Wenn das Erstaunen der
Anfang des Philosophierens ist, empfiehlt es sich, die Lektüre des Buches X mit
einem Erstaunen zu beginnen. Erstaunen darüber, dass das Eine als Überschrift
ein philosophisches Thema bezeichnet. Im Deutschen funktioniert „ein“ als unbestimmter
Artikel oder als Zahlwort. Den unbestimmten Artikel gibt es im Griechischen
nicht und als Zahlwort taucht es in diesem Abschnitt erst nach einer
anderweitigen Bestimmung auf.
Also muß die einleitende
Erörterung des Wortes einem anderen Begriff gewidmet sein: nämlich dem
Zusammenhängenden, insbesondere dem von Natur aus und nicht durch Bindunng
Zusammenhängenden; in höherem Grade eins ist dasjenige, dessen Bewegung
unzerlegbarer und einfacher ist; weiters ist dasjenige „einer“, das ein Ganzes
ist und eine Gestalt und eine Form hat, insbesondere wenn es von Natur aus so
ist und nicht durch Gewalt – etwa durch Leim oder Nägel oder Bänder; also wenn
es die Ursache seines Zusammenhängens in sich selber hat. So weit die ersten
Charakterisierungen dieses Einen: es wird mit mehreren Adjektiven umschrieben,
hat also selber adjektivischen Charakter und ist folglich auch steigerbar.
Einfach, einheitlich,
ganz, ganzheitlich – jeweils mehr oder weniger. Verblüffend die Einschätzung
der künstlichen Zusammenfügung als gewaltsam, doch ihr Ergebnis ist eine
schwächere Einheit – im Vergleich zum natürlich Zusammenhängenden. Die
genannten technischen Zusammenfügungsmittel – Leim, Nägel, Bänder – lassen
an Holzkonstrukte denken, die weniger stark zusammenhängen als ein Baum. Hier
operiert Aristoteles mit physisch-technischen Begriffen, denen sogar ein
mikropolitischer Sinn unterlegt wird. Dann charakterisiert er die
Steigerung der Einheitlichkeit durch die erste Bewegung, also die
Kreisbewegung. Anderes ist eines, wenn sein Begriff einer, wenn sein Denken
eines ist, also unzerlegbar; und dieses Eine verschafft jedem Wesen seine
Einheit.
Genau besehen implizieren
alle diese Eine jeweils ein Auseinander, eine Vielheit. In einem Zusammenhang
sind mehrere Teile zusammengefügt: entweder von vornherein zusammengefügt, etwa
organisch gewachsen und immer noch wachsend wie im Falle des Baumes oder
nachträglich künstlich und sozusagen gewaltsam durch die Arbeit des Tischlers
zusammengezwungen (dass dieser Arbeit eine mindestens ebenso gewaltsame
Auseinanderreißung vorausgegangen sein muß, versteht sich von selbst). In allen
diesen Fällen steht dem Auseinander ein Einheitprinzip gegenüber, ein „erstes
Eines“, von dem Aristoteles sagt, es sei unzerlegbar. Materialität und Quantität
stehen auf der Seite der Vielheit. Das Unzerlegbare-Eine wird von Erkenntnis
und Wissenschaft, zuvörderst von der Wesenserkenntnis geleistet, denn das Wesen
gehört nach allem, was wir bisher gelesen haben,
zum Seiendsten, folglich auch zum Einsten. Aber die Dinge bestehen
nicht nur aus dem jeweiligen Wesen, sondern auch aus dem Stoff.
Das Quantum wird durch das
Maß erkannt – und letzlich durch die Zahl und das Eine. Den Begriff des Maßes
hat man gleichwohl über die Zahl hinaus auf unterschiedliche Größen
erweitert – so auf das Gewicht, das Flüssige und Feste, die Geschwindigkeit der
Bewegung, den Viertelton in der Musik, den Laut in der Sprache, die
Quadratseite und die Diagonale in der Geometrie.
Nicht alle Einheiten sind
so unzerlegbar wie die Eins (oder Einzigkeit): wir erkennen das Wesen, indem
wir die Dinge nach mehreren Parametern betrachten. Zusammenhängendes ist
eigentlich immer teilbar. Jedes Maß gehört der Gattung des Gemessenen an und
muß sich daher nicht auf eine Zahl reduzieren.
Walter Seitter
15. Jänner 2020
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