τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 22. Januar 2020

In der Metaphysik lesen (1053a 32 – 1054a 19)


Aristoteles differenziert den Begriff des Einen in vier Hinsichten: zum Zusammenhängenden, zum Ganzen, zum Einzelding, zum Allgemeinen (1052a 35). Mit den beiden ersten Bestimmungen wird es als Gegenpol zum Vielen installiert, der Vielheiten vereinheitlichen kann. Und es bleibt so in einer Unbestimmtheit zwischen Unzerlegbarem und Zerlegbarem, welche das Signum des ontologischen Begriffes zu sein scheint. Außerdem kristallisieren sich in der Erörterung zwei Begriffe heraus, denen klare Bedeutungen zukommen – die Zahl und das Maß. 

Wolfgang Koch stellt sich an meine Bücherwand und damit kann er zwei Messungen vornehmen: entweder nimmt er sich selber als Maß, um die Bücherwand zu messen, dann stellt er fest, dass diese um ein Stück höher ist als er selber, etwa um ein Drittel seiner Körperlänge; oder er betrachtet die Bücherwand, um sich selber zu messen, dann stellt er fest, dass er um ein gleiches Stück kleiner ist als jene. 

Da bauliche Anlagen dem Menschen dienen sollen, ist es sinnvoll, die menschliche Körpergröße ihnen als Maß zugrundezulegen. Diese bekommt damit eine normative Bedeutung, die jedoch nicht so „eng“ auszulegen ist, dass jede Tür genau 160 oder 170 oder 180 cm hoch sein soll.

Mit seinen Messtätigkeiten qualifiziert sich der Mensch als Erkennender und als solcher wird er auf einer höheren Ebene wiederum zum Maß der Sachen, wobei er genaugenommen sich doch von den Sachen messen lässt – denn seine Feststellungen über sie müssen sich nach ihnen richten, wie Aristoteles im Abschnitt 10 von Buch IX schon gesagt hat. Die Erkenntnis ist ein reziprokes Bestimmungsverhalten zwischen Erkennendem und Erkanntem. Damit bezieht sich Aristoteles auf den berühmten homo-mensura-Satz des Protagoras, der nur dann zutrifft, wenn mit dem Menschen ein wahrnehmender und wissender gemeint ist und nicht ein blinder oder sonst wie irrender. Wenn es bei den Menschen solche Unterschiede gibt, muß man darauf achten, welche man als Maß annimmt und welche nicht – das hat Aristoteles dann im nächsten Buch noch deutlicher ausgesprochen (XI, 1063a 4ff.)

Der folgende Abschnitt hat von meinem Übersetzer den Titel „Das Eine ist kein Wesen“ bekommen und dies scheint damit zusammenzupassen, dass das Eine bisher mehrmals der Quantität und der Qualität angenähert worden ist, die ja zu den Akzidenzien zählen. Wie verträgt sich das mit meiner Annahme, dass Aristoteles hier das Eine als ontologischen Begriff einführt? Es würde sich nur dann nicht damit vertragen, wenn man die Akzidenzien ihreseits nicht als ontologische Bestimmungen gelten ließe – aber was sind sie sonst?

Doch in scheinbarem Widerspruch zum Titel eröffnet Aristoteles den Abschnitt 2 mit dem Vorsatz, jetzt das Wesen und die Natur des Einen untersuchen zu wollen. Und dabei handle es sich um die Frage, ob das Eine selber ein Wesen sei (wie zuerst die Pythagoreer und dann Platon sagten) oder ob ihm eine Natur zugrunde liege und wie man sich darüber verständiger äußern soll – etwa so wie die Naturphilosophen, die entweder die Liebe oder die Luft oder das Unendliche für das Eine ansehen.
Die erste dieser beiden Alternativen wird von Aristoteles glatt verworfen, und zwar unter Bezugnahme auf frühere Ausführungen. Das Eine ist kein Wesen neben den Vielen, es ist ein Gemeinsames; es ist nur ein Prädikat – das, was ich zunächst als Adjektivhaftes bezeichnet habe. Es wird ebenso wie das Seiende so allgemein ausgesagt, dass es nicht nur die jeweilige Gattung meint sondern den einzelnen Arten und Individuen sozusagen kapillarisch nachfließt – bis hin zu den geringsten Einen (bzw. Entitäten).

Wie das Seiende ist auch das Eine nicht bloß das, was diese sehr allgemeinen Wörter direkt besagen. Bei den Farben ist das Eine jeweils eine bestimmte Farbe. Bei den Tönen wäre es eine Zahl – aber nicht eine Zahl an sich sondern eine Anzahl von Vierteltönen. Und entsprechend bei den Lauten, bei den Figuren. Das Eine ist ein jeweils so oder so bestimmtes Eines, und nicht das Eine ist das Wesen – sondern die jeweilige qualitative Bestimmtheit, die in den genannten Beispielen immer eine materielle und wahrnehmbare ist, ergibt ein Wesen. Die Einen bzw. die Anzahlen gibt es in allen Kategorien (zu denen hier auch die Bewegung gerechnet wird) und folglich auch in der Kategorie des Wesens – etwa als farbiger Körper als gut komponiertes Gedicht oder Musikstück. In jeder Gattung ist das Eine eine bestimmte Natur und keineswegs ist das Eine selbst eine Natur. Das „ein“ wie das „seiend“ sind so notwendige Implikationen, dass sie gar nicht immer verbalisiert werden müssen. Wenn man sagt „ein“ Mensch (und „ein einheitlicher Mensch“ meint), sagt man gar nicht mehr, als wenn man sagt „ein Mensch“. Das Eins-sein ist eben das Jedes-einzeln-sein. (1054a 19) Desgleichen fügt auch das Sein nichts zum Was, zum Quale, zum Quantum hinzu.(1054a 18) Daher muß man auch das „seiend“ nicht zum Menschen dazu sagen. 



Das Sein fügt zum Was, zum Quale usw. nicht deswegen nichts hinzu, weil es sich diesen Differenzierungen immer schon angeschmiegt hat: pollachos legetai
Heißt das, dass die Explikation dieser ontologischen Bestimmungen auch für solche Sprachen sinnvoll ist, die über derartige Wörter nicht verfügen (vielleicht das Sein in China) oder sie nur in abgeschwächter Weise verwenden (wie das „ein“ im Deutschen?). Dann hätte diese Ontologie eine sprachanalytische und beinahe -verbessernde Funktion. 

Und innerhalb der Ontologie stellt sich die Frage, ob die Paralellisierung von Seiendem und Einem (um eine Identifizierung handelt es sich nicht), die zuletzt vorgefundene Zusammenfassung in 1051a 34ff. nun so zu vervollständigen ist, dass sie heißen müsste: das Seiende wird nach den Kategorien, nach Vermögen oder Verwirklichung, nach Wahr oder Falsch – und nach dem Einen (oder Vielen?) ausgesagt. 
Es handelt sich um allgemeinste und flexibelste Bestimmungen, die man später als „Transzendentalien“ bezeichnet hat. Eine etwas hochtrabende Bezeichnung, die ihren trivialen also durchgängigen Charakter eher überdeckt.

Walter Seitter

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