Aristoteles differenziert
den Begriff des Einen in vier Hinsichten: zum Zusammenhängenden, zum Ganzen,
zum Einzelding, zum Allgemeinen (1052a 35). Mit den beiden ersten Bestimmungen
wird es als Gegenpol zum Vielen installiert, der Vielheiten vereinheitlichen
kann. Und es bleibt so in einer Unbestimmtheit zwischen Unzerlegbarem und
Zerlegbarem, welche das Signum des ontologischen Begriffes zu sein scheint. Außerdem
kristallisieren sich in der Erörterung zwei Begriffe heraus, denen klare
Bedeutungen zukommen – die Zahl und das Maß.
Wolfgang Koch stellt sich
an meine Bücherwand und damit kann er zwei Messungen vornehmen: entweder nimmt
er sich selber als Maß, um die Bücherwand zu messen, dann stellt er fest, dass
diese um ein Stück höher ist als er selber, etwa um ein Drittel seiner
Körperlänge; oder er betrachtet die Bücherwand, um sich selber zu messen, dann
stellt er fest, dass er um ein gleiches Stück kleiner ist als jene.
Da bauliche Anlagen dem
Menschen dienen sollen, ist es sinnvoll, die menschliche Körpergröße ihnen als
Maß zugrundezulegen. Diese bekommt damit eine normative Bedeutung, die jedoch
nicht so „eng“ auszulegen ist, dass jede Tür genau 160 oder 170 oder 180
cm hoch sein soll.
Mit seinen Messtätigkeiten
qualifiziert sich der Mensch als Erkennender und als solcher wird er auf einer
höheren Ebene wiederum zum Maß der Sachen, wobei er genaugenommen sich doch von
den Sachen messen lässt – denn seine Feststellungen über sie müssen sich nach
ihnen richten, wie Aristoteles im Abschnitt 10 von Buch IX schon gesagt hat.
Die Erkenntnis ist ein reziprokes Bestimmungsverhalten zwischen Erkennendem und
Erkanntem. Damit bezieht sich Aristoteles auf den berühmten homo-mensura-Satz
des Protagoras, der nur dann zutrifft, wenn mit dem Menschen ein wahrnehmender
und wissender gemeint ist und nicht ein blinder oder sonst wie irrender. Wenn
es bei den Menschen solche Unterschiede gibt, muß man darauf achten, welche man
als Maß annimmt und welche nicht – das hat Aristoteles dann im nächsten Buch
noch deutlicher ausgesprochen (XI, 1063a 4ff.)
Der folgende Abschnitt hat
von meinem Übersetzer den Titel „Das Eine ist kein Wesen“ bekommen und dies
scheint damit zusammenzupassen, dass das Eine bisher mehrmals der Quantität und
der Qualität angenähert worden ist, die ja zu den Akzidenzien zählen. Wie
verträgt sich das mit meiner Annahme, dass Aristoteles hier das Eine als
ontologischen Begriff einführt? Es würde sich nur dann nicht damit vertragen,
wenn man die Akzidenzien ihreseits nicht als ontologische Bestimmungen gelten
ließe – aber was sind sie sonst?
Doch in scheinbarem
Widerspruch zum Titel eröffnet Aristoteles den Abschnitt 2 mit dem Vorsatz,
jetzt das Wesen und die Natur des Einen untersuchen zu wollen. Und dabei handle
es sich um die Frage, ob das Eine selber ein Wesen sei (wie zuerst die
Pythagoreer und dann Platon sagten) oder ob ihm eine Natur zugrunde liege und
wie man sich darüber verständiger äußern soll – etwa so wie die
Naturphilosophen, die entweder die Liebe oder die Luft oder das Unendliche für
das Eine ansehen.
Die erste dieser beiden
Alternativen wird von Aristoteles glatt verworfen, und zwar unter Bezugnahme
auf frühere Ausführungen. Das Eine ist kein Wesen neben den Vielen, es ist ein
Gemeinsames; es ist nur ein Prädikat – das, was ich zunächst als Adjektivhaftes
bezeichnet habe. Es wird ebenso wie das Seiende so allgemein ausgesagt, dass es
nicht nur die jeweilige Gattung meint sondern den einzelnen Arten und
Individuen sozusagen kapillarisch nachfließt – bis hin zu den geringsten Einen
(bzw. Entitäten).
Wie das Seiende ist auch
das Eine nicht bloß das, was diese sehr allgemeinen Wörter direkt besagen. Bei
den Farben ist das Eine jeweils eine bestimmte Farbe. Bei den Tönen wäre
es eine Zahl – aber nicht eine Zahl an sich sondern eine Anzahl von
Vierteltönen. Und entsprechend bei den Lauten, bei den Figuren. Das Eine ist
ein jeweils so oder so bestimmtes Eines, und nicht das Eine ist das Wesen –
sondern die jeweilige qualitative Bestimmtheit, die in den genannten Beispielen
immer eine materielle und wahrnehmbare ist, ergibt ein Wesen. Die Einen bzw.
die Anzahlen gibt es in allen Kategorien (zu denen hier auch die Bewegung
gerechnet wird) und folglich auch in der Kategorie des Wesens – etwa als
farbiger Körper als gut komponiertes Gedicht oder Musikstück. In jeder Gattung
ist das Eine eine bestimmte Natur und keineswegs ist das Eine selbst eine
Natur. Das „ein“ wie das „seiend“ sind so notwendige Implikationen, dass sie
gar nicht immer verbalisiert werden müssen. Wenn man sagt „ein“ Mensch (und „ein
einheitlicher Mensch“ meint), sagt man gar nicht mehr, als wenn man sagt „ein
Mensch“. Das Eins-sein ist eben das Jedes-einzeln-sein. (1054a 19) Desgleichen
fügt auch das Sein nichts zum Was, zum Quale, zum Quantum hinzu.(1054a 18)
Daher muß man auch das „seiend“ nicht zum Menschen dazu sagen.
Das Sein fügt zum Was, zum
Quale usw. nicht deswegen nichts hinzu, weil es sich diesen Differenzierungen
immer schon angeschmiegt hat: pollachos legetai.
Heißt das, dass die
Explikation dieser ontologischen Bestimmungen auch für solche Sprachen sinnvoll
ist, die über derartige Wörter nicht verfügen (vielleicht das Sein in
China) oder sie nur in abgeschwächter Weise verwenden (wie das „ein“ im
Deutschen?). Dann hätte diese Ontologie eine sprachanalytische und beinahe -verbessernde
Funktion.
Und innerhalb der
Ontologie stellt sich die Frage, ob die Paralellisierung von Seiendem und Einem
(um eine Identifizierung handelt es sich nicht), die zuletzt vorgefundene
Zusammenfassung in 1051a 34ff. nun so zu vervollständigen ist, dass sie heißen
müsste: das Seiende wird nach den Kategorien, nach Vermögen oder Verwirklichung,
nach Wahr oder Falsch – und nach dem Einen (oder Vielen?) ausgesagt.
Es handelt sich um
allgemeinste und flexibelste Bestimmungen, die man später als
„Transzendentalien“ bezeichnet hat. Eine etwas hochtrabende Bezeichnung, die
ihren trivialen also durchgängigen Charakter eher überdeckt.
Walter Seitter
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