τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 20. Mai 2020

In der Metaphysik lesen (1059a 18 – 33)

Die Bücher VII, VIII, IX, X waren durchgehend „objekt-orientiert“ und näherhin befassten sie sich mit ontologischen Bestimmungen: Wesen, Vermögen-Verwirklichung, wahr-falsch, ein oder ganz.

Im Buch XI wird plötzlich ein anderer Ton angeschlagen:

„Daß die Weisheit eine Wissenschaft von den Prinzipien ist, ergibt sich klar aus den ersten Darlegungen, in denen nach dem von den anderen über die Prinzipien Gesagten gefragt worden ist.“ (1059a 18f.)

Ein reflexiver, formalistischer und gleichzeitig „archäologischer“ Ton, der vor die Etablierung und Abhandlung der Ontologie-Achsen hinausgreift. Der Text greft direkt ins Buch III hinein – das Buch der Aporien, das hier im Laufe des Jahres 2013 gelesen worden ist, wie man in meinem Aristotels-Buch auf den Seiten 56 bis 88 nachlesen kann. Beim Nachlesen wird man bemerken, dass diese Lektüre eine vielfach unterbrochene war: unterbrochen durch Bezugnahmen auf Kollegen wie Peter Berz, Friedrich Kittler, mehrere Berlin-Besuche sowie einen Vortrag in Aix-en-Provence.

Unterbrechungen, die die Sorgfalt der Lektüre wohl nicht gefördert haben – in gewissem Sinn haben sie dennoch den „Sinn“ der Aporien befördert. Denn der liegt darin, das Vorankommen in der „gesuchten Wissenschaft“ zu erschweren, zu verzögern; jedenfalls vorschnelle Lösungen zu vermeiden. (Siehe 995a 24 - 995b 2). Die Aporien als „Aufhalter“.

„Es könnte jemand aporetisch hin und her überlegen, ob man die Weisheit als eine einzige Wissenschaft auffassen muß oder als mehrere. Wenn die Weisheit eine enzige Wissenschaft ist, muß man bedenken, dass mehrere Gegenstände einer einzigen Wissenschaft immer Gegensätze sind, die Prinzipien jedoch nicht Gegensätze sind.“ ((1059 a 20 – 23).

Das heißt: Prinzipien, die zueinander Gegensätze sind, sind eng miteinander verwandt – Wittgenstein würde von „Familienähnlichkeit“ sprechen. Das mag uns seltsam vorkommen, dass Gegensätzlichkeit Verwandtschaft anzeigt. Ich erkläre es jetzt einmal so: wenn sich etwas von A nur durch das Vorzeichen „nicht“ absetzt, dann bleibt es A ganz nahe, auch wenn es sich einbildet, doch etwas ganz Anderes (womöglich mit großem A) zu sein.

Dieses „nicht“ war übrigens der kleine Trick der hegelschen Philosophie, mit dem diese behauptete, der Monotonie des Einen zu entkommen.

Aristoteles hingegen: wenn es mehrere Prinzipien gibt, dann sollen sich die nicht wie A und Nicht-A voneinander unterscheiden, sondern wie A und B oder wie A und L. Die Pluralität, die Diversität der Prinzipien geht weiter.

Daher können mehrere und qualitativ unterschiedliche Prinzipien nur von mehreren Wissenschaften erfasst und studiert werden. Aber von welchen? Und was bleibt vom Projekt einer gesuchten Wissenschaft?

Bleibt zunächst die Frage: welche Sorten von Prinzipien gibt es überhaupt? Hier nennt Aristoteles nur eine Sorte: „Beweisprinzipien“ – das sind Sätze oder Annahmen, von denen Beweise ausgehen müssen, die aber selber nicht bewiesen werden können – womit derartige Prinzipien selber in die Nähe von Aporien geraten.

Der hier schon öfter zitierte amerikanische Metaphysik-Übersetzer Joe Sachs schreibt in einem winzigen Kommentar, dass im Buch XI eine Reihe von Gründen durchgenommen und widerlegt werden, die glauben machen könnten, dass in den Dingen letztlich „eine Art von Unordnung“ herrsche.[1]

Des weiteren fragt der Text, ob die Weisheit Wissenschaft von allen Wesen ist oder nicht. Hier ist wohl nicht unterstellt, dass die Wesen eine andere Sorte von Prinzipien darstellen. Es wird vorausgesetzt, dass es verschiedene Sorten von Wesen gibt. Einige Zeilen später wird die Frage präzisiert und neu gestellt. Hier wird nur der obige Einwand wiederholt: es sei unklar, wie eine einzige Wissenschaft die Vielfalt aller Wesen umfassen können soll.

Als Zwischenbemerkung sei hier eingeschoben, dass der Text sich inmitten einer Gründungssituation befindet, zu der er selber gehört: Gründung einer irgendwie neuen und höheren Wissenschaft zusätzlich zu schon bestehenden Wissenschaften – von denen mindestens die Mathematik bereits etabliert ist.

Es folgt die Frage, ob diese neue Wissenschaft (die allerdings den alten Ehrentitel „Weisheit“ bekommt) nicht nur die Wesen sondern auch die Akzidenzien erfassen soll.

Eine verblüffende Frage, da die Akzidenzien, wie ihr Name sagt, von den „Prinzipien“, welche wohl die ersten Objekte der in Frage stehenden Wissenschaft sind, am weitesten entfernt sind.

Und der Text liefert noch eine Überraschung: ausgerechnet die Akzidenzien werden durch Beweisführung erschlossen, nicht die Wesen. „Wenn die Weisheit eine beweisende Wissenschaft ist, so handelt sie von den Akzidenzien, ist sie aber eine Wissenschaft von den ersten Dingen, so handelt sie von den Wesen.“ (1059a 33)

Dieser Text, mehr oder weniger eine Wiederholung aus dem Buch III, tut so, als hätten die ausführlichen Ausführungen über die Wesen in den Büchern VII und VIII noch eine Menge Unklarheit übriggelassen.

Walter Seitter






[1] Op. cit.: 205, Fn. 2.

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