Die
Bücher VII, VIII, IX, X waren durchgehend „objekt-orientiert“ und näherhin
befassten sie sich mit ontologischen Bestimmungen: Wesen,
Vermögen-Verwirklichung, wahr-falsch, ein oder ganz.
Im
Buch XI wird plötzlich ein anderer Ton angeschlagen:
„Daß
die Weisheit eine Wissenschaft von den Prinzipien ist, ergibt sich klar aus den
ersten Darlegungen, in denen nach dem von den anderen über die Prinzipien
Gesagten gefragt worden ist.“ (1059a 18f.)
Ein
reflexiver, formalistischer und gleichzeitig „archäologischer“ Ton, der vor die
Etablierung und Abhandlung der Ontologie-Achsen hinausgreift. Der Text greft
direkt ins Buch III hinein – das Buch der Aporien, das hier im Laufe des Jahres
2013 gelesen worden ist, wie man in meinem Aristotels-Buch auf den Seiten 56
bis 88 nachlesen kann. Beim Nachlesen wird man bemerken, dass diese Lektüre
eine vielfach unterbrochene war: unterbrochen durch Bezugnahmen auf Kollegen
wie Peter Berz, Friedrich Kittler, mehrere Berlin-Besuche sowie einen Vortrag
in Aix-en-Provence.
Unterbrechungen,
die die Sorgfalt der Lektüre wohl nicht gefördert haben – in gewissem Sinn
haben sie dennoch den „Sinn“ der Aporien befördert. Denn der liegt darin, das
Vorankommen in der „gesuchten Wissenschaft“ zu erschweren, zu verzögern;
jedenfalls vorschnelle Lösungen zu vermeiden. (Siehe 995a 24 - 995b 2). Die
Aporien als „Aufhalter“.
„Es
könnte jemand aporetisch hin und her überlegen, ob man die Weisheit als eine
einzige Wissenschaft auffassen muß oder als mehrere. Wenn die Weisheit eine
enzige Wissenschaft ist, muß man bedenken, dass mehrere Gegenstände einer
einzigen Wissenschaft immer Gegensätze sind, die Prinzipien jedoch nicht
Gegensätze sind.“ ((1059 a 20 – 23).
Das
heißt: Prinzipien, die zueinander Gegensätze sind, sind eng miteinander
verwandt – Wittgenstein würde von „Familienähnlichkeit“ sprechen. Das mag uns
seltsam vorkommen, dass Gegensätzlichkeit Verwandtschaft anzeigt. Ich erkläre
es jetzt einmal so: wenn sich etwas von A nur durch das Vorzeichen „nicht“ absetzt,
dann bleibt es A ganz nahe, auch wenn es sich einbildet, doch etwas ganz
Anderes (womöglich mit großem A) zu sein.
Dieses
„nicht“ war übrigens der kleine Trick der hegelschen Philosophie, mit dem diese
behauptete, der Monotonie des Einen zu entkommen.
Aristoteles
hingegen: wenn es mehrere Prinzipien gibt, dann sollen sich die nicht wie A und
Nicht-A voneinander unterscheiden, sondern wie A und B oder wie A und L. Die
Pluralität, die Diversität der Prinzipien geht weiter.
Daher
können mehrere und qualitativ unterschiedliche Prinzipien nur von mehreren
Wissenschaften erfasst und studiert werden. Aber von welchen? Und was bleibt
vom Projekt einer gesuchten Wissenschaft?
Bleibt
zunächst die Frage: welche Sorten von Prinzipien gibt es überhaupt? Hier nennt
Aristoteles nur eine Sorte: „Beweisprinzipien“ – das sind Sätze oder Annahmen,
von denen Beweise ausgehen müssen, die aber selber nicht bewiesen werden können
– womit derartige Prinzipien selber in die Nähe von Aporien geraten.
Der
hier schon öfter zitierte amerikanische Metaphysik-Übersetzer Joe Sachs
schreibt in einem winzigen Kommentar, dass im Buch XI eine Reihe von Gründen
durchgenommen und widerlegt werden, die glauben machen könnten, dass in den
Dingen letztlich „eine Art von Unordnung“ herrsche.[1]
Des
weiteren fragt der Text, ob die Weisheit Wissenschaft von allen Wesen ist oder
nicht. Hier ist wohl nicht unterstellt, dass die Wesen eine andere Sorte von
Prinzipien darstellen. Es wird vorausgesetzt, dass es verschiedene Sorten von
Wesen gibt. Einige Zeilen später wird die Frage präzisiert und neu gestellt. Hier
wird nur der obige Einwand wiederholt: es sei unklar, wie eine einzige
Wissenschaft die Vielfalt aller Wesen umfassen können soll.
Als
Zwischenbemerkung sei hier eingeschoben, dass der Text sich inmitten einer
Gründungssituation befindet, zu der er selber gehört: Gründung einer irgendwie
neuen und höheren Wissenschaft zusätzlich zu schon bestehenden Wissenschaften –
von denen mindestens die Mathematik bereits etabliert ist.
Es
folgt die Frage, ob diese neue Wissenschaft (die allerdings den alten
Ehrentitel „Weisheit“ bekommt) nicht nur die Wesen sondern auch die Akzidenzien
erfassen soll.
Eine
verblüffende Frage, da die Akzidenzien, wie ihr Name sagt, von den
„Prinzipien“, welche wohl die ersten Objekte der in Frage stehenden
Wissenschaft sind, am weitesten entfernt sind.
Und
der Text liefert noch eine Überraschung: ausgerechnet die Akzidenzien werden
durch Beweisführung erschlossen, nicht die Wesen. „Wenn die Weisheit eine
beweisende Wissenschaft ist, so handelt sie von den Akzidenzien, ist sie aber
eine Wissenschaft von den ersten Dingen, so handelt sie von den Wesen.“ (1059a
33)
Dieser
Text, mehr oder weniger eine Wiederholung aus dem Buch III, tut so, als hätten
die ausführlichen Ausführungen über die Wesen in den Büchern VII und VIII noch
eine Menge Unklarheit übriggelassen.
Walter
Seitter
[1]
Op. cit.: 205, Fn. 2.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen