τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 29. Januar 2020

In der Metaphysik lesen (1054a 20 – 1054b 13)

Die deutsche Sprache neigt dazu, die Pluralbildung zu vermeiden. Das habe ich im Kontrast zur französischen Sprache wahrgenommen, wo man ohneweiteres von „den Wissen“, von „den Glücken“ spricht; und jetzt sehe ich es bei den Aristoteles-Übersetzungen, etwa im ersten Satz von Abschnitt 3 im Buch X: wo die Übersetzungen schreiben: „Das Eine und das Viele“ – anstatt: „Das Eine und die Vielen“. Im folgenden Satz hingegen heißt es: „Das Eine und die Menge ....“ Eine Menge ist bereits ein Eines, aber ein leicht zerlegbares, in dem die Vielheit im Vordergrund steht. Fritz Heider würde sagen: ein lose gekoppeles. Unzerlegbar wäre ein Eines in einem höheren Grad, also ein „eineres Eines“. 

Das Eine und die Menge sind Gegenteile und sie bilden zueinander weder einen Widerspruch noch eine Relation. Einen Widerspruch bilden sie nicht, weil es sich gar nicht um Sätze handelt – doch warum bilden sie keine Relativa?
Das Thema von Buch X ist das Eine – aber auch dessen Gegensatz oder Gegenteil, die Vielen oder die Menge. In den Abschnitten 1 und 2 hat Aristoteles dem Einen den Vorrang eingeräumt. Jetzt klingt es plötzlich anders. Das Eine wird von seinem Gegenteil her ausgesagt, denn die Menge und das Zerlegbare sind wahrnehmbarer und infolge der Wahrnehmung hat die Menge einen begrifflichen Vorrang vor dem Unzerlegbaren. Damit folgt Aristoteles sozusagen den Bedenken, die ich bisher hegte, als ich auf der Suche nach einem Unzerlegbaren beim Punkt Zuflucht fand, den es allerdings nur rein geometrisch geben kann. Nun sagt Bernd Schmeikal, dass die neueste Topologie auch die Punkte abgeschafft habe.

Interessant, dass Aristoteles nun vom begrifflichen Vorrang eines sinnlich Wahrnehmbaren spricht. Womit er sich jedenfalls von der Annahme distanziert, das Sinnliche gehöre nur dem Chaotischen an oder das Sichtbare schließe das Sagbare aus. Die kleinen Anspielungen auf die Farben und die Töne im vorigen Abschnitt haben schon gezeigt, dass Aristoteles die Sinnesqualitäten jedenfalls mathematischen Begriffen zuordnet.
Nun macht er sich daran, sowohl die Menge wie auch das Eine begrifflich zu differenzieren, und beruft sich darauf, dass er dies bereits im Abschnitt 10 von Buch V umrissen habe: zum Einen gehören das Identische, das Ähnliche und das Gleiche; zur Menge das Andere, das Unähnliche und das Ungleiche. 
Identisch sind Dinge, die der Zahl nach dasselbe sind (etwa vier Birnen und vier Äpfel?), und solche, die dem Begriff nach und der Zahl nach dasselbe sind, wie etwa du mit dir selber. Diese Identität, die man die anthropolgische nennen kann und die seit dem 20. Jahrhundert eine riesige Karriere macht, wird von Aristoteles nicht sehr oft, aber gelegentlich erwähnt – und zwar eher in der zweiten Person. Während sie in der Moderne, sagen wir seit Johann Gottlieb Fichte, vorzüglich in der ersten Person zum Prinzip der Wirklichkeit hochstilisiert worden ist, woraufhin sie seit dem 20. Jahrhundert in Frage gestellt, zerlegt und  dekonstruiert wird – womit ihre Rekonstruktion nicht ausgeschlossen wird. In der knappen Formulierung „Ich bin ich und daher mit mir identisch“ scheint die Identitätsbehauptung ebenso selbstverständlich wie etwa in „A ist A“. Sie ist aber leichter zu zerlegen als diese, denn ich bestehe ja aus einer langen Sukzession vieler verschiedener Zustände von meiner Entstehung (z. B. Geburt) an bis zu dem gegenwärtigen Moment, in dem ich diese Aussage machen kann, und dieser Moment enthält seinerseits – so wie jeder andere - eine Vielzahl von Eigenschaften, Fähigkeiten, Beziehungen, die mich in eine simultane Ausgedehntheit auseinanderspannen und mich ebenso in vielerlei Geschichten oder andere temporale Relationen zersetzen. Die personale Identität identifiziert also eine unüberschaubare und sich ständig ändernde Menge von einzelnen Bestimmtheiten, die sich der Wahrnehmung und Empfindung mehr oder weniger zeigen. 
Solche Bemerkungen zur Identität stammen aus dem 20. Jahrhundert nach Christus, also aus großer zeitlicher Entfernung zu Aristoteles. Der wohl zwei strikteste Versionen des Einen aufgestellt hat: erstens das Unzerlegbare und zweitens das Identische, er selber sagt das Selbe. Wodurch unterscheiden sich die beiden? Unter anderem dadurch, dass das Subjekt des Unzerlegbaren (wie auch des Zerlegbaren) immer ein Eines ist. Das Subjekt des Identischen oder des Selben hingegen ist paradoxerweise immer ein Mehreres. Es sind immer mehrere, die miteinander identisch sind – die „das Selbe“ sind. Entweder tatsächlich mehrere oder ein als mehrere aufgefasstes Etwas: wie eben du, der du mit dir identisch bist. Identität oder Selbigkeit ist nämlich eine Relation zwischen mindestens zweien. Nur zwei oder drei oder noch mehr können als „selbe“ bezeichnet werden – notfalls ein eines, das mit sich identisch ist (siehe V 1018a 7ff.).
Die Identitäten, die von den Dekonstruktionen des 20. Jahrhunderts rebellisch oder kritisch oder empirisch zerlegt worden sind, bei Aristoteles sind sie immer schon pluralistisch so gespreizt, dass etwas mit etwas identisch sein kann, auch wenn beide oder noch mehr einen Plural bilden. Wenn mehrere Dinge ein Wesen gemeinsam haben, sind sie identisch, sofern sie nicht offensichtlich wahrnehmbare Unterschiede aufweisen. Identisch sind also gleichartige und gleichgroße Vierecke, die mehrere sind. So einen generösen Identitätsbegriff würden wir kaum gelten lassen – Aristoteles verwedet ihn hier auch nur in bezug auf geometrische Figuren, denen er keine „getrennte“ oder individuelle Existenz zuspricht. 

Ähnlich sind solche Vierecke, wenn sie gleichartig aber kleiner oder größer sind. Ähnlich sind gleichartige Dinge, die eine Eigenschaft in unterschiedlicher Intensität aufweisen – etwa die Farbe weiß. Oder Dinge, die artmäßig oder sogar gattungsmäig weit auseinander liegen, sofern sie nur eine halbwegs gleiche Eigenschaft aufweisen – wie etwa Feuer und Gold, die ja beide gelb und rot sind. 

Nicht nur die Ähnlichkeit sondern sogar die Selbigkeit betrachtet Aristoteles als Relation – nämlich zwischen einem und sich oder zwischen mehreren, die dasselbe sind. Immerzu Beziehung und nicht beziehungslose Einheit.

Unsere Diskussion am letzten Mittwoch hat Annahmen in Erwägung gezogen, die auf ein Eins-Werden zwischen einem Menschen und einem Baum oder zwischen allen Menschen hinausliefen. Sie gingen aber von anderen Voraussetzungen aus als von denjenigen, die wir hier bei Aristoteles vorfinden.

Walter Seitter

Mittwoch, 22. Januar 2020

In der Metaphysik lesen (1053a 32 – 1054a 19)


Aristoteles differenziert den Begriff des Einen in vier Hinsichten: zum Zusammenhängenden, zum Ganzen, zum Einzelding, zum Allgemeinen (1052a 35). Mit den beiden ersten Bestimmungen wird es als Gegenpol zum Vielen installiert, der Vielheiten vereinheitlichen kann. Und es bleibt so in einer Unbestimmtheit zwischen Unzerlegbarem und Zerlegbarem, welche das Signum des ontologischen Begriffes zu sein scheint. Außerdem kristallisieren sich in der Erörterung zwei Begriffe heraus, denen klare Bedeutungen zukommen – die Zahl und das Maß. 

Wolfgang Koch stellt sich an meine Bücherwand und damit kann er zwei Messungen vornehmen: entweder nimmt er sich selber als Maß, um die Bücherwand zu messen, dann stellt er fest, dass diese um ein Stück höher ist als er selber, etwa um ein Drittel seiner Körperlänge; oder er betrachtet die Bücherwand, um sich selber zu messen, dann stellt er fest, dass er um ein gleiches Stück kleiner ist als jene. 

Da bauliche Anlagen dem Menschen dienen sollen, ist es sinnvoll, die menschliche Körpergröße ihnen als Maß zugrundezulegen. Diese bekommt damit eine normative Bedeutung, die jedoch nicht so „eng“ auszulegen ist, dass jede Tür genau 160 oder 170 oder 180 cm hoch sein soll.

Mit seinen Messtätigkeiten qualifiziert sich der Mensch als Erkennender und als solcher wird er auf einer höheren Ebene wiederum zum Maß der Sachen, wobei er genaugenommen sich doch von den Sachen messen lässt – denn seine Feststellungen über sie müssen sich nach ihnen richten, wie Aristoteles im Abschnitt 10 von Buch IX schon gesagt hat. Die Erkenntnis ist ein reziprokes Bestimmungsverhalten zwischen Erkennendem und Erkanntem. Damit bezieht sich Aristoteles auf den berühmten homo-mensura-Satz des Protagoras, der nur dann zutrifft, wenn mit dem Menschen ein wahrnehmender und wissender gemeint ist und nicht ein blinder oder sonst wie irrender. Wenn es bei den Menschen solche Unterschiede gibt, muß man darauf achten, welche man als Maß annimmt und welche nicht – das hat Aristoteles dann im nächsten Buch noch deutlicher ausgesprochen (XI, 1063a 4ff.)

Der folgende Abschnitt hat von meinem Übersetzer den Titel „Das Eine ist kein Wesen“ bekommen und dies scheint damit zusammenzupassen, dass das Eine bisher mehrmals der Quantität und der Qualität angenähert worden ist, die ja zu den Akzidenzien zählen. Wie verträgt sich das mit meiner Annahme, dass Aristoteles hier das Eine als ontologischen Begriff einführt? Es würde sich nur dann nicht damit vertragen, wenn man die Akzidenzien ihreseits nicht als ontologische Bestimmungen gelten ließe – aber was sind sie sonst?

Doch in scheinbarem Widerspruch zum Titel eröffnet Aristoteles den Abschnitt 2 mit dem Vorsatz, jetzt das Wesen und die Natur des Einen untersuchen zu wollen. Und dabei handle es sich um die Frage, ob das Eine selber ein Wesen sei (wie zuerst die Pythagoreer und dann Platon sagten) oder ob ihm eine Natur zugrunde liege und wie man sich darüber verständiger äußern soll – etwa so wie die Naturphilosophen, die entweder die Liebe oder die Luft oder das Unendliche für das Eine ansehen.
Die erste dieser beiden Alternativen wird von Aristoteles glatt verworfen, und zwar unter Bezugnahme auf frühere Ausführungen. Das Eine ist kein Wesen neben den Vielen, es ist ein Gemeinsames; es ist nur ein Prädikat – das, was ich zunächst als Adjektivhaftes bezeichnet habe. Es wird ebenso wie das Seiende so allgemein ausgesagt, dass es nicht nur die jeweilige Gattung meint sondern den einzelnen Arten und Individuen sozusagen kapillarisch nachfließt – bis hin zu den geringsten Einen (bzw. Entitäten).

Wie das Seiende ist auch das Eine nicht bloß das, was diese sehr allgemeinen Wörter direkt besagen. Bei den Farben ist das Eine jeweils eine bestimmte Farbe. Bei den Tönen wäre es eine Zahl – aber nicht eine Zahl an sich sondern eine Anzahl von Vierteltönen. Und entsprechend bei den Lauten, bei den Figuren. Das Eine ist ein jeweils so oder so bestimmtes Eines, und nicht das Eine ist das Wesen – sondern die jeweilige qualitative Bestimmtheit, die in den genannten Beispielen immer eine materielle und wahrnehmbare ist, ergibt ein Wesen. Die Einen bzw. die Anzahlen gibt es in allen Kategorien (zu denen hier auch die Bewegung gerechnet wird) und folglich auch in der Kategorie des Wesens – etwa als farbiger Körper als gut komponiertes Gedicht oder Musikstück. In jeder Gattung ist das Eine eine bestimmte Natur und keineswegs ist das Eine selbst eine Natur. Das „ein“ wie das „seiend“ sind so notwendige Implikationen, dass sie gar nicht immer verbalisiert werden müssen. Wenn man sagt „ein“ Mensch (und „ein einheitlicher Mensch“ meint), sagt man gar nicht mehr, als wenn man sagt „ein Mensch“. Das Eins-sein ist eben das Jedes-einzeln-sein. (1054a 19) Desgleichen fügt auch das Sein nichts zum Was, zum Quale, zum Quantum hinzu.(1054a 18) Daher muß man auch das „seiend“ nicht zum Menschen dazu sagen. 



Das Sein fügt zum Was, zum Quale usw. nicht deswegen nichts hinzu, weil es sich diesen Differenzierungen immer schon angeschmiegt hat: pollachos legetai
Heißt das, dass die Explikation dieser ontologischen Bestimmungen auch für solche Sprachen sinnvoll ist, die über derartige Wörter nicht verfügen (vielleicht das Sein in China) oder sie nur in abgeschwächter Weise verwenden (wie das „ein“ im Deutschen?). Dann hätte diese Ontologie eine sprachanalytische und beinahe -verbessernde Funktion. 

Und innerhalb der Ontologie stellt sich die Frage, ob die Paralellisierung von Seiendem und Einem (um eine Identifizierung handelt es sich nicht), die zuletzt vorgefundene Zusammenfassung in 1051a 34ff. nun so zu vervollständigen ist, dass sie heißen müsste: das Seiende wird nach den Kategorien, nach Vermögen oder Verwirklichung, nach Wahr oder Falsch – und nach dem Einen (oder Vielen?) ausgesagt. 
Es handelt sich um allgemeinste und flexibelste Bestimmungen, die man später als „Transzendentalien“ bezeichnet hat. Eine etwas hochtrabende Bezeichnung, die ihren trivialen also durchgängigen Charakter eher überdeckt.

Walter Seitter

Freitag, 17. Januar 2020

In der Metaphysik lesen (1052b 24-1053a 31)


Wenn das Erstaunen der Anfang des Philosophierens ist, empfiehlt es sich, die Lektüre des Buches X mit einem Erstaunen zu beginnen. Erstaunen darüber, dass das Eine als Überschrift ein philosophisches Thema bezeichnet. Im Deutschen funktioniert „ein“ als unbestimmter Artikel oder als Zahlwort. Den unbestimmten Artikel gibt es im Griechischen nicht und als Zahlwort taucht es in diesem Abschnitt erst nach einer anderweitigen Bestimmung auf.

Also muß die einleitende Erörterung des Wortes einem anderen Begriff gewidmet sein: nämlich dem Zusammenhängenden, insbesondere dem von Natur aus und nicht durch Bindunng Zusammenhängenden; in höherem Grade eins ist dasjenige, dessen Bewegung unzerlegbarer und einfacher ist; weiters ist dasjenige „einer“, das ein Ganzes ist und eine Gestalt und eine Form hat, insbesondere wenn es von Natur aus so ist und nicht durch Gewalt – etwa durch Leim oder Nägel oder Bänder; also wenn es die Ursache seines Zusammenhängens in sich selber hat. So weit die ersten Charakterisierungen dieses Einen: es wird mit mehreren Adjektiven umschrieben, hat also selber adjektivischen Charakter und ist folglich auch steigerbar.
Einfach, einheitlich, ganz, ganzheitlich – jeweils mehr oder weniger. Verblüffend die Einschätzung der künstlichen Zusammenfügung als gewaltsam, doch ihr Ergebnis ist eine schwächere Einheit – im Vergleich zum natürlich Zusammenhängenden. Die genannten technischen Zusammenfügungsmittel – Leim, Nägel, Bänder – lassen an Holzkonstrukte denken, die weniger stark zusammenhängen als ein Baum. Hier operiert Aristoteles mit physisch-technischen Begriffen, denen sogar ein mikropolitischer Sinn unterlegt wird. Dann charakterisiert er die Steigerung der Einheitlichkeit durch die erste Bewegung, also die Kreisbewegung. Anderes ist eines, wenn sein Begriff einer, wenn sein Denken eines ist, also unzerlegbar; und dieses Eine verschafft jedem Wesen seine Einheit.

Genau besehen implizieren alle diese Eine jeweils ein Auseinander, eine Vielheit. In einem Zusammenhang sind mehrere Teile zusammengefügt: entweder von vornherein zusammengefügt, etwa organisch gewachsen und immer noch wachsend wie im Falle des Baumes oder nachträglich künstlich und sozusagen gewaltsam durch die Arbeit des Tischlers zusammengezwungen (dass dieser Arbeit eine mindestens ebenso gewaltsame Auseinanderreißung vorausgegangen sein muß, versteht sich von selbst). In allen diesen Fällen steht dem Auseinander ein Einheitprinzip gegenüber, ein „erstes Eines“, von dem Aristoteles sagt, es sei unzerlegbar. Materialität und Quantität stehen auf der Seite der Vielheit. Das Unzerlegbare-Eine wird von Erkenntnis und Wissenschaft, zuvörderst von der Wesenserkenntnis geleistet, denn das Wesen gehört nach allem, was wir bisher gelesen haben, zum  Seiendsten, folglich auch zum Einsten. Aber die Dinge bestehen nicht nur aus dem jeweiligen Wesen, sondern auch aus dem Stoff.

Das Quantum wird durch das Maß erkannt – und letzlich durch die Zahl und das Eine. Den Begriff des Maßes hat man gleichwohl über die Zahl hinaus auf unterschiedliche Größen erweitert – so auf das Gewicht, das Flüssige und Feste, die Geschwindigkeit der Bewegung, den Viertelton in der Musik, den Laut in der Sprache, die Quadratseite und die Diagonale in der Geometrie.

Nicht alle Einheiten sind so unzerlegbar wie die Eins (oder Einzigkeit): wir erkennen das Wesen, indem wir die Dinge nach mehreren Parametern betrachten. Zusammenhängendes ist eigentlich immer teilbar. Jedes Maß gehört der Gattung des Gemessenen an und muß sich daher nicht auf eine Zahl reduzieren.

Walter Seitter
15. Jänner 2020

Freitag, 10. Januar 2020

Exkurs: Kausalität vs Neigung (François Jullien)


Auf Vorschlag von Gerhard Weinberger wenden wir uns - nicht zum ersten Mal - der großen Gegenüberstellung zu, die François Jullien in seinem Euro-chinesischen Lexikon des Denkens. Vom Sein zum Leben (Berlin 2018) ausgebreitet hat. Anhand von zwanzig thematischen Gesichtspunkten konfrontiert er die beiden großdimensionierten Denkweisen jeweils von ihren antiken Herkünften aus. Für das europäische Denken geht er von der klassischen griechischen Philosophie, marginal auch von biblischen Quellen aus.

Im ersten Kapitel werden zwei Begriffe einander gegenübergestellt: der europäische der "Kausalität" und der chinesische der "Neigung". In der Kausalität sind Ursache und Wirkung klar erkennbar, wobei die Ursache auch in der Psyche anzutreffen sein kann, etwa als Entscheidung, die sich von dem, was vorher stattfand, klar absetzt und ein genau bestimmtes Ergebnis herbeiführen soll. Die Neigung hingegen ist eine Bewegungsrichtung, die ich irgendwo, etwa im Verlauf meines Verhaltens bemerke und als ethisch gut einschätze (zum Beispiel ein Gefühl von Unerträglichkeit angesichts eines Unglücks, das anderen zustößt) und die ich fortan verstärke oder kultiviere. Ich schließe mich einer Tendenz an, die schon da ist, und beeinflusse so den Lauf der Dinge. Jullien nennt so ein Verhalten strategisch und die Frage ist, ob wir es ethisch nennen können, obwohl es kaum die Merkmale des Heroischen aufweist, sondern eher opportunistisch erscheinen könnte. In Europa ist diese moraltheoretische Diskussion zwischen Kant und Schiller geführt worden. Allerdings ist auch in diesem Fall die Unterscheidung zwischen dem Richtigen und dem Unrichtigen erforderlich und an entsprechenden Lehrmeistern dürfte es auch in der chinesischen Gesellschaft nicht gefehlt haben. 

Jullien nennt hier keinen europäischen Philosophen als Gegenspieler etwa zu dem zitierten Chinesen namens Mencius. In der griechischen Philosophie hat etwa Aristoteles mit der Unterscheidung zwischen einem zweckgerichteten und einem selbstzweckhaften Tun, oder zwischen Herstellen und Handeln, ene zumindest ähnliche Problematik aufgeworfen, wie wir sogar in der Metaphysik feststellen konnten - IX, 1048a 18ff.

Jullien hat dieses Buch wohl vor allem für "uns" Europäer geschrieben, um uns auf gewisse Einseitigkeiten "unseres" Denkens hinzuweisen. Dagegen ließe sich an vielen Stellen darauf hinweisen, daß es in Europa sowohl in der Antike wie auch in der Neuzeit Denkansätze gibt, die über die von ihm aufgezeigten Schwächen hinausgehen. 

Doch er besteht darauf, daß manche beobachtbaren Entwicklungen, wenn man sie aus größerer Entfernung betrachtet, Ansätze zu ihrer Umkehrung aufweisen, also nicht auf Dauer auf eine Richtung festgelegt sind und daher Eingriffe sowohl in die eine wie auch in die andere oder aber in eine nochmals andere  Richtung erlauben - allerdings nur denen, die sie in ihrer Unauffälligkeit wahrzunehmen vermögen. 

Auf diese Weise macht sich Jullien ein bißchen über das westliche Krisengerede lustig. Wann hat die Krise in Europa angefangen? Was sind ihre Ursachen? Stattdessen empfehle es sich, auf die Punkte zu achten, in denen sich bereits Gegenwenden ankündigen. 

Walter Seitter
8. Jänner 2020