τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Samstag, 27. Mai 2023

In der Metaphysik lesen (1088b 14 – 1089a 15)

24. Mai 2023

 

Zunächst fragt Sophia Panteliadou, ob das quadratische Diagramm, das ich im Protokoll vom 10. Mai gezeichnet habe, zur aristotelischen Theologie von Buch XII, zu deren Verständnis etwas beiträgt.

 

Nur die erste Zeile des Diagramms mit den Termen

 

UB                       DD

bezieht sich direkt darauf.

Sie greift aus der Fülle der begrifflichen Charakterisierungen zwei heraus, schreibt sie auseinander, weil sie jeweils unterschiedliche Aspekte betonen.

 

Eine annähernd vollständige Liste der begrifflichen Bestimmungen habe ich im Protokoll vom 9. März 2022 angeschrieben.

 

Die zweite Zeile bestehend aus

 

Tanner Torso              Lacan Dandy

 

habe ich mehr oder weniger willkürlich dazugeschrieben, um die aristotelische Gottesbestimmung, deren unsichtbarer und unkörperlicher Charakter mir Schwierigkeiten macht, zu „illustrieren“. Ermutigt dazu hat mich Aristoteles selber mit dem Begriff „Lebewesen“, unter den er auch den Gott subsumiert, und überhaupt mit den menschenhaften Bestimmungen, die er dem Gott zuspricht (die aber bei diesem superlativisch ausfallen).

 

Auch die Tatsache, daß jenem Gott von philologischer Seite „Narziss-Qualität“ unterstellt wird, hat mich motiviert und ebenso die Frage, ob er eher als künstlich oder als natürlich  zu denken sei.

 

Sophia Panteliadou denkt spontan an Don Juan als mögliche Illustrationsfigur.

 

Ich nehme zwei weit auseinander liegende Personen, von denen eine nur im Tabu-Bezirk der Adult-Industry bekannt ist, die ungefähr 33 Jahre alte amerikanische Porno-Darstellerin Tanner Mayes.

 

Von ihr nehme ich genau genommen nur ein Foto, das ich beschneide, sodaß ein Torso entsteht, von dem ich behaupte, er würde von ihr gespielt, denn sie ist eine verwandlungsfähige Schauspielerin. Ein Ding - halb Lebewesen, halb Statue.

 

Allerdings zeichnet sich dieses Ding auch durch mehrere überlieferte sprachliche Äußerungen aus – etwa durch eine permanente kalligraphische Inskription mit dem Gebot, sie „just“ zu lieben.

 

Die andere von mir ausgewählte Illustrationsfigur ist der in anderen Kreisen bekannte französische Psychoanalytiker Jacques Lacan, aufgrund seiner Lebensführung von Georg Gröller als „Dandy“ geschildert und eigenen Aussagen zufolge seinem eigenen Begehren hartnäckig treu.

Beide Illustrationen haben mit dem aristotelischen Gott direkt nichts zu tun. Aber man kann sie dazu denken, weil der aristotelische Gott in seiner engeren Umgebung, dazu gehört der aristotelische Text, irgendwie gesprochen, geschrieben worden sein muß.

 

Er ist von einer Menge, von einem Gedränge von Wörtern, auch von Vorläufer-Texten, dann von Nachfolge-Texten, Interpretationen und Diskussionen, Übersetzungen und so weiter umgeben.

 

Von einer Graphik-Masse, zu der auch ich mich nun seit dem Jahr 2011 dazu schreibe – mit der allerbescheidensten Textsorte der Protokolle von unseren Lektüre-Gesprächen.

 

Den Tanner Torso und den Lacan Dandy schiebe ich in die Buchstabenmasse der Protokolle hinein, wie ich ja auch schon im Jahr 2018 die Aristoteles-Skulptur am Rande des Aristoteles-Platzes in Thessaloniki als dreidimensionalen Graphismus ausgewählt habe, auf daß er als Photographie ins Buch aufgenommen werde. Die Graphik als weniger vollständige Darstellungstechnik denn die Plastik.

 

Der aristotelische Gott soll zwar unkörperlich sein – aber ist er damit eher weniger als ein Körper oder mehr als ein Körper?

 

Wie vollständig oder unvollständig auch immer: mit den Protokollen und nun mit diesen Illustrationen betätige ich mich als Graphen: Aristotelo- und Tannerograph und beide zusammen ergeben hier mich als Theographen – und zwar einen sehr distanten.

 

Karl Bruckschwaiger bemerkt, ihm falle das von Aristoteles eingesetzte und sogar reflexiv verdoppelte Wort noesis auf, mit dem jenem „Gott“ eine Aktivität, eine permanente Denkaktivität zugeschrieben wird. Aus der Abkürzung UB wird man auch noch eine weitere Daueraktivität herauslesen dürfen: eine transitive Dauerkinetik. Das ergibt so etwas wie eine Hyperaktivität – oder soll man von Aktivismus sprechen? Perpetuum movens cogitansque.

 

*

Im Buch XIV vergleicht Aristoteles zwei Existenzweisen, die sich in einem wesentlichen Punkt unterscheiden, obwohl die eine fallweise gleich ausschauen kann wie die andere.

 

Die eine wird dadurch definiert, daß das Existierende A auch aufhören könnte zu existieren. Die andere dadurch, daß das Existierende B nicht aufhören kann zu existieren.

 

In der ersten Existenzweise gibt es also ein Können in zwei entgegengesetzte Richtungen, also eine Kontingenz. In der zweiten herrscht diesbezüglich ein Nicht-Können.

 

Man könnte also von A sagen, es könne mehr als B kann.

 

A kann unaufhörlich weiterexistieren, es kann aber auch aufhören weiterzuexistieren.

 

B kann nicht aufhören zu existieren.

 

Kann also B weniger als A?

 

Wenn A unaufhörlich existiert, scheint es genau so zu existieren wie B.

 

Diesem B spricht Aristoteles die Eigenschaft „ewig“ zu. Dem A spricht er diese Eigenschaft ab – auch dann, wenn es unaufhörlich weiter existiert.

 

Wo liegt der Unterschied zwischen „unaufhörlich“ und „ewig“? Der zeitliche Verlauf sieht gleich aus. Beim Unaufhörlichen (A) kommt allerdings die entgegengesetzte Möglichkeit des Aufhörens dazu. Aber wenn diese Möglichkeit nur Möglichkeit bleibt, dann scheint der Sachverhalt derselbe zu sein wie bei B.

 

Die sprachlichen Bezeichnungen hingegen unterscheiden sich so deutlich und sichtbar, daß man sie beachten sollte.

 

Die Beachtung von etwas Sichtbarem zeichnet jeden Wissenschaftler aus – und daher auch den Philosophen. Ein aristotelisches Axiom, denn für Aristoteles ist jeder Philosoph zunächst ein Wissenschaftler, und nur wenn er in irgendeiner Wissenschaft etwas taugt, kann er vielleicht das Glück haben, daß diese Wissenschaft auch zur Philosophie gehört. Wenn er sich der wissenschaftlichen Bewährungsprobe entzieht, weil er sie für unphilosophisch hält, vergibt er die Chance, sich als Philosoph zu betätigen. Auch wenn er noch so sehr meint, ein Philosoph zu sein.

 

Philosophieren ist ein Bündel von Tätigkeiten, auch von kinetischen und noetischen, jetzt aber seien die ästhetischen vorgezogen. Und daher vergleichen wir sehend die beiden Wörter „unaufhörlich“ (1) und „ewig“ (2).

 

Sofort fällt auf, daß 1 ein viel längeres Wort ist, offensichtlich zusammengesetzt aus mehreren unterscheidbaren Teilen – nicht nur aus Buchstaben und Silben – sondern aus Teilen, die semantisch gedeutet werden können:

 

un – Präfix der Negation

 

aufhören – eine bestimmte Tätigkeit, die insgesamt wiederum ein Negieren auf einer Zeitlinie meint

 

lich – Suffix, das eine Möglichkeit bezeichnet

 

2:  zusammengesetzt aus 

 

ew   -     altes Wort für lange Dauer

 

ig  -    Adjektivsuffix ohne semantischen

         Akzent 

 

Der Unterschied zwischen den beiden Wörtern ist vielfältig, gravierend, dramatisch - jedenfalls so stark, daß die Vermutung, daß sie zwei sehr unterschiedliche Eigenschaften bezeichnen, hypothetisch geboten ist.

 

Wir versuchen, von den Wörtern auf die Eigenschaften hinüber zu denken (eine kinetische Noese), speziell auf die Eigenschaft „ewig“. Was kommt da noch dazu, zum Nicht-Aufhören, zur Fortsetzung, zum Weitergehen?

 

Man könnte auch bei diesen Wörtern verweilen und sich fragen, was der Antrieb zur Fortsetzung, zum Weitergehen sein könnte.

Aber dem Ewigen kommen wir vielleicht näher, wenn wir das Wort „immerwährend“ einsetzen:

 

„immer“ sowieso.

 

„während“, „währen“ - ?

 

Wir tippen auf das Adjektiv „wahr“. Dann würde diese Eigenschaft dazu kommen und das Nicht-Aufhören mit einer Affirmation aus dem Gefüge Sein-Erkennen positiv stärken.

 

Die Etymologie neigt allerdings zu einer etwas anderen Antwort. Das Verbum „währen“ sei bloß eine andere Schreibweise für das heute kaum mehr gebräuchliche Verbum „wesen“, das soviel bedeutet wie „sein“ – allerdings aufgeladen mit dem Substantiv „Wesen“, das den deutschsprachigen Aristotelographen sehr wohl bekannt ist.

Mit dieser Zusatzinformation können wir „immerwährend“ deuten als ein nicht aufhörendes „sein“ – kein bloßes, nacktes „sein“, sondern ein „was sein“, ein „bestimmtes sein“, ein „Sache sein“, ein „Wesen-sein“. Was für eine Sache, was für ein Wesen, bleibt unbestimmt, aber irgendein nominativisches Prädikat, welches das „sein“ auffüllt, kommt beim „währen“ dazu, sodaß das Partizip Präsens „immerwährend“ den semantischen Sprung, die Steigerung zum „ewig“ andeuten kann.

 

Das vorausgesetzte Wesen muß dann wohl die Unmöglichkeit des Aufhörens beitragen. Aber nicht als Mangel an einem Können, sondern als eine so starke Kraft, daß sie jedes entgegengesetzte Können von Anfang an überwunden und ausgeschlossen hat.

 

Das Nicht-Aufhören-Können des Ewigen kommt von wo anders – von einem Anfang, der eine bestimmte Qualifizierung aufweist.

 

Diese kleine von Aristoteles angeregte Untersuchung fragt nach dem Unterschied zwischen zwei Unaufhörlichkeiten.

 

Die eine ist die banale auch in der Alltagserfahrung öfter vorkommende: etwas hört nicht auf, obwohl klar ist, es kann oder es soll irgendwann aufhören.

 

Die zweite ist viel rarer, vielleicht sogar so rar, daß man sie kaum jemals erlebt: etwas hört nicht auf, weil es von seinem inneren Wesen her gar nicht aufhören kann.

So meinen wir es von manchen Regelmäßigkeiten der Natur, etwa vom Wechsel der Tageszeiten oder Jahreszeiten. Oder von Gesetzmäßigkeiten der Mathematik.

Die zweite Art der Unaufhörlichkeit nennt Aristoteles die „Ewigkeit“. Und er bindet sie an bestimmte Realitätssorten. Die beiden Arten existieren nicht abstrakt für sich. Sondern es hängt von den Sachen ab, wie aufhörlich oder unaufhörlich oder ewig sie sind.

 

Vielleicht haben wir die Wesen, die tatsächlich ewig sind, noch gar nicht erlebt.

Im weiteren macht sich Aristoteles wieder einmal an die platonische Prinzipienlehre heran, deren Hauptsatz besagt, das Eine und die unbestimmte Zwei bilden die Elemente aller Dinge wie auch ihre Bestandteile.

 

Damit habe sie sich in überaltete Problemstellungen verstrickt, da sie letztlich alle Dinge auf ein Eines zurückführen wollte.

 

Und Aristoteles ruft wieder die vielleicht wichtigste Stoßrichtung seiner philosophischen Tätigkeit in Erinnerung – die man bis heute nicht oft genug betonen kann, da sie nämlich der Denkgewohnheit zuwiderläuft, die man üblicherweise mit „Metaphysik“, mit „klassischer Philosophie“ oder gar mit „Philosophie“ überhaupt assoziiert. Die Aussage nämlich, daß nicht nur auf Ebene der Realitätssorten, also der verschiedenen Dinge und Elemente, die Pluralität einen Grundzug bildet, sondern auch auf der anderen Ebene, die man vielleicht als subtiler bezeichnen könnte, und die darin besteht, daß „das Seiende vielfältig bezeichnet (einmal bezeichnet es das Wesen, ein andermal das Quale, wieder ein andermal das Quantum und die anderen Kategorien“ (1089a 8).

 

„Welch Eines sollen alle die Dinge sein … sollen ihre Wesen Eines sein und ihre Affektionen und das übrige gleichermaßen und alle Dinge? Und soll Eines sein das Das, das qualitativ Solche, das quantitativ Solche und die anderen Solchen, die vom Seienden bezeichnet werden? Es ist doch unsinnig oder vielmehr unmöglich, daß eine einzige Natur dafür Ursache werden soll, daß das Seiende einmal das Das ist, ein andermal ein qualitativ Solches, wieder ein andermal ein quantitativ Solches, ein andermal ein Wo.“ (1089a 9ff.)

 

Man sieht, wenn man Augen hat zu sehen, wie Aristoteles mit der Sprache kämpft, um „einfachste“ Dinge zu sagen.

 

Aristoteles resümiert hier zum xten Mal seine Auffassung von den Seinsmodalitäten – vermutlich weil auch er erfahren hat, daß sie wieder und wieder vergessen oder verkannt worden ist.

 

An dieser Stelle „radikalisiert“ er sie gewissermaßen, aber nur negativ, indem er die gegenteilige Auffassung, das ist die übliche „philosophische“, zu einem Ursach-Monismus umformuliert – dem er glatt widerspricht.

 

Dieser Ursach-Monismus erfinde eine einzige Natur, die Ursache für die diversen Vielheiten sein soll.

 

Und das sagt Aristoteles, der im Buch XII tatsächlich ein Wesen erfunden und beschrieben hat, dem er eine gewisse Gesamtursächlichkeit zugeschrieben hat.

 

Walter Seitter

Dienstag, 23. Mai 2023

In der Metaphysik lesen * Hermann – Lektüre 30 (76rD - 76vD) Seite 208, Z 12 bis Seite 212, Z 2 bei Burnett.

Mittwoch, den 17. Mai 2023

 

 

Obwohl das Tier auch aus der Vereinigung der Elemente geboren, wird zunächst auch das andere Verhalten der Tiere betont, die habitudo, und das ist bei den Tieren vor allem die Ernährung. Daher ergibt sich auch die Reihenfolge der Zusammensetzungen, von Mineral zu Pflanze zum Tier. Denn das Tier benötigt die meiste Nahrung als Brennstoff zur Aufrechterhaltung der richtigen Wärme, retinaculum temperiei bedeutet wörtlich das Band oder Klammer der Mäßigung, daher muss es unter anderem auch die Pflanze aufnehmen, die sich aus den Elementen selbst durch eine Abkochung, decoctione, was ich als Verdauung übersetzt habe, ernährt hat.

Ein rascher Durchlauf von der Ernährung von Pflanzen zur Zeugung durch Samen führt uns durch das Leben der Tiere. Zuerst wird die pflanzliche Nahrung zu Blut gekocht und durch bestimmte Gefäße gereinigt, dann entsteht der Same, der der passiven Natur injiziert wird. Die gesonderte Zeugung ist notwendig, weil das Tier sich von den ersten Materien schon so weit gelöst hat, das es ein eigenes Gesetz der Fortpflanzung erfordert. Der Same wird jetzt festgehalten und durch zusammenströmende Flüssigkeiten ernährt bis er nicht mehr in Position gehalten werden kann und in die äußeren Lüfte ausgegossen wird. Dort wird er zuerst durch dritte oder vierte Abkochungen von den Organen der Mutter zur Stärke der eigenen Handlung befördert. Eine etwas umständliche Beschreibung vom Wachsen und der Geburt eines Embryos bis zum Säugen mit Muttermilch, die von der Abstraktheit seines Entwurfes der Natur und der Gesetze der zweiten Zeugung herrührt. Danach ringen die inneren Materialien miteinander bis der überwindende Teil das Band der Zusammensetzung löst und damit verschwindet zugleich auch die Form, wie ein gedrucktes Bild im schmelzenden Wachs untergeht. Das ist die Habitudine, die allgemeine Verhaltensweise dieser Gattung, obwohl zur Ernährung noch hinzugefügt wird, dass die Tiere mit mehr feuriger Kraft die übrigen Lebewesen als Nahrung verwenden, und dass es Tiere gibt, die nur von der Wärme der Mütter ernährt werden oder von etwas viel Feinerem, hier ist möglicherweise das Ausbrüten von Eiern im Sinne von Hermann gewesen.

Mit der rationalen Gattung verlassen wir die alchemistische Küche der Verdauung und Muttermilch mit ihren Abkochungen, denn diese Gattung ist eine Mischung des Ganzen der Substanz mit einem Anteil der Essenz, somit aus vergänglichen und beständigen Teilen, aus den Naturen des Verschiedenen und Desselben, damit ein Bild der ganzen Welt.

 

Die Zeit der zweiten Zeugung

 

Der Plan der Abhandlung scheint für Hermann noch nicht abgeschlossen, auch wenn die Bewegung alle Habitudines, also Verhaltensformen oder Erscheinungsweisen der Essenzen geordnet hat. Es fehlt die Unterscheidung des doppelten Behälters von Zeit und Ort, woraus die Ordnung und Verteilung der sekundären Zeugung ersichtlich wird.

Daher postuliert Hermann, dass die Welt nie ohne die Bewegung gewesen sein kann und damit Welt und Zeit absolut gleichzeitig sind. Alle Nachkommenschaft der Welt stammt aus der Zeit. Aber es gibt Abschnitte der Zeit, die zwar den himmlischen Bewegungen folgen, vor allem aber der Sonne, die in ihrem abgelenkten Lauf, in den verschiedene Stadien des Lebens hineinpassen, wie Zeugung, Geburt und Reifung. Hermann muss noch Zeit und Ort für die astrologische Prognose vorbereiten.

 

Karl Bruckschwaiger

 

 

nächster Termin: 24.Mai 2023

Aristoteles, Metaphysik, Buch XIV, ab 1051a, 4

Sonntag, 14. Mai 2023

In der Metaphysik lesen * Hermann – Lektüre 29 (75rE - 76rD) Seite 200, Z 25 bis Seite 208, Z 11 bei Burnett.

 Mittwoch, den 3. Mai 2023

 

 

In diesem Abschnitt geht es Hermann um die Bewegungen des sekundär Gezeugten und durch den Blick auf die Umwandlungen der Stoffe durch die Elemente um die Natur des sekundär Gezeugten, dabei speziell um die Aggregatzustände der Stoffe, wie wir es heute nennen würden.

Zuerst werden die Dinge durch das Zusammengehen der Formen mit der Materie gezeugt. Und um dieses Zusammengehen, lateinisch coitu, herbeizuführen, muss es eine Bewegung geben und eine bewegende Ursache. Zuerst läßt Hermann noch innerliche und äußere Ursachen gelten, entscheidet sich aber umgehend für äußerliche Ursachen, wie Abstoßung oder Anziehung, propulsione aut attractione. Denn die Bewegungsursache für die Zeugung der Dinge ist die Bewegung der Oberen. Deren Verhaltensweisen im Umlauf sorgen dann für die Auflösungen und Zeugungen der Dinge, je nachdem sie sich nähern oder entfernen. Das Werden und Vergehen wird an dieser Stelle von Hermann wörtlich als der ewige Kampf der Elemente bezeichnet – perpetua elementorum colluctatio – und durch die Gegensätze dieser Elemente und deren Anziehung und Zurückziehen werden die verschiedene Bewegungen der Dinge angetrieben.

Zuerst wird die Auflösung der Erde durch die überwältigende Kraft des Feuers angeführt, der Luft wird eine mäßigende Kraft gegenüber dem Feuer zugestanden, in der Nachbarschaft zu Wasser und Erde, ergießt sich die Luft in die wässrige Substanz und führt zu Schnee und Regen, und wenn die Kraft der Oberen überwiegt, zu Wolken und Hagel. Hermann hat auch ein kleines meteorologisches Werk über den Regen – de imbrium – verfasst. Wenn mit den stärksten Winden und stärksten Schlägen die schärfsten Feuer entzündet werden, ist das Feuer plötzlich wieder im Spiel, andererseits kann die Luft die leichtesten Wasser an sich ziehen und die Erde die Wasser überwinden. Nachdem so Blitze, Verdunstung und Austrocknung eingeordnet wurden in den Wechsel von Werden und Vergehen, wendet er sich der Natur des sekundär Gezeugten zu, das sind die Zusammensetzungen aus den Elementen.

 

Mineralien

Mineralien, Hermann verwendet das Wort metalli, Burnett übersetzt auch durchwegs mit Mineralien, sind im ersten Zusammengehen der Elemente aus festeren Materien entstanden, aber auch durch eine sekundäre Art der Hervorbringung. Bevor Hermann auf diese Schmelzprozesse eingeht, gibt er noch eine Farbzuordnung der Mineralien oder Metalle nach den Planeten, schwarz für den Saturn, grün für den Jupiter, rot für den Mars, citrusfarbig oder blaugrau für die Sonne, weiß für die Venus, purpur für Merkur und grau für den Mond. Er sieht aber dass solche Zuordnung der Eigenschaft der Form folgt und nicht der Natur der Dinge.

Aus der ursprünglichen Zusammensetzung läßt sich durch künstliche Feuer, starke Gewalt und viel Arbeit ein wässriger Zustand herstellen, woraus nach der Abkühlung neue Formen gezogen werden können. Diese neuen Formen sind dann Metalle im engeren Sinn, die wieder Planeten der Form gemäß zugeordnet sind. Gold der Sonne, Silber dem Mond, Blei dem Saturn, Zinn dem Jupiter, Eisen dem Mars, Kupfer der Venus, Quecksilber dem Merkur, andere Mineralien werden auch aus diesem wässrigen Zustand gezogen. Es müssen zum Herausholen der Samen der Metalle aus der festen Materie sowohl das Feuer wie auch das Wasser mitwirken, wobei die Elemente sowohl Bestandteile wie auch verändernde Ursachen sein müssen. Dabei kommen Hermann auch die Wasser und Flüssigkeiten (hier zum ersten mal liquor) die durch Erde selbst fließen und als rauchende Dämpfe und heiße Quellen hervortreten.

 

Pflanzen

Pflanzen sind auch aus der Vereinigung der Elemente entstanden, haben aber einen Samen als Ursprung der sekundären Zeugung, der durch Erde und Wasser gefestigt wird. Durch die von oben herabsteigende Hitze wird der Samen aufgebrochen und die Wärme zieht ihn nach oben und ein Teil der Pflanze breitet sich nach unten, ein anderer nach oben aus. Wenn die Hitze die Feuchtigkeit übersteigt, hört das Wachstum auf und wenn die Hitze sich erschöpft, wird die Verbindung der Zusammensetzung  ganz aufgelöst und alles kehrt in den ursprünglichen Zustand zurück.

 

Karl Bruckschwaiger

 

nächste Sitzung: 17.Mai.2023

Hermann lesen ab 76rE S.208

Samstag, 13. Mai 2023

Die Gegenwart dehnen – Zeit zum Verstehen (IX, 1050b 6 – 1051a 4)

 Mittwoch, 10. Mai 2023

 

 

Die Charakterisierung, die Aristoteles im Buch XII dem von ihm aufgewiesenen, jedenfalls konstruierten Gott zukommen läßt, ist zwar rein begrifflicher Art, aber damit auch reichhaltig, anthropomorphisierend und fast plastisch: zusammengesetzt aus mehreren Tätigkeiten, Eigenschaften und Leistungen – wie permanente Lustrealisierung, Denktätigkeit, Betrachtung, Lebendigkeit, Wohlbefinden, Bewegungstätigkeit aufgrund von Geliebtwerden und so weiter.

 

Die aristotelische Beschreibung des Gottes, für den ich die Abkürzung UB-DD einsetze, folgt eingestandenermaßen seiner Bewunderung jenes Objektes.

 

Andererseits ergibt sich aus der Tatsache, daß Aristoteles Gott mit Pferd und Mensch als anderen Arten von Lebewesen in eine Reihe stellt, für uns im Jahr 2023 nach Christus auch die Möglichkeit, darüber nachzudenken, ob und wie wir jenes Objekt auch mit anderen Begriffen oder Darstellungsarten bezeichnen können. 

 

Bezeichnen oder graphisieren?

 

Stellt man sich die Frage, ob es innerhalb der aristotelischen Unterscheidung natürlich – künstlich eher auf die eine oder die andere Seite gestellt werden sollte, könnte man es in seiner Eigenschaft als UB eher auf die Seite des Natürlichen setzen, in seiner Eigenschaft als DD, der Denk-Reflexivität, vielleicht eher auf die des Künstlichen – auf die der Kunsttätigkeit, welche das Naturhafte überschreitet. 

 

Indem das altgriechische zoon nicht nur „Lebewesen“ bedeutet sondern auch „Bild“, überspringt dieses Wort die obige Unterscheidung und umfaßt beide Bedeutungen, die sich ja auch direkt zusammenführen lassen: zu einem Lebewesen, das sich selber gestalthaft darstellt – was man nicht nur oft genug an Menschen wahrnehmen kann, sondern manchmal auch an Pfauen und anderen Vögeln, an Schmetterlingen oder Löwen.

 

Diejenige Kunstsparte, in der Menschen die körperliche Selbstdarstellung bewußt und vielfältig kultivieren und auch mit Fremddarstellung aufladen, ist das Schauspiel einschließlich der Tanzkunst, mitsamt Körpermodifikationen verschiedenster Art, welche seit jeher die Grenzen zwischen Mensch und Tier und Gott und wohl auch noch anderen Realitätssorten überschreiten.

 

Der von fachlicher Seite erhobene Vorwurf gegen den aristotelischen Gott, sich wie ein Narziß zu benehmen, kann von mir oder sonstwem als Einladung verstanden werden, ihn auch mit anderen Dingen oder Eigenschaften zu assoziieren und darstellbar zu machen, sofern sie Aspekte der aristotelischen Schilderung verdeutlichen und vielleicht versinnlichen – obwohl jener Gott im großen und ganzen als stoffloser angenommen wird.

 

Also habe ich aus den im Internet greifbaren pornographischen Bildern einen amerikanischen Pornostar herausgegriffen: Tanner Mayes (*1989), die sich durch mehrere Vorzüge auszeichnet, welche sie für die genannte Darstellungsaufgabe qualifizieren (einige davon gehen sogar in eine theologische Richtung). 

 

Auch der an einigen Tieren bemerkte direkte Übersprung vom Lebewesen zum Bild und zur bildnerischen Tätigkeit dürfte für Tanner Mayes unmittelbar zutreffen: sofern sie ihre Hurentätigkeit hauptsächlich für die Erzeugung von filmischen also fotografischen Bildern ausübt, ist sie für die Öffentlichkeit nur im Bild, nur als Bild „greifbar“.[1]

 

Dazu kommt, daß ihre schauspielerische Begabung sehr flexibel und weitreichend ist. Sie umfaßt diverse akrobatische Leistungen - bis hin zur Darstellung von Statuen und sogar von Torsi.

 

Beim hier gezeigten Torso-Foto habe allerdings ich nachgeholfen und habe das Aktfoto oben und unten beschnitten – das heißt ich habe mich selber als sekundärer aktiver Pornograph betätigt. Pornograph - in diesem Fall Tannerograph - neben meiner Rolle als Aristotelograph, der wiederum Aristoteles als einem Theographen nachfolgt. 

 

Zur Illustrierung des aristotelischen Gottes trage ich zusätzlich zu dem aktiv lustrealisierenden Torso noch etwas anderes aus neuester Zeit bei. 

Vor kurzem hat der Wiener Psychoanalytiker Georg Gröller in einem neulich genannten Buch, dessen Titulatur voller theologischer Bedeutungen ist, dem französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan (1901-1981) eine Schilderung von dessen habitus gewidmet, die jene Bedeutungen beiseite läßt.

 

Gröller beschreibt und erzählt eine extrem eigensinnige, hartnäckige, geradezu rücksichtslose „Lebensführung“ (das ist übrigens der Begriff, mit dem Aristoteles seine Charakterisierung des UB-DD-Komplexes einleitet). Er tut dies gestützt auf zahlreiche Berichte aus dem Umfeld von Lacan und ich kann seine Schilderung einigermaßen bestätigen, da ich Lacan oftmals in nächster Nähe erlebt habe - zusätzlich zu filmischen Dokumentationen und Lektüreerfahrungen.

Lacans Verweigerung aller Konformismen zeigte sich in seinem Verhalten gegenüber zuständigen Institutionen, gegenüber Kollegen – sofern sie ihn daran hinderten, das zu tun, was einzig und allein für ihn zählte: seinem Begehren treu zu sein. Dazu gehörte auch seine Weigerung, für eine bessere, gerechtere oder gar ideale Welt einzutreten. Sei es in der Zwischenkriegszeit oder in der Revolutionsstimmung des Jahres 1968. (Daß die Revolutionäre für ihn schwärmten, steht auf einem anderen Blatt)

 

Er war der wirkliche Antiheld – wohl aber überzeugt von der eigenen Großartigkeit und Überlegenheit. Perfekte Selbstinszenierung, Extravaganz seines Lebensstils. Lacan als Dandy.

 

Dazu eine Geheimnisgeschichte: irgendwann habe er seiner Tischnachbarin anvertraut, daß er ein Geheimnis habe, und dieses Geheimnis sei, daß er fünf Jahre alt sei.

 

All das aus Treue zum eigenen Begehren!

 

Ich würde also meine postaristotelische Theographie mit dem bei Lacan beliebten diagrammatischen Quadrat graphisieren, dessen vier Ecken heißen:

 

    UB             =          DD

 

 

 

Tanner-Torso               Lacan-Leben

 

Das gesamte Quadrat zeichnet den aristotelischen Gott auf: in seiner inneren Komplexität – erste Zeile. Und mitsamt zwei Illustrierungen durch zeitgenössische Darsteller aus dem späten 20. Jahrhundert nach Christus – zweite Zeile.

 

Zwischen UB und DD wird Identität behauptet. Die übrigen Beziehungen zwischen den vier Termen bleiben vorläufig unbezeichnet. 

 

Zwischen UB=DD und Jacques Lacan besteht eine Beziehung, die darin besteht, daß dieser von jenem Kenntnis genommen hat, wie wir ja schon mehrere Male festgestellt haben. Natürlich gibt es da auch ein „wir“ – das bin ich, der mit diesem Diagramm seine Rolle als Aristotelo- sowie Tannero- und Lacanograph kundtut.[2]

 

*

 

Um den Satz über den Zusammenhang von Ewigkeit und Verwirklichung (in 1088b 24) näher zu betrachten oder etwa gar zu verstehen, greifen wir auf Buch IX 1050b 6ff. zurück, wo der Vorrang der Verwirklichung vor dem Vermögen, der Vorrang der ewigen Dinge vor den veränderlichen Dingen behauptet wird. Sowie der Ausschluß des Vermögens aus dem Ewigen.

 

Gäbe es die ewigen und notwendigen und „nur“ verwirklichten Dinge nicht, so gäbe es gar nichts (1050b 19). Dieser Satz formuliert einerseits zurückhaltend, andererseits doch kategorisch, daß es für die Existenz der Welt mit ihren veränderlichen Dingen als Bedingung etwas geben muß, das stets in Verwirklichung ist. 

 

Und Aristoteles fährt fort, daher seien die Sonne, die Gestirne und der ganze Himmel stets in Verwirklichung und man brauche keine Angst zu haben, daß sie einmal stillstehen, wie dies die Naturphilosophen befürchten, die eine andere Auffassung von der Bewegung haben.

 

Wenn auch die heutige Kosmologie die Ewigkeit der Sonne und der Gestirne viel enger eingrenzt als Aristoteles, dann muß dessen Auffassung vom Verhältnis zwischen Möglichkeit und Verwirklichung deswegen nicht hinfällig sein: die pure Verwirklichung müßte dann eben nicht in den Gestirnen situiert werden, sondern woanders beziehungsweise „wieanders“ – und dafür hat er die Realunion von UB und DD konzipiert. In der dürfte wohl auch das anzusetzen sein „was viel wissender ist als die Wissenschaft selbst und viel bewegter als die Bewegung selbst“ (1050b 37f.) – welche mit der Emphatisierung durch das „selbst“ zu „Ideen“ substantiviert werden (ein schon öfter bemerkter Trick der aristotelischen Polemik).

 

Die Partizipien „wissend“, „verstehend“, „bewegt“, „sich bewegend“ , „in Bewegung befindlich“ bezeichnen hier Zustände der vorrangigen Verwirklichung, während die Ideen als Vermögen der Entstehung nach früher sein können, obwohl sie aus der Verwirklichung hervorgehen (siehe 1051a 3) 

 

 

Walter Seitter


[1] Pierre Klossowski, der viel Arbeit auf die fotografische, filmische und pikturale Darstellung der Nacktheit verwendet, kommentiert deren Geschichte eher pessimisitsch. Siehe „Die Dekadenz des Aktes“ in P.K. : Die Ähnlichkeit (Bern-Berlin 1986)

 

 

[2] Siehe auch Walter Seitter: Jacques Lacan und (Berlin 1984)

Montag, 1. Mai 2023

In der Metaphysik lesen (1088a 15 – 1088b 27)

 26. April 2023

 

 

Im letzten Protokoll war davon die Rede, daß die drei Begriffe der Spezifizierung der Gattung „Lebewesen“ in die Arten - Mensch, Pferd, Gott – (1088a 11) überhaupt nicht in der großen Begriffsliste des Buches V vorgekommen sind. Es muß sich doch beide Male um „wichtige“ Begriffe handeln und gleichzeitig muß da ein Unterschied bestehen. 

 

Die drei genannten Lebewesen müssen in der Welt des Aristoteles eine Rolle gespielt haben. Während die dreißig anderen Begriffe wie Prinzip, Ursache, Seiendes, Wesen, Relation, Quantität, Teil, Ganzes und so weiter auf einer anderen Ebene angesiedelt sind. Auf welcher? Auf einer eher logischen, theorieimmanenten?

 

Ich habe diese beiden Ebenen jahrelang voneinander unterschieden. Die eine habe ich „Realitätssorten“ genannt, die andere „Seinsmodalitäten“. Zur ersten gehören auch solche Unterscheidungen wie beseelt-unbeseelt, natürlich-künstlich . . . 

 

Insofern das griechische Wort für Lebewesen, nämlich „zoon“, auch Bildwerk bedeutet und der sogenannte Gott von Buch XII als Lebewesen, nämlich als außerordentliches, als besseres Lebewesen zugleich eine Figur, eine ansehnliche Figur, sein könnte oder gar sollte, erscheint es nicht abwegig, ihn über das Naturhafte hinaus zu deuten. Er wird ja auch einmal einer „andersartigen Natur“ (1064b 12) zugewiesen.

 

In der aristotelischen Unterscheidung zwischen den Realitätssorten natürlich-künstlich – wo steht da das UB bzw. DD?

 

In der Unterscheidung zwischen unbeseelt-beseelt - da steht es wohl aufseiten des Beseelten.

 

Als denkerische Aktivität oder aktives und reflexives Dauerdenken und -frohsein, steht es da nicht eher aufseiten des Bildenden als auf der des Bildwerks?

 

Aufseiten des Künstlers oder aufseiten des Kunstwerks?

 

Es gibt eine quasi moralische oder beinahe psychiatrische Kritik am aristotelischen Gott, die ihn sehr vermenschlicht und ihm vorhält, er kenne nur sich selber und sei somit eine „Art Narziß“. Als ich am 9. März 2022 davon zum ersten Mal Notiz nahm, meinte ich, ich könnte die Narzisse (im Deutschen weiblich) als Bild für jenen einsamen Gott ins Gespräch bringen.[1]

 

Jetzt neige ich dazu, die mythische Figur des Jünglings Narziß als sichtbares Bild-Prinzip für das unsichtbare Gott-Prinzip vorzuschlagen. 

 

Doch als Quasi-Künstler, zu dem ich mich nun aufschwinge, wähle ich jetzt eine leicht abweichende handwerklich-bastlerische Vorgangsweise und nehme eine der vielen im Internet greifbaren Fotografien, die von der amerikanischen Schauspielerin Tanner Mayes angefertigt worden sind, beschneide sie so, daß sie als Foto von einer torsoartigen Statue erscheint, beziehungsweise ich sage, ich bin nämlich ein schreibender Künstler, die Schauspielerin habe einen Torso gespielt (Schauspieler haben alles Mögliche spielen zu können), und dieses Foto betrachte ich nun als irgendwie stimmendes Ebenbild jenes Gottes beziehungsweise die Schauspielerin mit ihrer künstlerischen Tätigkeit ist eine geniale (genial weil lustvoll als Torso) und kongeniale Darstellerin des Gottes, der selber natürlich (?) auch ein genialer Darsteller sein muß - jedenfalls nach der bewundernden Beschreibung, die Aristoteles von ihm angefertigt hat. Danach erscheint er als eine Art Figurierung aus unterschiedlichen Eigenschaften, die ihm bzw. ihr allesamt wesenhaft zukommen und nicht bloß akzidenziell. Aktive Eigenschaften seiner puren Aktivität

 

Sophia Panteliadou erwähnt zu dieser Narziß-Deutung und -kritik, ihre Erfahrung als Ausstellungsmacherin gehe in die Richtung, daß Künstler zu narzisstischem Verhalten neigten, wohlgemerkt als Privatpersonen. Und als sie neulich mit dem Psychoanalytiker Georg Gröller darüber gesprochen habe, habe dieser skeptisch reagiert. Andererseits hat Georg Gröller kürzlich in einem Buch das Ethik-Konzept von Jacques Lacan durch eine Schilderung von dessen Lebensführung recht drastisch illustriert – eine Lebensführung, die sich durch extremen Eigensinn ausgezeichnet habe: eben durch durchgängige Treue zu seinem Begehren.[2]

 

Sophia Panteliadou meint noch, meine UB- und DD–Abbildung erinnere sie an Fotografien von Helmut Newton und diese zeichnen sich ja tatsächlich dadurch aus, daß sie Frauen abbilden, die nicht den Eindruck erwecken, sie würden vom Fotografen zu Objekten degradiert werden - das heißt zu Objekten, die keine Subjekte sind. Zu Objekten werden sie zweifellos durch das Fotografiertwerden gemacht – Objekte sind sie allerdings auch durch sonstiges Gesehen- oder etwa durch Geliebt- oder allfälliges Verachtetwerden. Dabei bleiben sie aber immer Subjekte sei es faktisch oder aber explizit durch bewußtes Agieren mitsamt Begehren, Sprechen und so weiter. Das gilt auch für die genannte Schauspielerin, das gilt auch für den hier gezeigten Torso, der seine offenkundige Beschnittenheit recht gut überlebt, geradezu genießt und darbietet oder figuriert. Lebewesen und Künstlereigensinnigkeit und Bildwesen.

 

Jetzt aber wieder zu der weniger poetischen aber auch nicht völlig unpoetischen Tätigkeit der Lektüre des Textes von Buch XIV, von dem wir noch nicht wissen, wie poetisch es sich darstellt.

 

Poietisch, das heißt irgendwie gemacht, menschengemacht ist es auf jeden Fall. Und poietisch, also menschengemacht, ist auch unsere Lektüre – sei sie mehr oder weniger gut gemacht. 

 

Im Satz 1088b 15 erlaubt sich Aristoteles, bestimmte Kollegen sehr scharf zu tadeln, weil sie bestimmte Aussagen machen, die „sich allzu weit vom Wahrscheinlichen und Möglichen entfernen“. Grob gesprochen wirft er jenen Aussagen vor, daß sie die Wahrheit verfehlen. Er formuliert es aber ein bißchen more sophisticatedly und sagt, sie entfernen sich weit vom Scheinenden und Möglichen. Nicht nur treffen sie nicht das Wirkliche, sondern sie erreichen nicht einmal die Bereiche um das Wirkliche herum - und die nennt er das „Scheinende“ und das „Mögliche“.

 

Mein Grazer Übersetzer hat völlig richtig übersetzt – aber die Pointe, daß er für das Wahrscheinliche, das wir aus der Lektüre der Poetik genugsam kennen, den platonischen Feindbegriff des Scheinenden, des Scheinhaften, des bloßen Scheins einsetzt, der für Aristoteles immerhin noch eine gewisse Nähe zum Wirklichen bezeichnet, kann ich hier nachtragen. 

 

Denjenigen, die derartige Aussagen machen, wirft Aristoteles nun ein noch radikaleres Machen vor, das sich direkt auf die Gegenstände bezieht: jene machen das Ungleiche zu einem Einen, die Zweiheit zu einem Unbestimmten aus Großem und Kleinem.

 

Damit erklärt er das „Machen“ direkt zu einer theoretischen Tätigkeit – etwa wie „etwas zu etwas erklären“ oder „etwas mit etwas identifizieren“ – und jetzt sagt er, jenes Machen gehe in die Irre, weil es Akzidenzien mit Substraten verwechsle und das (ontologisch) geringste Akzidens auf eine Stufe mit sozusagen besseren Akzidenzien wie Quale oder Quantum hebe. Das ontologisch geringste Akzidens ist das „Relative“ – und die Hartnäckigkeit, mit der Aristoteles diese Einschätzung behauptet, verwundert, wenn man sich daran erinnert, daß das, was man als „Relation“ bezeichnet, heutzutage sowohl in der Philosophie wie auch im sogenannten Alltag einen hohen, ja einen höchsten Stellenwert genießt. 

 

 

Erkundigt man sich nach dem genauen Wortsinn des Relativen, so erfährt man, daß es bei Aristoteles zwei voneinander abweichende Definitionen des Begriffs gibt. Die erste bestimmt es als ein solches, das im Hinblick auf ein anderes ist, was es ist: also das Größere oder das Doppelte oder des Halbe. Nach der zweiten Definition ist das Relative etwas, was sich selber – und nicht bloß sprachlich – zu etwas so oder so verhält, etwa Vater von jemandem sein.[3]

 

Aus diesem Grund ist das Relative am weitesten davon entfernt, ein Wesen sein zu können. Und es kann überhaupt nicht ein konstituierendes oder vorgängiges Element eines Wesens sein. 

 

Es geht hier immer noch um den unaufhebbaren Primat des Wesens gegenüber den Akzidenzien, aber auch gegenüber den Elementen, aus denen sie bestehen. Es sei denn, die Elemente sind selber Wesen – dann würde es sich um eine hierarchische Ordnung zwischen verschiedenen Wesen handeln.

 

Doch Aristoteles konstruiert noch eine neuerliche Problematik mit der Frage, ob ewige Dinge aus Elementen bestehen können. Dann wären sie zusammengesetzt und würden über einen Stoff sowie über ein Vermögen verfügen. 

 

Und zwar über das Vermögen, wirklich zu sein oder auch nicht. Dinge mögen noch so lang existieren, möglicherweise sogar grenzenlose Zeit. Solange sie fähig sind, auch nicht zu existieren, sind sie nicht ewig. Ewig ist nur, was nicht in der Lage ist, nicht zu existieren. 

 

Merkwürdig die doppelte Negation, die zu dieser Bestimmung der Ewigkeit eingesetzt wird. Sie ist wohl nicht die einzige Formulierungsweise. Eine andere folgt gleich drauf: ewig ist ein Wesen nur, sofern es Verwirklichung ist. Dieses „sofern“ gibt die Bedingung an: eine präzise Formulierung.

 

Wird hier vielleicht der Schlußstein gesetzt, der das Gewölbe zusammenhält? Einfach gesetzt - gleichsam nackt, ohne Ornamentik, ohne Emphase?

 

Eine Fußnote verweist auf Buch IX sowie auf De caelo, I. Diesen Stellen sollten wir nachgehen.

 

 

Walter Seitter


[1] Siehe Artikel „noesis noeseos“, in: Aristoteles-Lexikon: 374-376.

[2] Georg Gröller: Gott ist unbewusst. Entwurf einer atheistischen Mystik (Wien-Berlin  1922): 54-63.

[3] Artikel pros ti, in Aristoteles-Lexikon: 499.