τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 10. Januar 2020

Exkurs: Kausalität vs Neigung (François Jullien)


Auf Vorschlag von Gerhard Weinberger wenden wir uns - nicht zum ersten Mal - der großen Gegenüberstellung zu, die François Jullien in seinem Euro-chinesischen Lexikon des Denkens. Vom Sein zum Leben (Berlin 2018) ausgebreitet hat. Anhand von zwanzig thematischen Gesichtspunkten konfrontiert er die beiden großdimensionierten Denkweisen jeweils von ihren antiken Herkünften aus. Für das europäische Denken geht er von der klassischen griechischen Philosophie, marginal auch von biblischen Quellen aus.

Im ersten Kapitel werden zwei Begriffe einander gegenübergestellt: der europäische der "Kausalität" und der chinesische der "Neigung". In der Kausalität sind Ursache und Wirkung klar erkennbar, wobei die Ursache auch in der Psyche anzutreffen sein kann, etwa als Entscheidung, die sich von dem, was vorher stattfand, klar absetzt und ein genau bestimmtes Ergebnis herbeiführen soll. Die Neigung hingegen ist eine Bewegungsrichtung, die ich irgendwo, etwa im Verlauf meines Verhaltens bemerke und als ethisch gut einschätze (zum Beispiel ein Gefühl von Unerträglichkeit angesichts eines Unglücks, das anderen zustößt) und die ich fortan verstärke oder kultiviere. Ich schließe mich einer Tendenz an, die schon da ist, und beeinflusse so den Lauf der Dinge. Jullien nennt so ein Verhalten strategisch und die Frage ist, ob wir es ethisch nennen können, obwohl es kaum die Merkmale des Heroischen aufweist, sondern eher opportunistisch erscheinen könnte. In Europa ist diese moraltheoretische Diskussion zwischen Kant und Schiller geführt worden. Allerdings ist auch in diesem Fall die Unterscheidung zwischen dem Richtigen und dem Unrichtigen erforderlich und an entsprechenden Lehrmeistern dürfte es auch in der chinesischen Gesellschaft nicht gefehlt haben. 

Jullien nennt hier keinen europäischen Philosophen als Gegenspieler etwa zu dem zitierten Chinesen namens Mencius. In der griechischen Philosophie hat etwa Aristoteles mit der Unterscheidung zwischen einem zweckgerichteten und einem selbstzweckhaften Tun, oder zwischen Herstellen und Handeln, ene zumindest ähnliche Problematik aufgeworfen, wie wir sogar in der Metaphysik feststellen konnten - IX, 1048a 18ff.

Jullien hat dieses Buch wohl vor allem für "uns" Europäer geschrieben, um uns auf gewisse Einseitigkeiten "unseres" Denkens hinzuweisen. Dagegen ließe sich an vielen Stellen darauf hinweisen, daß es in Europa sowohl in der Antike wie auch in der Neuzeit Denkansätze gibt, die über die von ihm aufgezeigten Schwächen hinausgehen. 

Doch er besteht darauf, daß manche beobachtbaren Entwicklungen, wenn man sie aus größerer Entfernung betrachtet, Ansätze zu ihrer Umkehrung aufweisen, also nicht auf Dauer auf eine Richtung festgelegt sind und daher Eingriffe sowohl in die eine wie auch in die andere oder aber in eine nochmals andere  Richtung erlauben - allerdings nur denen, die sie in ihrer Unauffälligkeit wahrzunehmen vermögen. 

Auf diese Weise macht sich Jullien ein bißchen über das westliche Krisengerede lustig. Wann hat die Krise in Europa angefangen? Was sind ihre Ursachen? Stattdessen empfehle es sich, auf die Punkte zu achten, in denen sich bereits Gegenwenden ankündigen. 

Walter Seitter
8. Jänner 2020

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