τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 16. Mai 2020

In der Metaphysik lesen (1058b 26 – 1059a 17)

In diesen Tagen wird viel an das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert und im Fernsehen erfahre ich einiges darüber, woran ich mich eigentlich auch selber erinnern könnte, zum Beispiel darüber, dass damals nicht wenige Menschen in der amerikanischen Besatzungszone zum ersten Mal schwarze Menschen gesehen haben. Wenn man Aristoteles liest, dann ist das auch eine Art Fernsehen: man sieht, was vor über 2000 Jahren in Griechenland geschrieben worden ist. In der sogenannten Metaphysik findet sich im Buch X die S†elle, in der geschrieben steht, dass es nicht nur Weiße sondern auch Schwarze gibt. Und genau an derselben Stelle ist die Rede davon, dass es Männer und Frauen gibt. Diese verschiedenen Menschensorten (die sich natürlich überkreuzen, sodaß es mänliche Weiße und weibliche Weiße, männliche Schwarze und weibliche Schwarze gibt) bilden jedoch keine Arten, sie gehören alle zur Spezies Mensch und in dieser bilden sie interindividuelle, zwischenmenschliche Unterschiede.

Die Hautfarben hat Aristoteles immer als Akzidenzien bezeichnet, so auch hier (1058b 12). Die beiden Geschlechter bezeichnet er nicht als Akzidenzien, sondern betont:
sie „existieren als Lebewesen“ (zoon) (1058b 33). Mit dem „als“ bindet er diesen individualisierenden Unterschied an die Gattung zurück, wie er das oben mit dem artbildenen Unterschied (zwischen Mensch und Pferd) getan hatte.


Wir können uns natürlich fragen, wieso am Ende dieses Buches X diese individualisierenden Menschensortenunterschiede in einer zwar nur knappen aber doch prägnanten Weise thematisiert werden.

Aber der allerletzte Abschnitt von Buch X geht über diese Bestimmungen hinaus. Er steigt sozusagen auf der Arbor porphyriana zu höheren Gattungen hinauf. Zu den beiden Gattungen „vergänglich“ und „unvergänglich“ (1059a 26ff.), die kontradiktorische Gegenteile bilden, sodaß sie jedwedes, das ist, unter sich aufteilen. Alles, was ist, ist entweder vergänglich oder unvergänglich – und es ist das jeweils notwendigerweise.

Es handelt sich um zwei hoch positionierte Gattungen – für uns allerdings nicht sehr einsichtige. Aristoteles macht gar keine Angaben darüber, welche Entitäten vergänglich bzw. unvergänglich sind. Daher schaue ich im modernen Aristoteles-Lexikon nach, was dort unter „aidion/ewig“ verzeichnet ist. [1]

Alles Ewige ist ungeworden, unvergänglich und notwendig; Notwendigkeit, Wirklichkeit und Möglichkeit fallen in ihm zusammen. Unvergängliche Wesen sind die unbewegten und unkörperlichen Bewegursachen der Himmelskörper und vor allem das erste Bewegende, das Tätigkeit, Leben, Geist ist. Aber auch die Himmelskörper sind ewig und mit ihnen der Kosmos als Gesamtheit. Nicht ewig sind die irdischen Wesen – wohl aber deren Artformen und speziell der Geist, der sich mit der menschlichen Seele verbindet. Ewig sind auch die mathematischen Formen. Ebenso die Bewegung des äußeren Himmels sowie die Zeit (!).

Mit dieser Aufschlüsselung gewinnen die beiden Gattungen an Verständlichkeit und es ergibt sich ein Vorblick auf die aristotelische Theologie, die im Buch XII geliefert werden wird. Aber im Abschnitt 10 von Buch X wird nur betont, dass der Abstand zwischen den Gattungen viel größer ist als derjenige zwischen den Spezies und derjenige zwischen den Individuen.

Intergenerischer, interspezifischer, interindividueler Abstand stehen am Schluß von Buch X. Inwiefern haben sie mit dem Einen zu tun?


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Den Hinweisen, die der Übersetzer der Reclam-Ausgabe jedem Abschnitt des Buches XI vorangestellt hat, ist zu entnehmen, dass dieses Buch aus Wiederholungen oder Paraphrasen von früheren Büchern der Metaphysik oder der Physik besteht. Damit scheint sich dieses Buch aber nicht radikal von der Schreibweise des Gesamtwerks abzusetzen, dessen Zusammenstückelungscharakter mir schon öfter aufgefallen ist und die das Lesen nicht immer leicht oder angenehm gemacht hat. Sie hat aber zumindest einen Vorteil: sie lässt erwarten, dass zu einem schon behandelten Thema noch etwas, vielleicht etwas Neues gesagt wird, das sich nicht „logisch“ aus vorstehenden Aussagen ergibt.

Der Anfang von Buch XI erweckt den Eindruck, dass er eine völlig „neue“, in Wirklichkeit aber alte Ebene einführt: mit welchen Tätigkeiten dieses Werk zustandegekommen ist, welche Denktätigkeiten immer noch in den einzelnen Sätzen drinnenstecken: einwenden, sich fragen, Weisheit, Wissenschaft, mehrere Wissenschaften, annehmen, beweisen, betrachten ...

Walter Seitter





[1] Otto Höffe /Hg.). Aristoteles Lexikon (Stuttgart 2005): 9f.

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