τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 27. Mai 2020

In der Metaphysik lesen (1059a 34 – 1060a 26)

Nur wenn man die Lektüre der Metaphysik hartnäckig fortsetzt, kommt man bis zum Buch XI. Und nur wenn man sich von dem eigenwilligen Duktus dieses Buches mit seinen wissenschaftstheoretischen Rekapitulationen nicht abschrecken lässt, liest man hier auch wirklich weiter.

Um die Reichweite der Weisheit bzw. der gesuchten Wissenschaft zu bestimmen, hat Aristoteles zwischen einer beweisenden Wissenschaft und einer anderen, also nicht beweisenden Wissenschaft unterschieden, wobei die beweisende sich auf die Akzidenzien beziehen soll, die andere auf die Wesen. In dieser Aussage stecken zwei miteinander verknüpfte Schwierigkeiten: 1. welcher Art denn die nicht beweisende Wissenschaft sein soll: ist sie eine intuitiv erfassende, betrachtende? 2. wieso die beweisende sich auf die Akzidenzien bezieht, die eher zufällig sind, und die andere auf die Wesen oder ersten Dinge.

Demnächst wird hier auch das Buch IV rekapituliert werden, was uns Gelegenheit geben wird, auf die dortige formelle Gründung der Ontologie zurückzukommen, die sich in zwei deutlich unterschiedenen Phasen vollzieht: einer deskriptiven und einer beweisenden bzw. widerlegenden.

Jetzt aber bezieht sich die Rekapitulierung auf die Ursachen-Lehre der Physik – und Aristoteles fragt, ob alle dort behandelten vier Ursachensorten auch in der gesuchten Wissenschaft abgehandelt werden. Die Frage wird für eine Ursachensorte verneint: nämlich für das „Worumwillen“ oder das „Gute“, das für die Handlungen und für das Bewegte ursächlich wirkt: als das „erste Bewegende“, das „Ziel“ – das seinen Platz nicht bei den unbewegten Dingen hat. (1059a 34 -
37).

Hier wird die Ethik ausgeschieden, weil sie der Physik zu nahe steht. Konsequenterweise wird dann auch die Physik als die Wissenschaft von den wahrnehmbaren Wesen ausgeschieden, womit die oben gestellte Frage, ob alle Wesen zu der gesuchten Wissenschaft gehören, einer Lösung nähergebracht wird. Auch die Mathematik wird ausgeschieden, da die mathematischen Dinge nicht „abgetrennt“, nicht „extra“ existieren.

Das Zusammenrücken von Ethik und Physik mag uns erstaunen – es entspricht überhaupt nicht unseren heutigen Denkgewohnheiten. Aristoteles selber identifiziert sie denn auch überhaupt nicht – immerhin hat er beiden Bereichen deutlich geschiedene Hauptwerke gewidmet. Er rückt sie nur unter dem abstrakten Gesichtspunkt der Bewegung im Sinne von Veränderung überhaupt zusammen. In der Physik (mitsamt Zoologie) geht es um naturgegebene Körper, die sich von sich aus verschiedenartig    verändern – nämlich wachsen, auch sich ernähren, sich fortbewegen – können. In der Ethik geht es um die Menschen, die all das auch so oder so können und die mit ihrem Verhalten, Agieren, Entscheiden zusätzliche Worumwillen also Ziele erschaffen und abschaffen.

Daß nichtmenschliche und menschliche Akteure neben- und mit- und gegeneinander agieren, dürfte seit dem späten 20. Jahrhundert nach Christus nicht mehr unbekannt sein. Die triumphalistische Formel von der „Krone der Schöpfung“ hat vor kurzem eine Zwillingsformel an die Seite gestellt bekommen, die doch etwas anders klingt: „Anthropozän“.

All dem gegenüber scheint die jetzt wieder einmal gesuchte Wissenschaft ihre eigene Objekt-Orientierung etwas anders zu suchen – und sie sucht sie unter dem Suchwort „Prinzip“. Gibt es noch ein anders, ein verschiedenes Wesen?

Da die wahrnehmbaren und veränderlichen Wesen uns bekannter sind als das Wesen, das ein „eigentlicheres“, ein prinzipielleres also herrschenderes Prinzip (1060a 21) sein soll, überlegt dieser merkwürdige Text des Buches XI, wo in aller Welt man noch herumsuchen könnte. Soll man es eher bei den Menschen oder den Pferden (die beiden „wohnen“ in aller Regel beisammen) oder aber bei den anderen Lebewesen (also eher anderswo) suchen oder überhaupt woanders, bei den unbeseelten Dingen? (1060a 16). Das wäre also die kosmographische oder topologische Suchbewegung: wo in aller Welt? Diese Suchweise wird hier gar nicht weiter verfolgt. Irgendwann später dann aber doch.

Diese sucherische Annäherung an die wahrnehmbaren also körperlichen Dinge wird von Aristoteles so ernstgenommen, dass er meint, „das jetzt gesuchte Prinzip könne nicht getrennt von den Körpern“ zu finden sein (1060a 19). Eine Aussage, die letzten Endes zu einem verblüffenden Suchergebnis führen sollte (aber das wird noch dauern – der Aufschub gehört zum Charakter dieser aporetisch gebrochenen Suche).

Welches Prinzip gehört zu den Körpern als solchen? Natürlich könnte man jetzt tautologisierend die „Körperlichkeit“ erfinden. Aber so tautologisch geht es bei Aristoteles nicht zu: es ist der Stoff.

Aber den Stoff gibt es nicht der Verwirklichung nach sondern nur dem Vermögen nach, d. h. er existiert nicht im eigentlichen Sinn. Was wir an jedem besseren Teelöffel sehen können oder jedenfalls sprechen wir so vom Teelöffel, dass wir sagen: der Edelstahl als solcher existiert da nicht, er immaniert dem Teelöffel. Er ist da nur als Besandteil. Scholastisch gespochen: als ens quo; der Teelöffel ist da als ens quod.

So ist also der Stoff für einen Moment in die Suchfrage nach dem prinzipiellsten Prinzip aufgenommen worden und gleich wieder verabschiedet worden. Mag sein, dass andere Denker da anders entschieden haben. Allerdings beschränkt sich der aristotelsiche Stoff-Begriff nicht auf Erz oder Stahl, er impliziert frühere Stoff-Stufen bis hin zur materia prima und die existiert gar nicht.

Der komplementäre aristotelische Begriff für Bestandteil der Dinge ist die Form. Jedes uns bekannte, existierende Ding besteht aus Stoff und Form, welche Lehre dann viel später „Hylomorphismus“ genannt worden ist. Aristoteles zieht folglich auch die Form als mögliches geeignetes Prinzip in Erwägung. Doch ausgerechnet der Form spricht er hier Vergänglichkeit zu – was er keineswegs immer tut. Hier haben wir ein Beispiel dafür, dass auch Aussagen, und seien sie von Aristoteles selber, vergänglich, veränderlich, auswechselbar sind. Auf diese Weise beraubt er sich hier der Chance, seine Suche endlich erfolgreich abschließen zu können.

Für uns Heutige ist selbstversändlich die Teelöffel-Form auch nicht ewig. Jedenfalls halten wir sie für irgendwann kulturell entwickelt – ob sie kulturell auch wieder „überholt“ werden könnte, sei dahingestellt.

Der Form könnte Aristoteles auch aus einem anderen Grund die Eignung zum prinzipiellsten Prinzip absprechen: ebenso wie der Stoff ist sie nur Bestandteil oder ens quo. Da liegt die Differenz zur platonischen Ideenlehre.

Mit Stoff oder Form hat Aristoteles also seine Suche wieder nicht abschließen können. Doch gibt er sie nicht auf, indem er erklärt, so ein ewiges abgetrenntes Wesen sei nicht aufzufinden – egal ob man im Kosmos herumschaut oder bei den naheliegenden Bestandteilen der Dinge. Eine derartige Kapitulation ist wahrscheinlich von anderen Denkern gelegentlich erklärt und vielleicht sogar als Sieg gefeiert worden – Sieg über archaische, prinzipiengläubige Zeiten.

Anders Aristoteles: es wäre absurd, wenn es so ein Wesen nicht gäbe, es wird ja von fast allen der begabtesten oder begnadetsten Denker als ein Seiendes gesucht. Wohlgemerkt gesucht. Hier äußert er sich im Sinne eines gemäßigten Traditionalismus, dem er jedoch auch eine sachliche Dimension unterschiebt; „Denn wie sollte Ordnung herrschen, wenn es nicht etwas Ewiges, Abgetrenntes und Bleibendes gäbe?“ (1060a 26)

Also muß die Suche weitergehen. Die Aporien zwingen zum Weitersuchen – aber nur unter der Voraussetzung eines primären Wollens (das nicht von blindem Fanatismus geleitet sein sollte).

Walter Seitter

Mittwoch, 20. Mai 2020

In der Metaphysik lesen (1059a 18 – 33)

Die Bücher VII, VIII, IX, X waren durchgehend „objekt-orientiert“ und näherhin befassten sie sich mit ontologischen Bestimmungen: Wesen, Vermögen-Verwirklichung, wahr-falsch, ein oder ganz.

Im Buch XI wird plötzlich ein anderer Ton angeschlagen:

„Daß die Weisheit eine Wissenschaft von den Prinzipien ist, ergibt sich klar aus den ersten Darlegungen, in denen nach dem von den anderen über die Prinzipien Gesagten gefragt worden ist.“ (1059a 18f.)

Ein reflexiver, formalistischer und gleichzeitig „archäologischer“ Ton, der vor die Etablierung und Abhandlung der Ontologie-Achsen hinausgreift. Der Text greft direkt ins Buch III hinein – das Buch der Aporien, das hier im Laufe des Jahres 2013 gelesen worden ist, wie man in meinem Aristotels-Buch auf den Seiten 56 bis 88 nachlesen kann. Beim Nachlesen wird man bemerken, dass diese Lektüre eine vielfach unterbrochene war: unterbrochen durch Bezugnahmen auf Kollegen wie Peter Berz, Friedrich Kittler, mehrere Berlin-Besuche sowie einen Vortrag in Aix-en-Provence.

Unterbrechungen, die die Sorgfalt der Lektüre wohl nicht gefördert haben – in gewissem Sinn haben sie dennoch den „Sinn“ der Aporien befördert. Denn der liegt darin, das Vorankommen in der „gesuchten Wissenschaft“ zu erschweren, zu verzögern; jedenfalls vorschnelle Lösungen zu vermeiden. (Siehe 995a 24 - 995b 2). Die Aporien als „Aufhalter“.

„Es könnte jemand aporetisch hin und her überlegen, ob man die Weisheit als eine einzige Wissenschaft auffassen muß oder als mehrere. Wenn die Weisheit eine enzige Wissenschaft ist, muß man bedenken, dass mehrere Gegenstände einer einzigen Wissenschaft immer Gegensätze sind, die Prinzipien jedoch nicht Gegensätze sind.“ ((1059 a 20 – 23).

Das heißt: Prinzipien, die zueinander Gegensätze sind, sind eng miteinander verwandt – Wittgenstein würde von „Familienähnlichkeit“ sprechen. Das mag uns seltsam vorkommen, dass Gegensätzlichkeit Verwandtschaft anzeigt. Ich erkläre es jetzt einmal so: wenn sich etwas von A nur durch das Vorzeichen „nicht“ absetzt, dann bleibt es A ganz nahe, auch wenn es sich einbildet, doch etwas ganz Anderes (womöglich mit großem A) zu sein.

Dieses „nicht“ war übrigens der kleine Trick der hegelschen Philosophie, mit dem diese behauptete, der Monotonie des Einen zu entkommen.

Aristoteles hingegen: wenn es mehrere Prinzipien gibt, dann sollen sich die nicht wie A und Nicht-A voneinander unterscheiden, sondern wie A und B oder wie A und L. Die Pluralität, die Diversität der Prinzipien geht weiter.

Daher können mehrere und qualitativ unterschiedliche Prinzipien nur von mehreren Wissenschaften erfasst und studiert werden. Aber von welchen? Und was bleibt vom Projekt einer gesuchten Wissenschaft?

Bleibt zunächst die Frage: welche Sorten von Prinzipien gibt es überhaupt? Hier nennt Aristoteles nur eine Sorte: „Beweisprinzipien“ – das sind Sätze oder Annahmen, von denen Beweise ausgehen müssen, die aber selber nicht bewiesen werden können – womit derartige Prinzipien selber in die Nähe von Aporien geraten.

Der hier schon öfter zitierte amerikanische Metaphysik-Übersetzer Joe Sachs schreibt in einem winzigen Kommentar, dass im Buch XI eine Reihe von Gründen durchgenommen und widerlegt werden, die glauben machen könnten, dass in den Dingen letztlich „eine Art von Unordnung“ herrsche.[1]

Des weiteren fragt der Text, ob die Weisheit Wissenschaft von allen Wesen ist oder nicht. Hier ist wohl nicht unterstellt, dass die Wesen eine andere Sorte von Prinzipien darstellen. Es wird vorausgesetzt, dass es verschiedene Sorten von Wesen gibt. Einige Zeilen später wird die Frage präzisiert und neu gestellt. Hier wird nur der obige Einwand wiederholt: es sei unklar, wie eine einzige Wissenschaft die Vielfalt aller Wesen umfassen können soll.

Als Zwischenbemerkung sei hier eingeschoben, dass der Text sich inmitten einer Gründungssituation befindet, zu der er selber gehört: Gründung einer irgendwie neuen und höheren Wissenschaft zusätzlich zu schon bestehenden Wissenschaften – von denen mindestens die Mathematik bereits etabliert ist.

Es folgt die Frage, ob diese neue Wissenschaft (die allerdings den alten Ehrentitel „Weisheit“ bekommt) nicht nur die Wesen sondern auch die Akzidenzien erfassen soll.

Eine verblüffende Frage, da die Akzidenzien, wie ihr Name sagt, von den „Prinzipien“, welche wohl die ersten Objekte der in Frage stehenden Wissenschaft sind, am weitesten entfernt sind.

Und der Text liefert noch eine Überraschung: ausgerechnet die Akzidenzien werden durch Beweisführung erschlossen, nicht die Wesen. „Wenn die Weisheit eine beweisende Wissenschaft ist, so handelt sie von den Akzidenzien, ist sie aber eine Wissenschaft von den ersten Dingen, so handelt sie von den Wesen.“ (1059a 33)

Dieser Text, mehr oder weniger eine Wiederholung aus dem Buch III, tut so, als hätten die ausführlichen Ausführungen über die Wesen in den Büchern VII und VIII noch eine Menge Unklarheit übriggelassen.

Walter Seitter






[1] Op. cit.: 205, Fn. 2.

Samstag, 16. Mai 2020

In der Metaphysik lesen (1058b 26 – 1059a 17)

In diesen Tagen wird viel an das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert und im Fernsehen erfahre ich einiges darüber, woran ich mich eigentlich auch selber erinnern könnte, zum Beispiel darüber, dass damals nicht wenige Menschen in der amerikanischen Besatzungszone zum ersten Mal schwarze Menschen gesehen haben. Wenn man Aristoteles liest, dann ist das auch eine Art Fernsehen: man sieht, was vor über 2000 Jahren in Griechenland geschrieben worden ist. In der sogenannten Metaphysik findet sich im Buch X die S†elle, in der geschrieben steht, dass es nicht nur Weiße sondern auch Schwarze gibt. Und genau an derselben Stelle ist die Rede davon, dass es Männer und Frauen gibt. Diese verschiedenen Menschensorten (die sich natürlich überkreuzen, sodaß es mänliche Weiße und weibliche Weiße, männliche Schwarze und weibliche Schwarze gibt) bilden jedoch keine Arten, sie gehören alle zur Spezies Mensch und in dieser bilden sie interindividuelle, zwischenmenschliche Unterschiede.

Die Hautfarben hat Aristoteles immer als Akzidenzien bezeichnet, so auch hier (1058b 12). Die beiden Geschlechter bezeichnet er nicht als Akzidenzien, sondern betont:
sie „existieren als Lebewesen“ (zoon) (1058b 33). Mit dem „als“ bindet er diesen individualisierenden Unterschied an die Gattung zurück, wie er das oben mit dem artbildenen Unterschied (zwischen Mensch und Pferd) getan hatte.


Wir können uns natürlich fragen, wieso am Ende dieses Buches X diese individualisierenden Menschensortenunterschiede in einer zwar nur knappen aber doch prägnanten Weise thematisiert werden.

Aber der allerletzte Abschnitt von Buch X geht über diese Bestimmungen hinaus. Er steigt sozusagen auf der Arbor porphyriana zu höheren Gattungen hinauf. Zu den beiden Gattungen „vergänglich“ und „unvergänglich“ (1059a 26ff.), die kontradiktorische Gegenteile bilden, sodaß sie jedwedes, das ist, unter sich aufteilen. Alles, was ist, ist entweder vergänglich oder unvergänglich – und es ist das jeweils notwendigerweise.

Es handelt sich um zwei hoch positionierte Gattungen – für uns allerdings nicht sehr einsichtige. Aristoteles macht gar keine Angaben darüber, welche Entitäten vergänglich bzw. unvergänglich sind. Daher schaue ich im modernen Aristoteles-Lexikon nach, was dort unter „aidion/ewig“ verzeichnet ist. [1]

Alles Ewige ist ungeworden, unvergänglich und notwendig; Notwendigkeit, Wirklichkeit und Möglichkeit fallen in ihm zusammen. Unvergängliche Wesen sind die unbewegten und unkörperlichen Bewegursachen der Himmelskörper und vor allem das erste Bewegende, das Tätigkeit, Leben, Geist ist. Aber auch die Himmelskörper sind ewig und mit ihnen der Kosmos als Gesamtheit. Nicht ewig sind die irdischen Wesen – wohl aber deren Artformen und speziell der Geist, der sich mit der menschlichen Seele verbindet. Ewig sind auch die mathematischen Formen. Ebenso die Bewegung des äußeren Himmels sowie die Zeit (!).

Mit dieser Aufschlüsselung gewinnen die beiden Gattungen an Verständlichkeit und es ergibt sich ein Vorblick auf die aristotelische Theologie, die im Buch XII geliefert werden wird. Aber im Abschnitt 10 von Buch X wird nur betont, dass der Abstand zwischen den Gattungen viel größer ist als derjenige zwischen den Spezies und derjenige zwischen den Individuen.

Intergenerischer, interspezifischer, interindividueler Abstand stehen am Schluß von Buch X. Inwiefern haben sie mit dem Einen zu tun?


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Den Hinweisen, die der Übersetzer der Reclam-Ausgabe jedem Abschnitt des Buches XI vorangestellt hat, ist zu entnehmen, dass dieses Buch aus Wiederholungen oder Paraphrasen von früheren Büchern der Metaphysik oder der Physik besteht. Damit scheint sich dieses Buch aber nicht radikal von der Schreibweise des Gesamtwerks abzusetzen, dessen Zusammenstückelungscharakter mir schon öfter aufgefallen ist und die das Lesen nicht immer leicht oder angenehm gemacht hat. Sie hat aber zumindest einen Vorteil: sie lässt erwarten, dass zu einem schon behandelten Thema noch etwas, vielleicht etwas Neues gesagt wird, das sich nicht „logisch“ aus vorstehenden Aussagen ergibt.

Der Anfang von Buch XI erweckt den Eindruck, dass er eine völlig „neue“, in Wirklichkeit aber alte Ebene einführt: mit welchen Tätigkeiten dieses Werk zustandegekommen ist, welche Denktätigkeiten immer noch in den einzelnen Sätzen drinnenstecken: einwenden, sich fragen, Weisheit, Wissenschaft, mehrere Wissenschaften, annehmen, beweisen, betrachten ...

Walter Seitter





[1] Otto Höffe /Hg.). Aristoteles Lexikon (Stuttgart 2005): 9f.

Mittwoch, 6. Mai 2020

Zur Krone der Schöpfung


Wolfgang Koch hat aus meinem letzten Protokoll die Klammerbemerkung 

(so etwas wie eine „Krone der Schöpfung“ kennt Aristoteles nicht)

herausgegriffen und in Frage gestellt.

Diese Redensart geht auf ein Lehrstück zurück, das unter dem Namen Scala naturae bekannt geworden ist und die feinen Abstufungen aufzeigt, die vom  Unbelebten zum Belebtem einschließlich des Menschen führen. Wolfgang Koch führt zwei aristotelische Textpassagen (Historia animalium (588b 4 -589a 9) und De partibus animalium (681a 10) sowie einen Aufsatz von Otfried Höffe an, der unter dem Titel „Der Mensch – die Krone der Schöpfung?“ im Internet erschienen ist. Darin werden die theologischen Implikationen der Redensart abgewiesen.

Zuletzt haben wir im Abschnitt 8 von Buch X gelesen, daß
Aristoteles die artbildenden Unterschiede zwischen den beiden Spezies Mensch und Pferd gegenüber der Gattung Lebewesen zu einem Gattungsunterschied umbenennt, der die Gattung selber verschieden macht.

Die beiden Spezies werden also tiefer voneinander geschieden – es werden ihnen beinahe zwei Animalitäten zugeschrieben.

Diese Problematik ist ein schwieriger Sonderfall innerhalb eines anderen (post)aristotelischen Lehrstücks – genannt „Arbor porphyriana“.

Da geht es nicht um die Hierarchie der natürlichen Wesen sondern um die logische Aufstufung vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Individuum über die differentia specifica zur Spezies und vom genus proximum bis zum genus summum.  

 Zweierlei Schemata für die „Ordnung der Dinge“

Die Gattung, innerhalb derer verschiedene Spezies (Plural!) nebeneinander stehen, lässt sich als supraspezifische Ebene bezeichnen. Hingegen bilden die Individuen, die zu ein und derselben Spezies gehören, die subspezifische Ebene. Sie tragen auch Eigenschaften, durch die sich einzelne Individuen voneinander unterscheiden können.

Und da sind die Farben einzusetzen, deren Polarität (zwischen Weiß und Schwarz) im Abschnitt 7 thematisert worden ist.

Nun geht es darum, wie die Farben als Eigenschaften den Menschen zugeschrieben werden und ob sie etwa eine Rolle für die Ordnung der Menschen spielen.

Die Eigenschaft „weiß“ ist uns schon sehr oft begegnet und wir haben uns beispielsweie am 25. Jänner 2017 gefragt, ob damit die menschliche Hautfarbe gemeint ist, die konventionell den Europäern zugeschrieben wird - oder etwa irgendeine andere Art von Blässe. „Weiß“ und „gebildet“ sind die beiden Eigenschaften, die Aristoteles den Menschen quasi automatisch zuspricht – und zwar als Akzidenzien. Er betont immer wieder, dass sie nicht wesenhaft sind. Das müsste eigentlich heißen, dass Menschen auch eine andere Hautfarbe haben können, dass es also weiße und andersfarbige Menschen gibt und sie sich dadurch voneinander unterscheiden können.

Innerhalb der Metaphysik spricht Aristoteles erst hier ausdrücklich davon, dass es weiße und schwarze Menschen gibt. Und er stellt klar, dass es beim weißen Menschen gegenüber dem schwarzen Menschen keinen Unterschied der Art nach gibt, auch dann nicht, wenn man jeden mit einem besonderen Ausdruck bezeichnet. „... deshalb sind ja auch die einzelnen Menschen nicht Arten des Menschen ...“ (1058b 4-7)

Es wird angedeutet, dass die Bezeichungen „weiß“ und „schwarz“, auch wenn sie rein denotativ gemeint sind, schwerlich konnotative, also ästimative Bedeutungen vermeiden können, zumal sie ja zwischen Selbst- und Fremdbezeichnungen oszillieren müssen. Sprachliche Bezeichnungen können nicht so natürlich sein wie die bezeichneten Eigenschaften vielleicht sind. Vor allem bei der Bezeichnung „weiß“ ist unübersehbar, dass sie rein deskriptiv fast immer eine verfälschende Schematisierung darstellt. Parallel zu dieser Benennung kann die erscheinende Hautfarbe durch Körperverhalten oder Kosmetik in Richtung „weiß“ befördert werden oder aber im Gegenteil entsprechend einer im 20. Jahrhundert aufgekommenen Mode in Richtung „braun“ modifiziert werden.

Akzidenzielle Bestimmungen machen Unterschiede zwischen Individuen, also interindividuelle oder zwischenmenschliche Unterschiede und sie bilden auch dann keine Arten, wenn sie zu homogenen Gruppen, Sorten oder Rassen zusammengefasst werden. Was ja bekanntlich in der modernen Politik sehr wirkmächtig geworden ist.

(In einer großen Klammer komme ich jetzt auf das zweite Akzidens zu sprechen, welches von Aristoteles in großer Regelmäßigkeit dem Menschen zugesprochen wird: die Eigenschaft „gebildet“, wörtlicher „musisch“. Im Unterschied zu „weiß“ offensichtoich keine natürliche Eigenschaft sondern ein Ergebnis kultureller Anstrengung – die individuell, sozial, auch politisch geleistet, gefördert oder aber hintertrieben wird. Diese Eigenschaft wird auch von Aristoteles positiv geschätzt, auch wenn die knappen Erwähnungen in der Metaphysik das kaum erkennen lassen.

Die menschlichen Individuen unterscheiden sich voneinander auch dadurch, dass sie mehr oder weniger oder vielleicht gar nicht gebildet sind. Aristoteles spricht jedoch hier nicht davon, dass gebildete und ungebildete Menschen miteinander oder nebeneinander koexistieren und damit unterschiedliche Menschensorten bilden. Jedenfalls würde er diese nicht als Arten betrachten; die Menschenart übergreift alle solche akzidenziellen Unterscheidungen.

Den Kontrast zwischen „gebildet“ und „ungebildet“ situiert er in der Schrift Über Werden und Vergehen innerhalb eines Individuums, von dem er apodiktisch-aphoristisch berichtet: „Der gebildete Mensch ist vergangen, der ungebildete Mensch ist entstanden, doch der Mensch besteht als dasselbe weiter.“ (De generatione 319b 6f.) Das Ergebnis dieses inversen Bildungsfalles wird sein, dass es dann einen Ungebildeten mehr gibt.)

Während die vielen flüchtigen Andeutungen vom weißen und vom gebildeten Menschen den Eindruck erwecken konnten, Aristoteles halte sowohl diese sogenannte weiße Hautfarbe wie auch das erfreuliche Erziehungsresultat für selbstverständlich mit dem Wesen des Menschen gegeben, so erfahren wir nun, dass er die akzidenziellen Unterschiede zwischen den Individuen und sogar innerhalb der Individuen nicht übersieht.

Im Abschnitt 9 von Buch X kommt Aristoteles noch auf einen anderen akzidenziellen Unterschied zwischen den Menschen zu sprechen, den er jedenfalls in der Metaphysik nur selten thematisiert - zuletzt in 1030b 20-27.

In 1058a 29ff. schreibt er, es könnte jemand unschlüssig sein darüber, weshalb sich die Frau vom Manne nicht der Art nach unterscheide. Das klingt fast so, als würde irgendein Anschein oder irgendeine Annahme eher dafür sprechen. Und ebenso die Tatsache, dass der Unterschied zwischen dem weiblichen und dem männlichen Lebewesen ein Unterschied des Lebewesens an sich ist. Männlich und weiblich kommen dem Lebewesen zu, insofern es Lebewesen ist – ganz anders als weiß und schwarz.

Es fällt nicht schwer zu verstehen, wieso ausgerechnet diese akzidenziellen Bestimmungen, die man heute die sexuellen nennt, dem Lebewesen an sich zukommen – also der Gattung. Und es lässt sich feststellen, dass sie – anders als die beiden anderen hier genannten Menscheneigenschaften – drei porphyrianische Ebenen nicht nur berühren sondern tragen und gestalten: die individuelle, die spezifische, die generische.


Walter Seitter