26. April 2023
Im letzten Protokoll war davon die Rede, daß die drei Begriffe der Spezifizierung der Gattung „Lebewesen“ in die Arten - Mensch, Pferd, Gott – (1088a 11) überhaupt nicht in der großen Begriffsliste des Buches V vorgekommen sind. Es muß sich doch beide Male um „wichtige“ Begriffe handeln und gleichzeitig muß da ein Unterschied bestehen.
Die drei genannten Lebewesen müssen in der Welt des Aristoteles eine Rolle gespielt haben. Während die dreißig anderen Begriffe wie Prinzip, Ursache, Seiendes, Wesen, Relation, Quantität, Teil, Ganzes und so weiter auf einer anderen Ebene angesiedelt sind. Auf welcher? Auf einer eher logischen, theorieimmanenten?
Ich habe diese beiden Ebenen jahrelang voneinander unterschieden. Die eine habe ich „Realitätssorten“ genannt, die andere „Seinsmodalitäten“. Zur ersten gehören auch solche Unterscheidungen wie beseelt-unbeseelt, natürlich-künstlich . . .
Insofern das griechische Wort für Lebewesen, nämlich „zoon“, auch Bildwerk bedeutet und der sogenannte Gott von Buch XII als Lebewesen, nämlich als außerordentliches, als besseres Lebewesen zugleich eine Figur, eine ansehnliche Figur, sein könnte oder gar sollte, erscheint es nicht abwegig, ihn über das Naturhafte hinaus zu deuten. Er wird ja auch einmal einer „andersartigen Natur“ (1064b 12) zugewiesen.
In der aristotelischen Unterscheidung zwischen den Realitätssorten natürlich-künstlich – wo steht da das UB bzw. DD?
In der Unterscheidung zwischen unbeseelt-beseelt - da steht es wohl aufseiten des Beseelten.
Als denkerische Aktivität oder aktives und reflexives Dauerdenken und -frohsein, steht es da nicht eher aufseiten des Bildenden als auf der des Bildwerks?
Aufseiten des Künstlers oder aufseiten des Kunstwerks?
Es gibt eine quasi moralische oder beinahe psychiatrische Kritik am aristotelischen Gott, die ihn sehr vermenschlicht und ihm vorhält, er kenne nur sich selber und sei somit eine „Art Narziß“. Als ich am 9. März 2022 davon zum ersten Mal Notiz nahm, meinte ich, ich könnte die Narzisse (im Deutschen weiblich) als Bild für jenen einsamen Gott ins Gespräch bringen.[1]
Jetzt neige ich dazu, die mythische Figur des Jünglings Narziß als sichtbares Bild-Prinzip für das unsichtbare Gott-Prinzip vorzuschlagen.
Doch als Quasi-Künstler, zu dem ich mich nun aufschwinge, wähle ich jetzt eine leicht abweichende handwerklich-bastlerische Vorgangsweise und nehme eine der vielen im Internet greifbaren Fotografien, die von der amerikanischen Schauspielerin Tanner Mayes angefertigt worden sind, beschneide sie so, daß sie als Foto von einer torsoartigen Statue erscheint, beziehungsweise ich sage, ich bin nämlich ein schreibender Künstler, die Schauspielerin habe einen Torso gespielt (Schauspieler haben alles Mögliche spielen zu können), und dieses Foto betrachte ich nun als irgendwie stimmendes Ebenbild jenes Gottes beziehungsweise die Schauspielerin mit ihrer künstlerischen Tätigkeit ist eine geniale (genial weil lustvoll als Torso) und kongeniale Darstellerin des Gottes, der selber natürlich (?) auch ein genialer Darsteller sein muß - jedenfalls nach der bewundernden Beschreibung, die Aristoteles von ihm angefertigt hat. Danach erscheint er als eine Art Figurierung aus unterschiedlichen Eigenschaften, die ihm bzw. ihr allesamt wesenhaft zukommen und nicht bloß akzidenziell. Aktive Eigenschaften seiner puren Aktivität
Sophia Panteliadou erwähnt zu dieser Narziß-Deutung und -kritik, ihre Erfahrung als Ausstellungsmacherin gehe in die Richtung, daß Künstler zu narzisstischem Verhalten neigten, wohlgemerkt als Privatpersonen. Und als sie neulich mit dem Psychoanalytiker Georg Gröller darüber gesprochen habe, habe dieser skeptisch reagiert. Andererseits hat Georg Gröller kürzlich in einem Buch das Ethik-Konzept von Jacques Lacan durch eine Schilderung von dessen Lebensführung recht drastisch illustriert – eine Lebensführung, die sich durch extremen Eigensinn ausgezeichnet habe: eben durch durchgängige Treue zu seinem Begehren.[2]
Sophia Panteliadou meint noch, meine UB- und DD–Abbildung erinnere sie an Fotografien von Helmut Newton und diese zeichnen sich ja tatsächlich dadurch aus, daß sie Frauen abbilden, die nicht den Eindruck erwecken, sie würden vom Fotografen zu Objekten degradiert werden - das heißt zu Objekten, die keine Subjekte sind. Zu Objekten werden sie zweifellos durch das Fotografiertwerden gemacht – Objekte sind sie allerdings auch durch sonstiges Gesehen- oder etwa durch Geliebt- oder allfälliges Verachtetwerden. Dabei bleiben sie aber immer Subjekte sei es faktisch oder aber explizit durch bewußtes Agieren mitsamt Begehren, Sprechen und so weiter. Das gilt auch für die genannte Schauspielerin, das gilt auch für den hier gezeigten Torso, der seine offenkundige Beschnittenheit recht gut überlebt, geradezu genießt und darbietet oder figuriert. Lebewesen und Künstlereigensinnigkeit und Bildwesen.
Jetzt aber wieder zu der weniger poetischen aber auch nicht völlig unpoetischen Tätigkeit der Lektüre des Textes von Buch XIV, von dem wir noch nicht wissen, wie poetisch es sich darstellt.
Poietisch, das heißt irgendwie gemacht, menschengemacht ist es auf jeden Fall. Und poietisch, also menschengemacht, ist auch unsere Lektüre – sei sie mehr oder weniger gut gemacht.
Im Satz 1088b 15 erlaubt sich Aristoteles, bestimmte Kollegen sehr scharf zu tadeln, weil sie bestimmte Aussagen machen, die „sich allzu weit vom Wahrscheinlichen und Möglichen entfernen“. Grob gesprochen wirft er jenen Aussagen vor, daß sie die Wahrheit verfehlen. Er formuliert es aber ein bißchen more sophisticatedly und sagt, sie entfernen sich weit vom Scheinenden und Möglichen. Nicht nur treffen sie nicht das Wirkliche, sondern sie erreichen nicht einmal die Bereiche um das Wirkliche herum - und die nennt er das „Scheinende“ und das „Mögliche“.
Mein Grazer Übersetzer hat völlig richtig übersetzt – aber die Pointe, daß er für das Wahrscheinliche, das wir aus der Lektüre der Poetik genugsam kennen, den platonischen Feindbegriff des Scheinenden, des Scheinhaften, des bloßen Scheins einsetzt, der für Aristoteles immerhin noch eine gewisse Nähe zum Wirklichen bezeichnet, kann ich hier nachtragen.
Denjenigen, die derartige Aussagen machen, wirft Aristoteles nun ein noch radikaleres Machen vor, das sich direkt auf die Gegenstände bezieht: jene machen das Ungleiche zu einem Einen, die Zweiheit zu einem Unbestimmten aus Großem und Kleinem.
Damit erklärt er das „Machen“ direkt zu einer theoretischen Tätigkeit – etwa wie „etwas zu etwas erklären“ oder „etwas mit etwas identifizieren“ – und jetzt sagt er, jenes Machen gehe in die Irre, weil es Akzidenzien mit Substraten verwechsle und das (ontologisch) geringste Akzidens auf eine Stufe mit sozusagen besseren Akzidenzien wie Quale oder Quantum hebe. Das ontologisch geringste Akzidens ist das „Relative“ – und die Hartnäckigkeit, mit der Aristoteles diese Einschätzung behauptet, verwundert, wenn man sich daran erinnert, daß das, was man als „Relation“ bezeichnet, heutzutage sowohl in der Philosophie wie auch im sogenannten Alltag einen hohen, ja einen höchsten Stellenwert genießt.
Erkundigt man sich nach dem genauen Wortsinn des Relativen, so erfährt man, daß es bei Aristoteles zwei voneinander abweichende Definitionen des Begriffs gibt. Die erste bestimmt es als ein solches, das im Hinblick auf ein anderes ist, was es ist: also das Größere oder das Doppelte oder des Halbe. Nach der zweiten Definition ist das Relative etwas, was sich selber – und nicht bloß sprachlich – zu etwas so oder so verhält, etwa Vater von jemandem sein.[3]
Aus diesem Grund ist das Relative am weitesten davon entfernt, ein Wesen sein zu können. Und es kann überhaupt nicht ein konstituierendes oder vorgängiges Element eines Wesens sein.
Es geht hier immer noch um den unaufhebbaren Primat des Wesens gegenüber den Akzidenzien, aber auch gegenüber den Elementen, aus denen sie bestehen. Es sei denn, die Elemente sind selber Wesen – dann würde es sich um eine hierarchische Ordnung zwischen verschiedenen Wesen handeln.
Doch Aristoteles konstruiert noch eine neuerliche Problematik mit der Frage, ob ewige Dinge aus Elementen bestehen können. Dann wären sie zusammengesetzt und würden über einen Stoff sowie über ein Vermögen verfügen.
Und zwar über das Vermögen, wirklich zu sein oder auch nicht. Dinge mögen noch so lang existieren, möglicherweise sogar grenzenlose Zeit. Solange sie fähig sind, auch nicht zu existieren, sind sie nicht ewig. Ewig ist nur, was nicht in der Lage ist, nicht zu existieren.
Merkwürdig die doppelte Negation, die zu dieser Bestimmung der Ewigkeit eingesetzt wird. Sie ist wohl nicht die einzige Formulierungsweise. Eine andere folgt gleich drauf: ewig ist ein Wesen nur, sofern es Verwirklichung ist. Dieses „sofern“ gibt die Bedingung an: eine präzise Formulierung.
Wird hier vielleicht der Schlußstein gesetzt, der das Gewölbe zusammenhält? Einfach gesetzt - gleichsam nackt, ohne Ornamentik, ohne Emphase?
Eine Fußnote verweist auf Buch IX sowie auf De caelo, I. Diesen Stellen sollten wir nachgehen.
Walter Seitter
[1] Siehe Artikel „noesis noeseos“, in: Aristoteles-Lexikon: 374-376.
[2] Georg Gröller: Gott ist unbewusst. Entwurf einer atheistischen Mystik (Wien-Berlin 1922): 54-63.
[3] Artikel pros ti, in Aristoteles-Lexikon: 499.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen