τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 6. Mai 2020

Zur Krone der Schöpfung


Wolfgang Koch hat aus meinem letzten Protokoll die Klammerbemerkung 

(so etwas wie eine „Krone der Schöpfung“ kennt Aristoteles nicht)

herausgegriffen und in Frage gestellt.

Diese Redensart geht auf ein Lehrstück zurück, das unter dem Namen Scala naturae bekannt geworden ist und die feinen Abstufungen aufzeigt, die vom  Unbelebten zum Belebtem einschließlich des Menschen führen. Wolfgang Koch führt zwei aristotelische Textpassagen (Historia animalium (588b 4 -589a 9) und De partibus animalium (681a 10) sowie einen Aufsatz von Otfried Höffe an, der unter dem Titel „Der Mensch – die Krone der Schöpfung?“ im Internet erschienen ist. Darin werden die theologischen Implikationen der Redensart abgewiesen.

Zuletzt haben wir im Abschnitt 8 von Buch X gelesen, daß
Aristoteles die artbildenden Unterschiede zwischen den beiden Spezies Mensch und Pferd gegenüber der Gattung Lebewesen zu einem Gattungsunterschied umbenennt, der die Gattung selber verschieden macht.

Die beiden Spezies werden also tiefer voneinander geschieden – es werden ihnen beinahe zwei Animalitäten zugeschrieben.

Diese Problematik ist ein schwieriger Sonderfall innerhalb eines anderen (post)aristotelischen Lehrstücks – genannt „Arbor porphyriana“.

Da geht es nicht um die Hierarchie der natürlichen Wesen sondern um die logische Aufstufung vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Individuum über die differentia specifica zur Spezies und vom genus proximum bis zum genus summum.  

 Zweierlei Schemata für die „Ordnung der Dinge“

Die Gattung, innerhalb derer verschiedene Spezies (Plural!) nebeneinander stehen, lässt sich als supraspezifische Ebene bezeichnen. Hingegen bilden die Individuen, die zu ein und derselben Spezies gehören, die subspezifische Ebene. Sie tragen auch Eigenschaften, durch die sich einzelne Individuen voneinander unterscheiden können.

Und da sind die Farben einzusetzen, deren Polarität (zwischen Weiß und Schwarz) im Abschnitt 7 thematisert worden ist.

Nun geht es darum, wie die Farben als Eigenschaften den Menschen zugeschrieben werden und ob sie etwa eine Rolle für die Ordnung der Menschen spielen.

Die Eigenschaft „weiß“ ist uns schon sehr oft begegnet und wir haben uns beispielsweie am 25. Jänner 2017 gefragt, ob damit die menschliche Hautfarbe gemeint ist, die konventionell den Europäern zugeschrieben wird - oder etwa irgendeine andere Art von Blässe. „Weiß“ und „gebildet“ sind die beiden Eigenschaften, die Aristoteles den Menschen quasi automatisch zuspricht – und zwar als Akzidenzien. Er betont immer wieder, dass sie nicht wesenhaft sind. Das müsste eigentlich heißen, dass Menschen auch eine andere Hautfarbe haben können, dass es also weiße und andersfarbige Menschen gibt und sie sich dadurch voneinander unterscheiden können.

Innerhalb der Metaphysik spricht Aristoteles erst hier ausdrücklich davon, dass es weiße und schwarze Menschen gibt. Und er stellt klar, dass es beim weißen Menschen gegenüber dem schwarzen Menschen keinen Unterschied der Art nach gibt, auch dann nicht, wenn man jeden mit einem besonderen Ausdruck bezeichnet. „... deshalb sind ja auch die einzelnen Menschen nicht Arten des Menschen ...“ (1058b 4-7)

Es wird angedeutet, dass die Bezeichungen „weiß“ und „schwarz“, auch wenn sie rein denotativ gemeint sind, schwerlich konnotative, also ästimative Bedeutungen vermeiden können, zumal sie ja zwischen Selbst- und Fremdbezeichnungen oszillieren müssen. Sprachliche Bezeichnungen können nicht so natürlich sein wie die bezeichneten Eigenschaften vielleicht sind. Vor allem bei der Bezeichnung „weiß“ ist unübersehbar, dass sie rein deskriptiv fast immer eine verfälschende Schematisierung darstellt. Parallel zu dieser Benennung kann die erscheinende Hautfarbe durch Körperverhalten oder Kosmetik in Richtung „weiß“ befördert werden oder aber im Gegenteil entsprechend einer im 20. Jahrhundert aufgekommenen Mode in Richtung „braun“ modifiziert werden.

Akzidenzielle Bestimmungen machen Unterschiede zwischen Individuen, also interindividuelle oder zwischenmenschliche Unterschiede und sie bilden auch dann keine Arten, wenn sie zu homogenen Gruppen, Sorten oder Rassen zusammengefasst werden. Was ja bekanntlich in der modernen Politik sehr wirkmächtig geworden ist.

(In einer großen Klammer komme ich jetzt auf das zweite Akzidens zu sprechen, welches von Aristoteles in großer Regelmäßigkeit dem Menschen zugesprochen wird: die Eigenschaft „gebildet“, wörtlicher „musisch“. Im Unterschied zu „weiß“ offensichtoich keine natürliche Eigenschaft sondern ein Ergebnis kultureller Anstrengung – die individuell, sozial, auch politisch geleistet, gefördert oder aber hintertrieben wird. Diese Eigenschaft wird auch von Aristoteles positiv geschätzt, auch wenn die knappen Erwähnungen in der Metaphysik das kaum erkennen lassen.

Die menschlichen Individuen unterscheiden sich voneinander auch dadurch, dass sie mehr oder weniger oder vielleicht gar nicht gebildet sind. Aristoteles spricht jedoch hier nicht davon, dass gebildete und ungebildete Menschen miteinander oder nebeneinander koexistieren und damit unterschiedliche Menschensorten bilden. Jedenfalls würde er diese nicht als Arten betrachten; die Menschenart übergreift alle solche akzidenziellen Unterscheidungen.

Den Kontrast zwischen „gebildet“ und „ungebildet“ situiert er in der Schrift Über Werden und Vergehen innerhalb eines Individuums, von dem er apodiktisch-aphoristisch berichtet: „Der gebildete Mensch ist vergangen, der ungebildete Mensch ist entstanden, doch der Mensch besteht als dasselbe weiter.“ (De generatione 319b 6f.) Das Ergebnis dieses inversen Bildungsfalles wird sein, dass es dann einen Ungebildeten mehr gibt.)

Während die vielen flüchtigen Andeutungen vom weißen und vom gebildeten Menschen den Eindruck erwecken konnten, Aristoteles halte sowohl diese sogenannte weiße Hautfarbe wie auch das erfreuliche Erziehungsresultat für selbstverständlich mit dem Wesen des Menschen gegeben, so erfahren wir nun, dass er die akzidenziellen Unterschiede zwischen den Individuen und sogar innerhalb der Individuen nicht übersieht.

Im Abschnitt 9 von Buch X kommt Aristoteles noch auf einen anderen akzidenziellen Unterschied zwischen den Menschen zu sprechen, den er jedenfalls in der Metaphysik nur selten thematisiert - zuletzt in 1030b 20-27.

In 1058a 29ff. schreibt er, es könnte jemand unschlüssig sein darüber, weshalb sich die Frau vom Manne nicht der Art nach unterscheide. Das klingt fast so, als würde irgendein Anschein oder irgendeine Annahme eher dafür sprechen. Und ebenso die Tatsache, dass der Unterschied zwischen dem weiblichen und dem männlichen Lebewesen ein Unterschied des Lebewesens an sich ist. Männlich und weiblich kommen dem Lebewesen zu, insofern es Lebewesen ist – ganz anders als weiß und schwarz.

Es fällt nicht schwer zu verstehen, wieso ausgerechnet diese akzidenziellen Bestimmungen, die man heute die sexuellen nennt, dem Lebewesen an sich zukommen – also der Gattung. Und es lässt sich feststellen, dass sie – anders als die beiden anderen hier genannten Menscheneigenschaften – drei porphyrianische Ebenen nicht nur berühren sondern tragen und gestalten: die individuelle, die spezifische, die generische.


Walter Seitter

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