τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 11. März 2020

Exkurs: Zur Wesensbestimmung „verstümmelt“


Die in der letzten Stunde gestellte Rätselaufgabe findet ihre Lösung im Abschnitt 27 des Buches V, der mit „verstümmelt“ überschrieben ist.

Die bloße Tatsache, dass in dem Begriffslexikon, das offensichtlich zu dem Metaphysik genannten Buch gehört und in dem 30 Begriffe versammelt und analysiert werden, auch ein solches Wort figuriert, sollte einen stutzig machen und mehr als das. Es sollte die Frage aufwerfen, ob die aristotelische Unternehmung, die im 4. Jahrhundert vor Christus gestartet worden ist, dann erst im 1. Jahrhundert in die heutige Textform gebracht worden ist und dann 2000 Jahre lang  vielfältig übersetzt, verwendet, bewundert, verworfen, vergessen, wiederentdeckt, so und so verstanden oder missverstanden worden ist, ob sie nicht durch ein solches Detail wie das Wort „verstümmelt“ an so einer prominenten Stelle in ihrem Sinn, das heißt in ihrer Stoßrichtung, eine Wendung bekommt, die bislang vollkommen ignroriert worden ist.

In meinem Buch Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik 1-VI) (Freiburg-München 2018) resümiere ich auf den Seiten 210ff. den Abschnitt 27 so, dass ich zum Wort „verstümmelt“ zunächst einmal eine winzige Geschichte erfinde. Nämlich: es war einmal eine physis, ein wachsendes, gedeihendes, blühendes, ein wohlgeratenes natürliches Wesen – und dann stieß ihm ein Unfall zu, es geriet in einen Überfall, es wurde ihm ein Stück weggenommen, abgebrochen, weggerissen. Nach diesem Unfall war es dann irgendwie „nachnatürlich“, „postnatural“ – „metaphysisch“.
In dieser Kurzgeschichte hat das Wort „metaphysisch“ eine ganz wörtliche, eine gewissrmaßen physische, eine banale und gleichzeitig schmerzhafte Bedeutung. Das betroffene Ding ist verändert, beschädigt, mit Sicherheit beraubt worden. Aristoteles ordnet das Verstümmelte logisch dem Beraubten unter, womit es in der Rangordnung der Logik ziemlich weit nach unten rutscht, in der Rangordnung der Lebensqualitäten sowieso. Es wird damit endgültig klargestellt, dass die Beraubung als Begriff ernst gemeint ist und nicht etwa mit logischer Negation gleichgesetzt werden kann. Im Abschnitt 4 von Buch X schreibt Aristoeles, dass er das Wort Beraubung in einem gesteigerten Sinn verwendet: entweder als radikales Nicht-Haben-Können (das schwer vorstellbar ist) oder als Nicht-Haben von etwas, was von Natur aus gehabt werden sollte.

Im Buch V unternimmt Aristotetels eine andere Verallgemeinerung – und zwar von Verstümmelt. Er durchquert in Windeseile – d. h. in wenigen Zeilen – den gesamten Kosmos und fragt, welche Dinge überhaupt verstümmelt werden können und welche nicht. Dabei lässt er alle möglichen Dinge Revue passieren: Zahlen, Wasser, Feuer, Harmonien können nicht verstümmelt werden – und zwar aus Gründen, die jeweils angegeben werden.

Zwei Entitäten, die verstümmelt werden können, sind laut Aristoteles: Trinkgefäße, Menschen. Und bei beiden unterscheidet sich die Verstümmelung von der Zerstörung. Wird ein Trinkgefäß durchbohrt, sodaß es keine Flüssigkeit mehr aufnehmen kann, dann verliert es die Funktion, durch die es sich definiert, also sein Wesen: es wird zerstört. (So etwas berichtet das Nibelungenlied vom hunnischen Königshof Gran (100 km östlich von Wien)). Wird jedoch dem Becher nur ein „Ohr“, also ein Henkel, abgeschlagen, dann ist er verstümmelt. Analog können Menschen derart beraubt oder beschädigt werden, dass sie entweder verstümmelt sind oder zerstört (also tot). Entweder verliert so ein Mensch nur einen Teil und kann weiterleben oder er verliert einen lebensnotwendigen Teil und folglich sein Wesen. 

Dieser Wesensbegriff liefert das Kriterium für die Unterscheidung zwischen Verstümmelung und Zerstörung und er kann schwerlich für überholt, überflüssig, unbrauchbar gehalten werden. Im Falle des Menschen geht es um Leben oder Tod; im Falle eines Gerätes wie des Computers vielleicht nur um Reparierbarkeit oder Entsorgung – mit dieser wäre der „Tod“ eines Gerätes auf jeden Fall sichergestellt.

Wesen als Funktion entspricht dem, was Aristoteles Wesen als Formursache genannt hat.

Es ist das Wesen, das (Akkusativ) etwas (Nominativ) „hat“. Das gehabte Wesen. Davor liegt gewissermaßen das Wesen, das etwas oder jemand „ist“. Wenn ich von einer Frau sage, sie ist ein Wesen, wenn ich von Wien sage, es ist ein Wesen, wenn ich von der Wien sage, sie ist ein Wesen, dann spreche ich denen ein selbständiges Existieren zu und gewissermaßen eine Würde – wie Peter Pramhas in einer dankenswerten Inspiration bemerkt. Dieser Aspekt des Wesens, das Wesen, das man ist, nennt Aristoteles in der Kategorienschrift „Erstes Wesen“. Später hat er diese Terminologie aufgegeben.
Und ein solches Wesen hat immer ein „Zweites Wesen“, eine Was-Bestimmung, mit der dieses Wesen in eine Reihe von Wesensgleichen eintritt. Eine Frau hat das Wesen „Mensch“, Wien hat das Wesen „Stadt“, die Wien hat das Wesen „Fluß“. Dieses Zweite Wesen ist uns im Fall des Bechers als Funktion erschienen. Man kann es auch „Spezies“ nennen.

Das Wesen einer Sache.
Ein Ding als Wesen.




Man ist ein Wesen, man hat ein Wesen. Wunderbarerweise ist diese Doppelaspektivität des Wesensbegriffs eine Gemeinsamkeit zwischen der griechischen und der deutschen Sprache, sodaß man sich Übersetzungsstreitigkeiten sparen kann. (Siehe loc. cit.: 214f.)

Wir können sagen, dass der Begriff „Wesen“ mit seinen zwei Aspekten zwischen Würde und Funktion oszilliert. Gleichzeitig ist er ein sehr allgemeiner Begriff – deswegen aber nicht ein  unbestimmter, schwammiger, überflüssiger Begriff. Er ist kein schwacher Begriff - wie etwa das aristotelische „Seiende“, das ich eher als ein Grundwort bezeichnen würde. „Wesen“ ist eine der vielen Modalitäten, die mit „seiend“ gemeint sind. „Verstümmelt“ ist einer der unendlich vielen akzidenziellen, also nicht wesenhaften Bestimmungen, die natürlich ebenfalls „seiend“ sind.

Ich gehöre vielleicht zu den wenigen Aristoteles-Lesern, denen der Abschnitt 27 in Buch V mit dem Stichwort „verstümmelt“ so aufgefallen ist, wie es sich gehört. Ungefähr um die gleiche Zeit gehörte ich vielleicht zu den noch wenigeren Menschen, denen eine 1999 aufgestellte Aristoteles-Skulptur am Rande des Aristoteles-Platzes in Thessaaloniki aufgefallen ist, sodaß ich sie dann in meinem Buch ausführlich gewürdigt habe (loc. cit.: 219ff.). Bei den dortigen Intellektuellen war sie entweder unbekannt oder sie stand in schlechtem Ansehen. Ihre Besonderheit hat eine enge Beziehung zum Thema der Verstümmelung und in meinen Augen steigert sie die Bedeutung dieses Themas, sodaß ich sagen würde, der genannte Abschnitt 27 erweist sich als ein – geheimes – Epizentrum des aristotelischen Unternehmens.

Jedenfalls für solche, die Augen haben zum Sehen und ein Gedächtnis zum Nicht-Vergessen.

Und dann noch eine weiterführende theoretische Bemerkung zur Beraubung. In diesen Tagen ist das zweite große Buch von Thomas Piketty auf Deutsch erschienen: Das Kapital und die Ideologie (München 2020). Piketty mobilisiert ein großes Begriffsinstrumentarium – so auch den von Georges Dumézil geprägten Begriff der Trifunktionalität. Und er spricht von der Eigentumsform des Privateigentums, welche sich ungefähr mit der Französischen Revolution durchgesetzt habe. Er spricht aber so davon, dass klar wird, warum man „Privateigentum“ sagt: weil es sich im Unterschied zu älteren Eigentumsformen um „funktionsloses Eigentum“ handelt. Also um „beraubtes“. Denn das heißt „privat“. (Siehe die Sitzung vom 26. Februar)

Walter Seitter

PS. Wir machen lange Osterferien. Nächste Sitzung am 15. April 2020.

Mittwoch, 4. März 2020

In der Metaphysik lesen (1055b 9 – 1055 29)

Innerhalb der vier Gegenüberstellungen, die in 1055b 1 genannt werden, unterscheidet sich die Privation von den drei anderen dadurch, dass ihr Begriff aus der Lebenswelt genommen ist, in der nicht nur neutral beschrieben und unterschieden wird, sondern gewertet, bedauert, auch „diskriminiert“ wird. Privation bedeutet nicht einfach ein Nicht-Haben – sondern ein „vollkommenes“, ein gesteigertes, ein qualifiziertes Nicht-Haben. Deswegen setzt Aristoteles dafür ein Wort ein, das Wegnahme, Beraubung meint. Karl Bruckschwaiger erinnert an die Qualitätskontrolle, die bei Serienprodukten feststellt, ob sie den ökonomischen Anforderungen genügen. Wenn sie das nicht tun, werden sie ausgeschieden. 

Aristoteles umschreibt die Steigerung des Nicht-Habens mit zwei Stufen: etwas ist überhaupt nicht fähig, etwas zu haben, oder etwas hat nicht, was es von Natur aus haben sollte. Damit werden nicht konkrete Beispiele geliefert – es werden nur „formale“ Kriterien angegeben, welche das Nicht-Haben in Richtung Mangel, Fehler steigern. Konkrete Beispiele finden sich uner dem Stichwort „Privation“ im Abschnitt 22 von Buch V (Begriffslexikon). 

Im Buch V findet sich unter einem anderen Stichwort aber auch ein Abschnitt, in dem die Privation höchst anschaulich und gleichzeitig unter Einbeziehung des ontologischen Hauptbegriffs „Wesen“ erklärt wird. Diesen Abschnitt aufzufinden ist hiermit als Aufgabe für die nächste Stunde am 11. März gestellt. Da wir diesen Abschnitt am 30. März 2016 hier schon gelesen haben, kann man ihn auch in meinem Buch Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I-VI) finden. 

Wenn Blindheit bei Menschen als Privation eingeschätzt wird, das heißt als Mangel, dann entspricht dies der ontologischen Ordnung, die einerseits einen „physischen“ Sachverhalt, andererseits eine „logische“ Redeweise verknüpft. Allerdings mag es die Höflichkeit verbieten, dem Blinden zu sagen: „Du bist ein Mangelwesen!“. Hier kommt die ethische, die politische Dimension ins Spiel. 

Im übrigen gab es und gibt es vielleicht immer noch berühmte Blinde, denen die Geschichte nachsagt, dass mit ihrer Blindheit ein bestimmtes Sehertum verbunden war, und dass sie sogar mehr gesehen haben als die Nicht-Blinden. In diesen Fällen wäe die Privation kompensiert und sogar überkompensiert worden. Außerdem ist bekannt, dass auch bei Nicht-Blinden situative oder okkasionelle Blindheiten in einem metaphorischen Sinn, also Täuschungen bzw. Selbsttäuschungen vorkommen. Auch dabei handelt es sich um Beraubungen im aristotelischen Sinn. Was nicht ausschließt, dass derartige Blindheiten von den Betroffenen gar nicht bemerkt sondern im Gegenteil mit einem gewissen Sehertum verwechselt werden. 

Bernd Schmeikal stellt eine Fage, welche das Problem der Täuschung auf die Spitze treibt. Gegen die erkenntnistheoretische Position, die man die „realistische“ nennt, behauptet der Konstruktivismus, dass die Erkenntnisvermögen der Menschen einen ganz bestimmten Zuschnitt haben und folglich nur bestimmte Parameter aufnehmen, während andere Spezies ganz andere Modalitäten, Qualitäten oder Relationen auswählen und in ihre Problemlösungen einbeziehen. Welche von ihnen entspricht nun wirklich „der“ Realität? Gibt es die überhaupt?

Meines Erachtens setzt ein solcher „diverser“ Konstruktivismus voraus, dass jede Spezies, die irgendwie kognitiv operiert und ihr Weiterleben organisiert, ein Teil der Realität ist und einen teilweise anderen Realitätsausschnitt kognitiv erfasst. Sodass sich letzten Endes ein multipler Realismus als ontologische und epistemologische Lösung oder Metaposition anbietet. Vielleicht ist es so, dass die Menschen ihre Erkenntnisse zu wissenschaftlichen Sicherungen und zu metatheoretischen Positionen ausbauen – und mit dem Risiko größerer Illusionen bezahlen. 

Die Einheitlichkeit menschlichen Erkenntnisverhaltens ist allerdings durch kulturelle, historische, individuelle Singularisierungen gebrochen – in diesem Sinne habe ich einmal von „Erkenntnispolitik“ gesprochen. Vom Erkennen gilt, was Aristoteles vom Sein gesagt hat: es ist ein „sich irgendwie zu etwas verhalten“. (Cat. 8a 32) 

In 1055b 29 kommt Aristoteles auf die Gegenteile „des Einen und der Vielen“ zurück. Im Zuge der Auflösung dieser Gegenteile hat er das Spezialproblem der Privation überhaupt erst entdeckt und im Buch XII wird er es ins Innerste der Konstitution des Wesens einführen. Der Mangel als ein Kern des Wesens – ein Aspekt des aristotelischen Essentialismus.  

Walter Seitter