τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 27. Mai 2020

In der Metaphysik lesen (1059a 34 – 1060a 26)

Nur wenn man die Lektüre der Metaphysik hartnäckig fortsetzt, kommt man bis zum Buch XI. Und nur wenn man sich von dem eigenwilligen Duktus dieses Buches mit seinen wissenschaftstheoretischen Rekapitulationen nicht abschrecken lässt, liest man hier auch wirklich weiter.

Um die Reichweite der Weisheit bzw. der gesuchten Wissenschaft zu bestimmen, hat Aristoteles zwischen einer beweisenden Wissenschaft und einer anderen, also nicht beweisenden Wissenschaft unterschieden, wobei die beweisende sich auf die Akzidenzien beziehen soll, die andere auf die Wesen. In dieser Aussage stecken zwei miteinander verknüpfte Schwierigkeiten: 1. welcher Art denn die nicht beweisende Wissenschaft sein soll: ist sie eine intuitiv erfassende, betrachtende? 2. wieso die beweisende sich auf die Akzidenzien bezieht, die eher zufällig sind, und die andere auf die Wesen oder ersten Dinge.

Demnächst wird hier auch das Buch IV rekapituliert werden, was uns Gelegenheit geben wird, auf die dortige formelle Gründung der Ontologie zurückzukommen, die sich in zwei deutlich unterschiedenen Phasen vollzieht: einer deskriptiven und einer beweisenden bzw. widerlegenden.

Jetzt aber bezieht sich die Rekapitulierung auf die Ursachen-Lehre der Physik – und Aristoteles fragt, ob alle dort behandelten vier Ursachensorten auch in der gesuchten Wissenschaft abgehandelt werden. Die Frage wird für eine Ursachensorte verneint: nämlich für das „Worumwillen“ oder das „Gute“, das für die Handlungen und für das Bewegte ursächlich wirkt: als das „erste Bewegende“, das „Ziel“ – das seinen Platz nicht bei den unbewegten Dingen hat. (1059a 34 -
37).

Hier wird die Ethik ausgeschieden, weil sie der Physik zu nahe steht. Konsequenterweise wird dann auch die Physik als die Wissenschaft von den wahrnehmbaren Wesen ausgeschieden, womit die oben gestellte Frage, ob alle Wesen zu der gesuchten Wissenschaft gehören, einer Lösung nähergebracht wird. Auch die Mathematik wird ausgeschieden, da die mathematischen Dinge nicht „abgetrennt“, nicht „extra“ existieren.

Das Zusammenrücken von Ethik und Physik mag uns erstaunen – es entspricht überhaupt nicht unseren heutigen Denkgewohnheiten. Aristoteles selber identifiziert sie denn auch überhaupt nicht – immerhin hat er beiden Bereichen deutlich geschiedene Hauptwerke gewidmet. Er rückt sie nur unter dem abstrakten Gesichtspunkt der Bewegung im Sinne von Veränderung überhaupt zusammen. In der Physik (mitsamt Zoologie) geht es um naturgegebene Körper, die sich von sich aus verschiedenartig    verändern – nämlich wachsen, auch sich ernähren, sich fortbewegen – können. In der Ethik geht es um die Menschen, die all das auch so oder so können und die mit ihrem Verhalten, Agieren, Entscheiden zusätzliche Worumwillen also Ziele erschaffen und abschaffen.

Daß nichtmenschliche und menschliche Akteure neben- und mit- und gegeneinander agieren, dürfte seit dem späten 20. Jahrhundert nach Christus nicht mehr unbekannt sein. Die triumphalistische Formel von der „Krone der Schöpfung“ hat vor kurzem eine Zwillingsformel an die Seite gestellt bekommen, die doch etwas anders klingt: „Anthropozän“.

All dem gegenüber scheint die jetzt wieder einmal gesuchte Wissenschaft ihre eigene Objekt-Orientierung etwas anders zu suchen – und sie sucht sie unter dem Suchwort „Prinzip“. Gibt es noch ein anders, ein verschiedenes Wesen?

Da die wahrnehmbaren und veränderlichen Wesen uns bekannter sind als das Wesen, das ein „eigentlicheres“, ein prinzipielleres also herrschenderes Prinzip (1060a 21) sein soll, überlegt dieser merkwürdige Text des Buches XI, wo in aller Welt man noch herumsuchen könnte. Soll man es eher bei den Menschen oder den Pferden (die beiden „wohnen“ in aller Regel beisammen) oder aber bei den anderen Lebewesen (also eher anderswo) suchen oder überhaupt woanders, bei den unbeseelten Dingen? (1060a 16). Das wäre also die kosmographische oder topologische Suchbewegung: wo in aller Welt? Diese Suchweise wird hier gar nicht weiter verfolgt. Irgendwann später dann aber doch.

Diese sucherische Annäherung an die wahrnehmbaren also körperlichen Dinge wird von Aristoteles so ernstgenommen, dass er meint, „das jetzt gesuchte Prinzip könne nicht getrennt von den Körpern“ zu finden sein (1060a 19). Eine Aussage, die letzten Endes zu einem verblüffenden Suchergebnis führen sollte (aber das wird noch dauern – der Aufschub gehört zum Charakter dieser aporetisch gebrochenen Suche).

Welches Prinzip gehört zu den Körpern als solchen? Natürlich könnte man jetzt tautologisierend die „Körperlichkeit“ erfinden. Aber so tautologisch geht es bei Aristoteles nicht zu: es ist der Stoff.

Aber den Stoff gibt es nicht der Verwirklichung nach sondern nur dem Vermögen nach, d. h. er existiert nicht im eigentlichen Sinn. Was wir an jedem besseren Teelöffel sehen können oder jedenfalls sprechen wir so vom Teelöffel, dass wir sagen: der Edelstahl als solcher existiert da nicht, er immaniert dem Teelöffel. Er ist da nur als Besandteil. Scholastisch gespochen: als ens quo; der Teelöffel ist da als ens quod.

So ist also der Stoff für einen Moment in die Suchfrage nach dem prinzipiellsten Prinzip aufgenommen worden und gleich wieder verabschiedet worden. Mag sein, dass andere Denker da anders entschieden haben. Allerdings beschränkt sich der aristotelsiche Stoff-Begriff nicht auf Erz oder Stahl, er impliziert frühere Stoff-Stufen bis hin zur materia prima und die existiert gar nicht.

Der komplementäre aristotelische Begriff für Bestandteil der Dinge ist die Form. Jedes uns bekannte, existierende Ding besteht aus Stoff und Form, welche Lehre dann viel später „Hylomorphismus“ genannt worden ist. Aristoteles zieht folglich auch die Form als mögliches geeignetes Prinzip in Erwägung. Doch ausgerechnet der Form spricht er hier Vergänglichkeit zu – was er keineswegs immer tut. Hier haben wir ein Beispiel dafür, dass auch Aussagen, und seien sie von Aristoteles selber, vergänglich, veränderlich, auswechselbar sind. Auf diese Weise beraubt er sich hier der Chance, seine Suche endlich erfolgreich abschließen zu können.

Für uns Heutige ist selbstversändlich die Teelöffel-Form auch nicht ewig. Jedenfalls halten wir sie für irgendwann kulturell entwickelt – ob sie kulturell auch wieder „überholt“ werden könnte, sei dahingestellt.

Der Form könnte Aristoteles auch aus einem anderen Grund die Eignung zum prinzipiellsten Prinzip absprechen: ebenso wie der Stoff ist sie nur Bestandteil oder ens quo. Da liegt die Differenz zur platonischen Ideenlehre.

Mit Stoff oder Form hat Aristoteles also seine Suche wieder nicht abschließen können. Doch gibt er sie nicht auf, indem er erklärt, so ein ewiges abgetrenntes Wesen sei nicht aufzufinden – egal ob man im Kosmos herumschaut oder bei den naheliegenden Bestandteilen der Dinge. Eine derartige Kapitulation ist wahrscheinlich von anderen Denkern gelegentlich erklärt und vielleicht sogar als Sieg gefeiert worden – Sieg über archaische, prinzipiengläubige Zeiten.

Anders Aristoteles: es wäre absurd, wenn es so ein Wesen nicht gäbe, es wird ja von fast allen der begabtesten oder begnadetsten Denker als ein Seiendes gesucht. Wohlgemerkt gesucht. Hier äußert er sich im Sinne eines gemäßigten Traditionalismus, dem er jedoch auch eine sachliche Dimension unterschiebt; „Denn wie sollte Ordnung herrschen, wenn es nicht etwas Ewiges, Abgetrenntes und Bleibendes gäbe?“ (1060a 26)

Also muß die Suche weitergehen. Die Aporien zwingen zum Weitersuchen – aber nur unter der Voraussetzung eines primären Wollens (das nicht von blindem Fanatismus geleitet sein sollte).

Walter Seitter

1 Kommentar:

  1. Kommentar von Wolfang Koch (30. Mai 2020):

    "(Ein Wesen) wird ja von fast allen der begabtesten oder begnadetsten Denker als ein Seiendes gesucht.« — Nein, das gilt nur in der kleinen Welt der Griechen und spiegelt heute einen engen eurozentrischen Blickwinkel auf die Welt. svabhava (Eigensein, Wesen, Eigennatur) wird vom Madhyamaka-Buddhismus, der seit 1800 Jahren auch für die hinduistische Philosophie von maßgeblichem Einfluß ist, klar zurückgewiesen. Hätten empirische Personen und Dinge ein Wesen, unterlägen sie nicht der Veränderung. Nāgārjunas Position ist die, dass nur durch die Leerheit (sunyata) verfestigte Positionen vom Andauern des Selbst aufgelöst werden können. Damit scheiden auch die Kategorien »Seiend« und »Nicht-Seiend« bei der Beurteilung von »Wirklichkeit« aus.

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