τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 17. Januar 2020

In der Metaphysik lesen (1052b 24-1053a 31)


Wenn das Erstaunen der Anfang des Philosophierens ist, empfiehlt es sich, die Lektüre des Buches X mit einem Erstaunen zu beginnen. Erstaunen darüber, dass das Eine als Überschrift ein philosophisches Thema bezeichnet. Im Deutschen funktioniert „ein“ als unbestimmter Artikel oder als Zahlwort. Den unbestimmten Artikel gibt es im Griechischen nicht und als Zahlwort taucht es in diesem Abschnitt erst nach einer anderweitigen Bestimmung auf.

Also muß die einleitende Erörterung des Wortes einem anderen Begriff gewidmet sein: nämlich dem Zusammenhängenden, insbesondere dem von Natur aus und nicht durch Bindunng Zusammenhängenden; in höherem Grade eins ist dasjenige, dessen Bewegung unzerlegbarer und einfacher ist; weiters ist dasjenige „einer“, das ein Ganzes ist und eine Gestalt und eine Form hat, insbesondere wenn es von Natur aus so ist und nicht durch Gewalt – etwa durch Leim oder Nägel oder Bänder; also wenn es die Ursache seines Zusammenhängens in sich selber hat. So weit die ersten Charakterisierungen dieses Einen: es wird mit mehreren Adjektiven umschrieben, hat also selber adjektivischen Charakter und ist folglich auch steigerbar.
Einfach, einheitlich, ganz, ganzheitlich – jeweils mehr oder weniger. Verblüffend die Einschätzung der künstlichen Zusammenfügung als gewaltsam, doch ihr Ergebnis ist eine schwächere Einheit – im Vergleich zum natürlich Zusammenhängenden. Die genannten technischen Zusammenfügungsmittel – Leim, Nägel, Bänder – lassen an Holzkonstrukte denken, die weniger stark zusammenhängen als ein Baum. Hier operiert Aristoteles mit physisch-technischen Begriffen, denen sogar ein mikropolitischer Sinn unterlegt wird. Dann charakterisiert er die Steigerung der Einheitlichkeit durch die erste Bewegung, also die Kreisbewegung. Anderes ist eines, wenn sein Begriff einer, wenn sein Denken eines ist, also unzerlegbar; und dieses Eine verschafft jedem Wesen seine Einheit.

Genau besehen implizieren alle diese Eine jeweils ein Auseinander, eine Vielheit. In einem Zusammenhang sind mehrere Teile zusammengefügt: entweder von vornherein zusammengefügt, etwa organisch gewachsen und immer noch wachsend wie im Falle des Baumes oder nachträglich künstlich und sozusagen gewaltsam durch die Arbeit des Tischlers zusammengezwungen (dass dieser Arbeit eine mindestens ebenso gewaltsame Auseinanderreißung vorausgegangen sein muß, versteht sich von selbst). In allen diesen Fällen steht dem Auseinander ein Einheitprinzip gegenüber, ein „erstes Eines“, von dem Aristoteles sagt, es sei unzerlegbar. Materialität und Quantität stehen auf der Seite der Vielheit. Das Unzerlegbare-Eine wird von Erkenntnis und Wissenschaft, zuvörderst von der Wesenserkenntnis geleistet, denn das Wesen gehört nach allem, was wir bisher gelesen haben, zum  Seiendsten, folglich auch zum Einsten. Aber die Dinge bestehen nicht nur aus dem jeweiligen Wesen, sondern auch aus dem Stoff.

Das Quantum wird durch das Maß erkannt – und letzlich durch die Zahl und das Eine. Den Begriff des Maßes hat man gleichwohl über die Zahl hinaus auf unterschiedliche Größen erweitert – so auf das Gewicht, das Flüssige und Feste, die Geschwindigkeit der Bewegung, den Viertelton in der Musik, den Laut in der Sprache, die Quadratseite und die Diagonale in der Geometrie.

Nicht alle Einheiten sind so unzerlegbar wie die Eins (oder Einzigkeit): wir erkennen das Wesen, indem wir die Dinge nach mehreren Parametern betrachten. Zusammenhängendes ist eigentlich immer teilbar. Jedes Maß gehört der Gattung des Gemessenen an und muß sich daher nicht auf eine Zahl reduzieren.

Walter Seitter
15. Jänner 2020

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