Nur
wenn man die Lektüre der Metaphysik hartnäckig fortsetzt, kommt man bis zum
Buch XI. Und nur wenn man sich von dem eigenwilligen Duktus dieses Buches mit
seinen wissenschaftstheoretischen Rekapitulationen nicht abschrecken lässt,
liest man hier auch wirklich weiter.
Um
die Reichweite der Weisheit bzw. der gesuchten Wissenschaft zu bestimmen, hat
Aristoteles zwischen einer beweisenden Wissenschaft und einer anderen, also
nicht beweisenden Wissenschaft unterschieden, wobei die beweisende sich auf die
Akzidenzien beziehen soll, die andere auf die Wesen. In dieser Aussage stecken
zwei miteinander verknüpfte Schwierigkeiten: 1. welcher Art denn die nicht
beweisende Wissenschaft sein soll: ist sie eine intuitiv erfassende,
betrachtende? 2. wieso die beweisende sich auf die Akzidenzien bezieht, die
eher zufällig sind, und die andere auf die Wesen oder ersten Dinge.
Demnächst
wird hier auch das Buch IV rekapituliert werden, was uns Gelegenheit geben
wird, auf die dortige formelle Gründung der Ontologie zurückzukommen, die sich
in zwei deutlich unterschiedenen Phasen vollzieht: einer deskriptiven und einer
beweisenden bzw. widerlegenden.
Jetzt
aber bezieht sich die Rekapitulierung auf die Ursachen-Lehre der Physik – und
Aristoteles fragt, ob alle dort behandelten vier Ursachensorten auch in der
gesuchten Wissenschaft abgehandelt werden. Die Frage wird für eine
Ursachensorte verneint: nämlich für das „Worumwillen“ oder das „Gute“, das für
die Handlungen und für das Bewegte ursächlich wirkt: als das „erste Bewegende“,
das „Ziel“ – das seinen Platz nicht bei den unbewegten Dingen hat. (1059a 34 -
37).
Hier
wird die Ethik ausgeschieden, weil sie der Physik zu nahe steht.
Konsequenterweise wird dann auch die Physik als die Wissenschaft von den
wahrnehmbaren Wesen ausgeschieden, womit die oben gestellte Frage, ob alle
Wesen zu der gesuchten Wissenschaft gehören, einer Lösung nähergebracht wird.
Auch die Mathematik wird ausgeschieden, da die mathematischen Dinge nicht
„abgetrennt“, nicht „extra“ existieren.
Das
Zusammenrücken von Ethik und Physik mag uns erstaunen – es entspricht überhaupt
nicht unseren heutigen Denkgewohnheiten. Aristoteles selber identifiziert sie
denn auch überhaupt nicht – immerhin hat er beiden Bereichen deutlich
geschiedene Hauptwerke gewidmet. Er rückt sie nur unter dem abstrakten
Gesichtspunkt der Bewegung im Sinne von Veränderung überhaupt zusammen. In der
Physik (mitsamt Zoologie) geht es um naturgegebene Körper, die sich von sich
aus verschiedenartig verändern –
nämlich wachsen, auch sich ernähren, sich fortbewegen – können. In der Ethik
geht es um die Menschen, die all das auch so oder so können und die mit ihrem
Verhalten, Agieren, Entscheiden zusätzliche Worumwillen also Ziele erschaffen
und abschaffen.
Daß
nichtmenschliche und menschliche Akteure neben- und mit- und gegeneinander
agieren, dürfte seit dem späten 20. Jahrhundert nach Christus nicht mehr
unbekannt sein. Die triumphalistische Formel von der „Krone der Schöpfung“ hat
vor kurzem eine Zwillingsformel an die Seite gestellt bekommen, die doch etwas
anders klingt: „Anthropozän“.
All
dem gegenüber scheint die jetzt wieder einmal gesuchte Wissenschaft ihre eigene
Objekt-Orientierung etwas anders zu suchen – und sie sucht sie unter dem
Suchwort „Prinzip“. Gibt es noch ein anders, ein verschiedenes Wesen?
Da
die wahrnehmbaren und veränderlichen Wesen uns bekannter sind als das Wesen,
das ein „eigentlicheres“, ein prinzipielleres also herrschenderes Prinzip (1060a
21) sein soll, überlegt dieser merkwürdige Text des Buches XI, wo in aller Welt
man noch herumsuchen könnte. Soll man es eher bei den Menschen oder den Pferden
(die beiden „wohnen“ in aller Regel beisammen) oder aber bei den anderen
Lebewesen (also eher anderswo) suchen oder überhaupt woanders, bei den
unbeseelten Dingen? (1060a 16). Das wäre also die kosmographische oder
topologische Suchbewegung: wo in aller Welt? Diese Suchweise wird hier gar
nicht weiter verfolgt. Irgendwann später dann aber doch.
Diese
sucherische Annäherung an die wahrnehmbaren also körperlichen Dinge wird von
Aristoteles so ernstgenommen, dass er meint, „das jetzt gesuchte Prinzip könne
nicht getrennt von den Körpern“ zu finden sein (1060a 19). Eine Aussage, die
letzten Endes zu einem verblüffenden Suchergebnis führen sollte (aber das wird
noch dauern – der Aufschub gehört zum Charakter dieser aporetisch gebrochenen
Suche).
Welches
Prinzip gehört zu den Körpern als solchen? Natürlich könnte man jetzt
tautologisierend die „Körperlichkeit“ erfinden. Aber so tautologisch geht es
bei Aristoteles nicht zu: es ist der Stoff.
Aber
den Stoff gibt es nicht der Verwirklichung nach sondern nur dem Vermögen nach,
d. h. er existiert nicht im eigentlichen Sinn. Was wir an jedem besseren Teelöffel
sehen können oder jedenfalls sprechen wir so vom Teelöffel, dass wir sagen: der
Edelstahl als solcher existiert da nicht, er immaniert dem Teelöffel. Er ist da
nur als Besandteil. Scholastisch gespochen: als ens quo; der Teelöffel ist da
als ens quod.
So
ist also der Stoff für einen Moment in die Suchfrage nach dem prinzipiellsten
Prinzip aufgenommen worden und gleich wieder verabschiedet worden. Mag sein,
dass andere Denker da anders entschieden haben. Allerdings beschränkt sich der
aristotelsiche Stoff-Begriff nicht auf Erz oder Stahl, er impliziert frühere
Stoff-Stufen bis hin zur materia prima und die existiert gar nicht.
Der
komplementäre aristotelische Begriff für Bestandteil der Dinge ist die Form.
Jedes uns bekannte, existierende Ding besteht aus Stoff und Form, welche Lehre
dann viel später „Hylomorphismus“ genannt worden ist. Aristoteles zieht
folglich auch die Form als mögliches geeignetes Prinzip in Erwägung. Doch
ausgerechnet der Form spricht er hier Vergänglichkeit zu – was er keineswegs
immer tut. Hier haben wir ein Beispiel dafür, dass auch Aussagen, und seien sie
von Aristoteles selber, vergänglich, veränderlich, auswechselbar sind. Auf
diese Weise beraubt er sich hier der Chance, seine Suche endlich erfolgreich
abschließen zu können.
Für
uns Heutige ist selbstversändlich die Teelöffel-Form auch nicht ewig.
Jedenfalls halten wir sie für irgendwann kulturell entwickelt – ob sie
kulturell auch wieder „überholt“ werden könnte, sei dahingestellt.
Der
Form könnte Aristoteles auch aus einem anderen Grund die Eignung zum
prinzipiellsten Prinzip absprechen: ebenso wie der Stoff ist sie nur
Bestandteil oder ens quo. Da liegt die Differenz zur platonischen Ideenlehre.
Mit
Stoff oder Form hat Aristoteles also seine Suche wieder nicht abschließen
können. Doch gibt er sie nicht auf, indem er erklärt, so ein ewiges
abgetrenntes Wesen sei nicht aufzufinden – egal ob man im Kosmos herumschaut
oder bei den naheliegenden Bestandteilen der Dinge. Eine derartige Kapitulation
ist wahrscheinlich von anderen Denkern gelegentlich erklärt und vielleicht
sogar als Sieg gefeiert worden – Sieg über archaische, prinzipiengläubige
Zeiten.
Anders
Aristoteles: es wäre absurd, wenn es so ein Wesen nicht gäbe, es wird ja von
fast allen der begabtesten oder begnadetsten Denker als ein Seiendes gesucht.
Wohlgemerkt gesucht. Hier äußert er sich im Sinne eines gemäßigten Traditionalismus,
dem er jedoch auch eine sachliche Dimension unterschiebt; „Denn wie sollte
Ordnung herrschen, wenn es nicht etwas Ewiges, Abgetrenntes und Bleibendes
gäbe?“ (1060a 26)
Also
muß die Suche weitergehen. Die Aporien zwingen zum Weitersuchen – aber nur
unter der Voraussetzung eines primären Wollens (das nicht von blindem
Fanatismus geleitet sein sollte).
Walter Seitter
Kommentar von Wolfang Koch (30. Mai 2020):
AntwortenLöschen"(Ein Wesen) wird ja von fast allen der begabtesten oder begnadetsten Denker als ein Seiendes gesucht.« — Nein, das gilt nur in der kleinen Welt der Griechen und spiegelt heute einen engen eurozentrischen Blickwinkel auf die Welt. svabhava (Eigensein, Wesen, Eigennatur) wird vom Madhyamaka-Buddhismus, der seit 1800 Jahren auch für die hinduistische Philosophie von maßgeblichem Einfluß ist, klar zurückgewiesen. Hätten empirische Personen und Dinge ein Wesen, unterlägen sie nicht der Veränderung. Nāgārjunas Position ist die, dass nur durch die Leerheit (sunyata) verfestigte Positionen vom Andauern des Selbst aufgelöst werden können. Damit scheiden auch die Kategorien »Seiend« und »Nicht-Seiend« bei der Beurteilung von »Wirklichkeit« aus.