Auf Vorschlag von Gerhard
Weinberger wenden wir uns - nicht zum ersten Mal - der großen
Gegenüberstellung zu, die François Jullien in seinem Euro-chinesischen
Lexikon des Denkens. Vom Sein zum Leben (Berlin 2018) ausgebreitet
hat. Anhand von zwanzig thematischen Gesichtspunkten konfrontiert er die beiden
großdimensionierten Denkweisen jeweils von ihren antiken Herkünften aus. Für
das europäische Denken geht er von der klassischen griechischen Philosophie,
marginal auch von biblischen Quellen aus.
Im ersten Kapitel werden
zwei Begriffe einander gegenübergestellt: der europäische der
"Kausalität" und der chinesische der "Neigung". In der
Kausalität sind Ursache und Wirkung klar erkennbar, wobei die Ursache auch in
der Psyche anzutreffen sein kann, etwa als Entscheidung, die sich von dem, was
vorher stattfand, klar absetzt und ein genau bestimmtes Ergebnis herbeiführen
soll. Die Neigung hingegen ist eine Bewegungsrichtung, die ich irgendwo, etwa
im Verlauf meines Verhaltens bemerke und als ethisch gut einschätze (zum
Beispiel ein Gefühl von Unerträglichkeit angesichts eines Unglücks, das
anderen zustößt) und die ich fortan verstärke oder kultiviere. Ich schließe
mich einer Tendenz an, die schon da ist, und beeinflusse so den Lauf der Dinge.
Jullien nennt so ein Verhalten strategisch und die Frage ist, ob wir es ethisch
nennen können, obwohl es kaum die Merkmale des Heroischen aufweist, sondern
eher opportunistisch erscheinen könnte. In Europa ist diese moraltheoretische
Diskussion zwischen Kant und Schiller geführt worden. Allerdings ist auch in
diesem Fall die Unterscheidung zwischen dem Richtigen und dem Unrichtigen
erforderlich und an entsprechenden Lehrmeistern dürfte es auch in der
chinesischen Gesellschaft nicht gefehlt haben.
Jullien nennt hier keinen
europäischen Philosophen als Gegenspieler etwa zu dem zitierten Chinesen namens
Mencius. In der griechischen Philosophie hat etwa Aristoteles mit der
Unterscheidung zwischen einem zweckgerichteten und einem selbstzweckhaften Tun,
oder zwischen Herstellen und Handeln, ene zumindest ähnliche Problematik
aufgeworfen, wie wir sogar in der Metaphysik feststellen konnten - IX, 1048a
18ff.
Jullien hat dieses
Buch wohl vor allem für "uns" Europäer geschrieben, um uns
auf gewisse Einseitigkeiten "unseres" Denkens hinzuweisen. Dagegen
ließe sich an vielen Stellen darauf hinweisen, daß es in Europa sowohl in der
Antike wie auch in der Neuzeit Denkansätze gibt, die über die von ihm
aufgezeigten Schwächen hinausgehen.
Doch er besteht darauf,
daß manche beobachtbaren Entwicklungen, wenn man sie aus größerer Entfernung
betrachtet, Ansätze zu ihrer Umkehrung aufweisen, also nicht auf Dauer auf eine
Richtung festgelegt sind und daher Eingriffe sowohl in die eine wie auch in die
andere oder aber in eine nochmals andere Richtung erlauben - allerdings
nur denen, die sie in ihrer Unauffälligkeit wahrzunehmen vermögen.
Auf diese Weise macht sich
Jullien ein bißchen über das westliche Krisengerede lustig. Wann hat die Krise
in Europa angefangen? Was sind ihre Ursachen? Stattdessen empfehle es sich, auf
die Punkte zu achten, in denen sich bereits Gegenwenden ankündigen.
Walter Seitter
8. Jänner 2020
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