Das Eine und die Menge
sind Gegenteile und sie bilden zueinander weder einen Widerspruch noch eine
Relation. Einen Widerspruch bilden sie nicht, weil es sich gar nicht um Sätze
handelt – doch warum bilden sie keine Relativa?
Das Thema von Buch X ist
das Eine – aber auch dessen Gegensatz oder Gegenteil, die Vielen oder die
Menge. In den Abschnitten 1 und 2 hat Aristoteles dem Einen den Vorrang
eingeräumt. Jetzt klingt es plötzlich anders. Das Eine wird von seinem
Gegenteil her ausgesagt, denn die Menge und das Zerlegbare sind wahrnehmbarer und
infolge der Wahrnehmung hat die Menge einen begrifflichen Vorrang vor dem
Unzerlegbaren. Damit folgt Aristoteles sozusagen den Bedenken, die ich bisher
hegte, als ich auf der Suche nach einem Unzerlegbaren beim Punkt Zuflucht fand,
den es allerdings nur rein geometrisch geben kann. Nun sagt Bernd Schmeikal,
dass die neueste Topologie auch die Punkte abgeschafft habe.
Interessant, dass
Aristoteles nun vom begrifflichen Vorrang eines sinnlich Wahrnehmbaren spricht.
Womit er sich jedenfalls von der Annahme distanziert, das Sinnliche gehöre nur
dem Chaotischen an oder das Sichtbare schließe das Sagbare aus. Die kleinen
Anspielungen auf die Farben und die Töne im vorigen Abschnitt haben schon
gezeigt, dass Aristoteles die Sinnesqualitäten jedenfalls mathematischen
Begriffen zuordnet.
Nun macht er sich daran,
sowohl die Menge wie auch das Eine begrifflich zu differenzieren, und beruft
sich darauf, dass er dies bereits im Abschnitt 10 von Buch V umrissen habe: zum
Einen gehören das Identische, das Ähnliche und das Gleiche; zur Menge das
Andere, das Unähnliche und das Ungleiche.
Identisch sind Dinge, die
der Zahl nach dasselbe sind (etwa vier Birnen und vier Äpfel?), und solche, die
dem Begriff nach und der Zahl nach dasselbe sind, wie etwa du mit dir selber.
Diese Identität, die man die anthropolgische nennen kann und die seit dem 20.
Jahrhundert eine riesige Karriere macht, wird von Aristoteles nicht sehr oft,
aber gelegentlich erwähnt – und zwar eher in der zweiten Person. Während sie in
der Moderne, sagen wir seit Johann Gottlieb Fichte, vorzüglich in der ersten
Person zum Prinzip der Wirklichkeit hochstilisiert worden ist, woraufhin
sie seit dem 20. Jahrhundert in Frage gestellt, zerlegt und dekonstruiert
wird – womit ihre Rekonstruktion nicht ausgeschlossen wird. In der knappen
Formulierung „Ich bin ich und daher mit mir identisch“ scheint die
Identitätsbehauptung ebenso selbstverständlich wie etwa in „A ist A“. Sie
ist aber leichter zu zerlegen als diese, denn ich bestehe ja aus einer
langen Sukzession vieler verschiedener Zustände von meiner Entstehung (z. B.
Geburt) an bis zu dem gegenwärtigen Moment, in dem ich diese Aussage machen
kann, und dieser Moment enthält seinerseits – so wie jeder andere - eine
Vielzahl von Eigenschaften, Fähigkeiten, Beziehungen, die mich in eine
simultane Ausgedehntheit auseinanderspannen und mich ebenso in vielerlei
Geschichten oder andere temporale Relationen zersetzen. Die personale Identität
identifiziert also eine unüberschaubare und sich ständig ändernde Menge von
einzelnen Bestimmtheiten, die sich der Wahrnehmung und Empfindung mehr oder
weniger zeigen.
Solche Bemerkungen zur
Identität stammen aus dem 20. Jahrhundert nach Christus, also aus großer
zeitlicher Entfernung zu Aristoteles. Der wohl zwei strikteste Versionen des
Einen aufgestellt hat: erstens das Unzerlegbare und zweitens das Identische, er
selber sagt das Selbe. Wodurch unterscheiden sich die beiden? Unter anderem
dadurch, dass das Subjekt des Unzerlegbaren (wie auch des Zerlegbaren) immer
ein Eines ist. Das Subjekt des Identischen oder des Selben hingegen ist
paradoxerweise immer ein Mehreres. Es sind immer mehrere, die miteinander
identisch sind – die „das Selbe“ sind. Entweder tatsächlich mehrere oder ein
als mehrere aufgefasstes Etwas: wie eben du, der du mit dir identisch
bist. Identität oder Selbigkeit ist nämlich eine Relation zwischen mindestens
zweien. Nur zwei oder drei oder noch mehr können als „selbe“ bezeichnet werden
– notfalls ein eines, das mit sich identisch ist (siehe V 1018a 7ff.).
Die Identitäten, die von
den Dekonstruktionen des 20. Jahrhunderts rebellisch oder kritisch oder
empirisch zerlegt worden sind, bei Aristoteles sind sie immer schon
pluralistisch so gespreizt, dass etwas mit etwas identisch sein kann, auch wenn
beide oder noch mehr einen Plural bilden. Wenn mehrere Dinge ein Wesen
gemeinsam haben, sind sie identisch, sofern sie nicht offensichtlich
wahrnehmbare Unterschiede aufweisen. Identisch sind also gleichartige und
gleichgroße Vierecke, die mehrere sind. So einen generösen Identitätsbegriff
würden wir kaum gelten lassen – Aristoteles verwedet ihn hier auch nur in bezug
auf geometrische Figuren, denen er keine „getrennte“ oder individuelle Existenz
zuspricht.
Ähnlich sind solche
Vierecke, wenn sie gleichartig aber kleiner oder größer sind. Ähnlich sind
gleichartige Dinge, die eine Eigenschaft in unterschiedlicher Intensität
aufweisen – etwa die Farbe weiß. Oder Dinge, die artmäßig oder sogar
gattungsmäig weit auseinander liegen, sofern sie nur eine halbwegs gleiche Eigenschaft
aufweisen – wie etwa Feuer und Gold, die ja beide gelb und rot sind.
Nicht nur die Ähnlichkeit
sondern sogar die Selbigkeit betrachtet Aristoteles als Relation – nämlich
zwischen einem und sich oder zwischen mehreren, die dasselbe sind. Immerzu Beziehung
und nicht beziehungslose Einheit.
Unsere Diskussion am
letzten Mittwoch hat Annahmen in Erwägung gezogen, die auf ein Eins-Werden
zwischen einem Menschen und einem Baum oder zwischen allen Menschen
hinausliefen. Sie gingen aber von anderen Voraussetzungen aus als von
denjenigen, die wir hier bei Aristoteles vorfinden.
Walter Seitter