24. Mai 2023
Zunächst fragt Sophia Panteliadou, ob das quadratische Diagramm, das ich im Protokoll vom 10. Mai gezeichnet habe, zur aristotelischen Theologie von Buch XII, zu deren Verständnis etwas beiträgt.
Nur die erste Zeile des Diagramms mit den Termen
UB DD
bezieht sich direkt darauf.
Sie greift aus der Fülle der begrifflichen Charakterisierungen zwei heraus, schreibt sie auseinander, weil sie jeweils unterschiedliche Aspekte betonen.
Eine annähernd vollständige Liste der begrifflichen Bestimmungen habe ich im Protokoll vom 9. März 2022 angeschrieben.
Die zweite Zeile bestehend aus
Tanner Torso Lacan Dandy
habe ich mehr oder weniger willkürlich dazugeschrieben, um die aristotelische Gottesbestimmung, deren unsichtbarer und unkörperlicher Charakter mir Schwierigkeiten macht, zu „illustrieren“. Ermutigt dazu hat mich Aristoteles selber mit dem Begriff „Lebewesen“, unter den er auch den Gott subsumiert, und überhaupt mit den menschenhaften Bestimmungen, die er dem Gott zuspricht (die aber bei diesem superlativisch ausfallen).
Auch die Tatsache, daß jenem Gott von philologischer Seite „Narziss-Qualität“ unterstellt wird, hat mich motiviert und ebenso die Frage, ob er eher als künstlich oder als natürlich zu denken sei.
Sophia Panteliadou denkt spontan an Don Juan als mögliche Illustrationsfigur.
Ich nehme zwei weit auseinander liegende Personen, von denen eine nur im Tabu-Bezirk der Adult-Industry bekannt ist, die ungefähr 33 Jahre alte amerikanische Porno-Darstellerin Tanner Mayes.
Von ihr nehme ich genau genommen nur ein Foto, das ich beschneide, sodaß ein Torso entsteht, von dem ich behaupte, er würde von ihr gespielt, denn sie ist eine verwandlungsfähige Schauspielerin. Ein Ding - halb Lebewesen, halb Statue.
Allerdings zeichnet sich dieses Ding auch durch mehrere überlieferte sprachliche Äußerungen aus – etwa durch eine permanente kalligraphische Inskription mit dem Gebot, sie „just“ zu lieben.
Die andere von mir ausgewählte Illustrationsfigur ist der in anderen Kreisen bekannte französische Psychoanalytiker Jacques Lacan, aufgrund seiner Lebensführung von Georg Gröller als „Dandy“ geschildert und eigenen Aussagen zufolge seinem eigenen Begehren hartnäckig treu.
Beide Illustrationen haben mit dem aristotelischen Gott direkt nichts zu tun. Aber man kann sie dazu denken, weil der aristotelische Gott in seiner engeren Umgebung, dazu gehört der aristotelische Text, irgendwie gesprochen, geschrieben worden sein muß.
Er ist von einer Menge, von einem Gedränge von Wörtern, auch von Vorläufer-Texten, dann von Nachfolge-Texten, Interpretationen und Diskussionen, Übersetzungen und so weiter umgeben.
Von einer Graphik-Masse, zu der auch ich mich nun seit dem Jahr 2011 dazu schreibe – mit der allerbescheidensten Textsorte der Protokolle von unseren Lektüre-Gesprächen.
Den Tanner Torso und den Lacan Dandy schiebe ich in die Buchstabenmasse der Protokolle hinein, wie ich ja auch schon im Jahr 2018 die Aristoteles-Skulptur am Rande des Aristoteles-Platzes in Thessaloniki als dreidimensionalen Graphismus ausgewählt habe, auf daß er als Photographie ins Buch aufgenommen werde. Die Graphik als weniger vollständige Darstellungstechnik denn die Plastik.
Der aristotelische Gott soll zwar unkörperlich sein – aber ist er damit eher weniger als ein Körper oder mehr als ein Körper?
Wie vollständig oder unvollständig auch immer: mit den Protokollen und nun mit diesen Illustrationen betätige ich mich als Graphen: Aristotelo- und Tannerograph und beide zusammen ergeben hier mich als Theographen – und zwar einen sehr distanten.
Karl Bruckschwaiger bemerkt, ihm falle das von Aristoteles eingesetzte und sogar reflexiv verdoppelte Wort noesis auf, mit dem jenem „Gott“ eine Aktivität, eine permanente Denkaktivität zugeschrieben wird. Aus der Abkürzung UB wird man auch noch eine weitere Daueraktivität herauslesen dürfen: eine transitive Dauerkinetik. Das ergibt so etwas wie eine Hyperaktivität – oder soll man von Aktivismus sprechen? Perpetuum movens cogitansque.
*
Im Buch XIV vergleicht Aristoteles zwei Existenzweisen, die sich in einem wesentlichen Punkt unterscheiden, obwohl die eine fallweise gleich ausschauen kann wie die andere.
Die eine wird dadurch definiert, daß das Existierende A auch aufhören könnte zu existieren. Die andere dadurch, daß das Existierende B nicht aufhören kann zu existieren.
In der ersten Existenzweise gibt es also ein Können in zwei entgegengesetzte Richtungen, also eine Kontingenz. In der zweiten herrscht diesbezüglich ein Nicht-Können.
Man könnte also von A sagen, es könne mehr als B kann.
A kann unaufhörlich weiterexistieren, es kann aber auch aufhören weiterzuexistieren.
B kann nicht aufhören zu existieren.
Kann also B weniger als A?
Wenn A unaufhörlich existiert, scheint es genau so zu existieren wie B.
Diesem B spricht Aristoteles die Eigenschaft „ewig“ zu. Dem A spricht er diese Eigenschaft ab – auch dann, wenn es unaufhörlich weiter existiert.
Wo liegt der Unterschied zwischen „unaufhörlich“ und „ewig“? Der zeitliche Verlauf sieht gleich aus. Beim Unaufhörlichen (A) kommt allerdings die entgegengesetzte Möglichkeit des Aufhörens dazu. Aber wenn diese Möglichkeit nur Möglichkeit bleibt, dann scheint der Sachverhalt derselbe zu sein wie bei B.
Die sprachlichen Bezeichnungen hingegen unterscheiden sich so deutlich und sichtbar, daß man sie beachten sollte.
Die Beachtung von etwas Sichtbarem zeichnet jeden Wissenschaftler aus – und daher auch den Philosophen. Ein aristotelisches Axiom, denn für Aristoteles ist jeder Philosoph zunächst ein Wissenschaftler, und nur wenn er in irgendeiner Wissenschaft etwas taugt, kann er vielleicht das Glück haben, daß diese Wissenschaft auch zur Philosophie gehört. Wenn er sich der wissenschaftlichen Bewährungsprobe entzieht, weil er sie für unphilosophisch hält, vergibt er die Chance, sich als Philosoph zu betätigen. Auch wenn er noch so sehr meint, ein Philosoph zu sein.
Philosophieren ist ein Bündel von Tätigkeiten, auch von kinetischen und noetischen, jetzt aber seien die ästhetischen vorgezogen. Und daher vergleichen wir sehend die beiden Wörter „unaufhörlich“ (1) und „ewig“ (2).
Sofort fällt auf, daß 1 ein viel längeres Wort ist, offensichtlich zusammengesetzt aus mehreren unterscheidbaren Teilen – nicht nur aus Buchstaben und Silben – sondern aus Teilen, die semantisch gedeutet werden können:
un – Präfix der Negation
aufhören – eine bestimmte Tätigkeit, die insgesamt wiederum ein Negieren auf einer Zeitlinie meint
lich – Suffix, das eine Möglichkeit bezeichnet
2: zusammengesetzt aus
ew - altes Wort für lange Dauer
ig - Adjektivsuffix ohne semantischen
Akzent
Der Unterschied zwischen den beiden Wörtern ist vielfältig, gravierend, dramatisch - jedenfalls so stark, daß die Vermutung, daß sie zwei sehr unterschiedliche Eigenschaften bezeichnen, hypothetisch geboten ist.
Wir versuchen, von den Wörtern auf die Eigenschaften hinüber zu denken (eine kinetische Noese), speziell auf die Eigenschaft „ewig“. Was kommt da noch dazu, zum Nicht-Aufhören, zur Fortsetzung, zum Weitergehen?
Man könnte auch bei diesen Wörtern verweilen und sich fragen, was der Antrieb zur Fortsetzung, zum Weitergehen sein könnte.
Aber dem Ewigen kommen wir vielleicht näher, wenn wir das Wort „immerwährend“ einsetzen:
„immer“ sowieso.
„während“, „währen“ - ?
Wir tippen auf das Adjektiv „wahr“. Dann würde diese Eigenschaft dazu kommen und das Nicht-Aufhören mit einer Affirmation aus dem Gefüge Sein-Erkennen positiv stärken.
Die Etymologie neigt allerdings zu einer etwas anderen Antwort. Das Verbum „währen“ sei bloß eine andere Schreibweise für das heute kaum mehr gebräuchliche Verbum „wesen“, das soviel bedeutet wie „sein“ – allerdings aufgeladen mit dem Substantiv „Wesen“, das den deutschsprachigen Aristotelographen sehr wohl bekannt ist.
Mit dieser Zusatzinformation können wir „immerwährend“ deuten als ein nicht aufhörendes „sein“ – kein bloßes, nacktes „sein“, sondern ein „was sein“, ein „bestimmtes sein“, ein „Sache sein“, ein „Wesen-sein“. Was für eine Sache, was für ein Wesen, bleibt unbestimmt, aber irgendein nominativisches Prädikat, welches das „sein“ auffüllt, kommt beim „währen“ dazu, sodaß das Partizip Präsens „immerwährend“ den semantischen Sprung, die Steigerung zum „ewig“ andeuten kann.
Das vorausgesetzte Wesen muß dann wohl die Unmöglichkeit des Aufhörens beitragen. Aber nicht als Mangel an einem Können, sondern als eine so starke Kraft, daß sie jedes entgegengesetzte Können von Anfang an überwunden und ausgeschlossen hat.
Das Nicht-Aufhören-Können des Ewigen kommt von wo anders – von einem Anfang, der eine bestimmte Qualifizierung aufweist.
Diese kleine von Aristoteles angeregte Untersuchung fragt nach dem Unterschied zwischen zwei Unaufhörlichkeiten.
Die eine ist die banale auch in der Alltagserfahrung öfter vorkommende: etwas hört nicht auf, obwohl klar ist, es kann oder es soll irgendwann aufhören.
Die zweite ist viel rarer, vielleicht sogar so rar, daß man sie kaum jemals erlebt: etwas hört nicht auf, weil es von seinem inneren Wesen her gar nicht aufhören kann.
So meinen wir es von manchen Regelmäßigkeiten der Natur, etwa vom Wechsel der Tageszeiten oder Jahreszeiten. Oder von Gesetzmäßigkeiten der Mathematik.
Die zweite Art der Unaufhörlichkeit nennt Aristoteles die „Ewigkeit“. Und er bindet sie an bestimmte Realitätssorten. Die beiden Arten existieren nicht abstrakt für sich. Sondern es hängt von den Sachen ab, wie aufhörlich oder unaufhörlich oder ewig sie sind.
Vielleicht haben wir die Wesen, die tatsächlich ewig sind, noch gar nicht erlebt.
Im weiteren macht sich Aristoteles wieder einmal an die platonische Prinzipienlehre heran, deren Hauptsatz besagt, das Eine und die unbestimmte Zwei bilden die Elemente aller Dinge wie auch ihre Bestandteile.
Damit habe sie sich in überaltete Problemstellungen verstrickt, da sie letztlich alle Dinge auf ein Eines zurückführen wollte.
Und Aristoteles ruft wieder die vielleicht wichtigste Stoßrichtung seiner philosophischen Tätigkeit in Erinnerung – die man bis heute nicht oft genug betonen kann, da sie nämlich der Denkgewohnheit zuwiderläuft, die man üblicherweise mit „Metaphysik“, mit „klassischer Philosophie“ oder gar mit „Philosophie“ überhaupt assoziiert. Die Aussage nämlich, daß nicht nur auf Ebene der Realitätssorten, also der verschiedenen Dinge und Elemente, die Pluralität einen Grundzug bildet, sondern auch auf der anderen Ebene, die man vielleicht als subtiler bezeichnen könnte, und die darin besteht, daß „das Seiende vielfältig bezeichnet (einmal bezeichnet es das Wesen, ein andermal das Quale, wieder ein andermal das Quantum und die anderen Kategorien“ (1089a 8).
„Welch Eines sollen alle die Dinge sein … sollen ihre Wesen Eines sein und ihre Affektionen und das übrige gleichermaßen und alle Dinge? Und soll Eines sein das Das, das qualitativ Solche, das quantitativ Solche und die anderen Solchen, die vom Seienden bezeichnet werden? Es ist doch unsinnig oder vielmehr unmöglich, daß eine einzige Natur dafür Ursache werden soll, daß das Seiende einmal das Das ist, ein andermal ein qualitativ Solches, wieder ein andermal ein quantitativ Solches, ein andermal ein Wo.“ (1089a 9ff.)
Man sieht, wenn man Augen hat zu sehen, wie Aristoteles mit der Sprache kämpft, um „einfachste“ Dinge zu sagen.
Aristoteles resümiert hier zum xten Mal seine Auffassung von den Seinsmodalitäten – vermutlich weil auch er erfahren hat, daß sie wieder und wieder vergessen oder verkannt worden ist.
An dieser Stelle „radikalisiert“ er sie gewissermaßen, aber nur negativ, indem er die gegenteilige Auffassung, das ist die übliche „philosophische“, zu einem Ursach-Monismus umformuliert – dem er glatt widerspricht.
Dieser Ursach-Monismus erfinde eine einzige Natur, die Ursache für die diversen Vielheiten sein soll.
Und das sagt Aristoteles, der im Buch XII tatsächlich ein Wesen erfunden und beschrieben hat, dem er eine gewisse Gesamtursächlichkeit zugeschrieben hat.
Walter Seitter
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