig, variabel und tychanalytisch.
Vollkommen,
vollendet, vollständig – diese Adjektive bezeichnen die Eigenschaft, um die es
im Abschnitt 16 geht. Erste Bedeutung: vollständig ist, wem keiner seiner Teile
fehlt. Als möglicher Träger dieser Eigenschaft wird „die Zeit eines
jeden“ genannt, womit vorausgesetzt erscheint, dass die Zeit ein Akzidens
ist, das jedem zukommt (ohne nähere Angabe) – und nicht etwa ein „Absolutes“
(wie man Newton unterstellt); tatsächlich führt Aristoteles die Zeit unter dem
Titel „wann“ als eines der neun Akzidenzien an; was aber mit den Teilen der
Zeit gemeint ist, das sei hier dahingestellt. Zweite Bedeutung: vollkommen ist,
was hinsichtlich der Gutheit oder einer sonstigen Tüchtigkeit einen Superlativ
darstellt: bester Arzt oder bester Flötenspieler; hier geht es also um
Qualitäten – und zwar in einem messbaren, jedenfalls vergleichbaren Grad.
Damit ist ein
wichtiges Kulturelement des antiken Griechenland genannt: der Kampf um den
ersten Platz. Wie komplex jene Kultur strukturiert war, erhellt daraus, dass
eine gewissermaßen entgegengesetzte Verhaltensnorm ebenso wichtig war: die
Freundschaft, die auf Ähnlichkeit und Parität (ohne jede Messung) beruht.
Die
Freundschaft wird von Aristoteles einerseits als Grundmotiv für die Politik,
andererseits als variable Form der innerfamiliären Beziehungen (im Unterschied
zum modernen Liebeszwang – mit dem Umschlag in Angst und Haß) namhaft gemacht.
Die wichtigste
Aktionsform der Freundschaft ist wohl der Dialog - folglich auch die basale
Verhaltensform der Politik, die „vor“ dem Einsatz kriegerischer Mittel bzw.
polizeilich-justizieller Verfahrensweisen zu versuchen ist und spätestens
danach wiederum. Sogar die knappen und sehr feindseligen Kriegserklärungen vom
13. November 2015 waren Reste von Dialog, höchst unzureichende bzw.
kontraproduktive ...
PS.: : Erstes
Wiener Philosophen-Café im Café Korb am Samstag, 28. November 2015, um 16
Uhr : „Was ist Zeit?“
Walter Seitter
Sitzung vom 18. November 2015
[1]
Siehe
Walter Seitter: Die Erfindung der Tychanalyse. In: R. Bauer, A. L. Hofbauer, B.
Ternes (Hg.): Einfache Lösungen. Beiträge zur beginnenden Unvorstellbarkeit
von Problemen der Gesellschaft. Aufsätze (Marburg 2000): 56ff;
Multiple Existenzen: El Greco, Kaiserin Elisabeth, Pierre Klossowski (Wien
2003): 7ff.
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