τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 27. Januar 2021

In der Metaphysik lesen (1069b 8 – 34)

Neuerscheinungen

 

Somatismus in philosophischen Anthropologien (Erich Voegelin, Helmuth Plessner 1922-1934), in: Mario Marino (Hg.): Körper, Leibidee und politische Gemeinschaft. „Rasse“ und Rassismus aus der Sicht der Philosophischen Anthropologie (Nordhausen 2020)

 

Topik, Physik, Dramatik des Menschenkörpers. Bei Helmuth Plessner, in: Macht-Knoten-Fleisch. Topographien des Körpers bei Foucault, Lacan und Merleau-Ponty (Berlin 2020)

 

In diesen Buchtiteln, vor allem im zweiten, erscheint das Wort „Körper“ mit der automatischen Unterstellung, dass es den menschlichen Körper bedeuten soll, auch wenn das nicht deutlich signalisiert wird. Darin kommt ein narzisstischer Anthropozentrismus zum Zug, der sich seit dem 20. Jahrhundert verstärkt hat. Demgegenüber haben wir in der 15. Zeile des Buches XII gesehen wie Aristoteles zum Begriff des Körpers kommt: er bezeichnet das Gemeinsame aus verschiedenen Elementen wie Feuer und Erde – entweder mehr physikalisch durch Mischung oder mehr logisch als Allgemeines. Meinem Beitrag zum zweiten Band habe ich das Spinoza-Motto „Omnia corpora in quibusdam conveniunt“ vorangestellt.

 

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Der Salzburger Schnürlregen, dem vor einiger Zeit von Wolfgang Koch die Ehre zugesprochen worden ist, eines meiner Aristoteles-Interpretamente, nämlich die „Seinsmodalitäten“, zu symbolisieren, hat vor kurzem so gute Arbeit geleistet, daß er den Kapuzinerberg, den zweiten der Salzburger Stadtberge, so ein bißchen aufgeweicht hat, daß sich ca. 60 Tonnen Gestein gelöst haben, und um 6 Uhr 8 das direkt an seinem Fuß stehende Stadtarchiv ziemlich schwer beschädigt haben, indem sie in den Lesesaal im Erdgeschoß eingedrungen sind und dort Gott sei Dank niemanden verletzt, auch keine wertvollen Archivalien beschädigt, sondern nur ein paar Möbel und Computer zerstört haben. Der Schadensfall ist auch deswegen heikel, weil die Rückseite des Gebäudes, durch die der Felssturz eingedrungen ist, so knapp am steilen Berghang steht, daß dort kaum ein Bagger auffahren kann, um eine ordentliche „Baustelle“ zu schaffen. 

 

Den Hintergrund dieses Vorfalls bildet die Tatsache, daß das Stadtarchiv, das sich jetzt großtönend „Haus der Stadtgeschichte“ nennt, im Jahr 2003 diese neue Unterkunft bezogen hat, die einem bekannten Architekturtrend folgend über keine Außenmauern verfügt, sondern überhaupt nur Glaswände aufweist, um sich nach außen zu positionieren. Das gilt sowohl für die langgestreckte Fassade zur Straße hin wie auch für die ebenso lange Rückseite ganz knapp an beziehungsweise unter dem steil aufragenden Berg. 

 

Ausgerechnet das Stadtarchiv hat so wenig Salzburg-Wissen, daß es sein neues Quartier dermaßen nicht gemauert, dermaßen eigentlich nicht „gebaut“ hat - sondern  bei einer Glasfabrik so und so viele, so und so große Glasplatten bestellt hat und dann aufgestellt hat. Die Mauer-Verweigerung, die Stein-Verleugnung hat ausgerechnet in Salzburg und ausgerechnet an so einer heiklen, ja salzburg-typischen Stelle Platz gegriffen.

 

Denn Salzburg wurde ungefähr seit dem 7. Jahrhundert unmittelbar am Felsen des ersten Stadtberges, des Mönchsbergs, gegründet und erbaut: mit der klösterlichen Niederlassung, die den Namen St. Peter, wörtlich übersetzt "Heiliger Stein", erhielt.[1] Die gesamte sogenannte Altstadt wurde unter dem vertikal aufragenden Felsen errichtet und größere Gebäude wie zum Beispiel der Dom im 17. Jahrhundert wurden aus diesem Konglomerat erbaut. Die Symbiose zwischen dem Berg und der Stadt ist so eng, daß auch die Gefahren, die sich daraus ergeben, seit langem bekannt sind. Regelmäßig werden die Stadtberge von sogenannten „Bergputzern“, die wie Alpinisten agieren, kontrolliert und gesichert. 

 

 

Im Bauwesen den Stein vergessen, vermeiden, verleugnen - das habe ich vor vielen Jahren einmal als eine Spielform der „Anarchitekur“ bezeichnet.[2]

 

Die Stein-Vergessenheit rächt sich: der Stein kommt hinten durchs Glas leicht herein. 

 

 

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Die Rede von den „drei Wesen“ (1069a 30ff.) bezieht sich nicht auf irgendwelche drei Instanzen, Personen oder dergleichen, sondern auf drei sehr weit gefasste „Sorten“ von Wesen, die innerhalb des Kosmos festzustellen sind und verschiedene Wissenschaften erfordern bzw. beschäftigen. Dieser Überblick erinnert einigermaßen an denjenigen, der im Abschnitt 7 von Buch XI gegeben worden ist und dort zu den Erörterungen über Bewegung und Veränderung übergeleitet hat. 

 

Jetzt interessiert sich der Text wiederum für die wahrnehmbaren Wesen, also für die beweglichen und veränderlichen, somit für die physischen. Das nur kurz angedeutete immerwährende Wesen wird gleich wieder vergessen oder beiseitegeschoben. Wenn diese hier durchgeführte Untersuchung „Metaphysik“ heißen sollte, so betätigt sie sich doch in Bezug auf ein eventuelles Überphysisches hauptsächlich als leere Ankündigung, Ausweichmanöver, Vermeidungstaktik, Wille zum Aufschub oder Unfähigkeit zu einem angeblich ins Auge gefassten Ziel, zu einem unmöglichen Finden, zu einem illusorischen Fund. Wie auch sollte eigentlich etwas Unwahrnehmbares ins Auge gefasst werden? Wenn es unwahrnehmbar ist, dann wäre es ja nicht bloß unsichtbar, sondern auch unhörbar und unberührbar - von Duft und Geschmack ganz zu schweigen. Im vorletzten November haben wir gesehen, wie sich Aristoteles im Buch vom Werden und Vergehen mit der Tatsache herumschlägt, dass sogar einige Körper, die klassifikationsgemäß wahrnehmbar sein müssten, in dieser Hinsicht Schwächen aufweisen, da sie unsichtbar sind und beinahe unwahrnehmbar (siehe 318ff.).

 

Also landet der Text wieder bei so etwas wie Physik, obwohl bzw. weil diese Wissenschaft von Aristoteles selber ja längst ausgearbeitet worden war und diese Ausarbeitung im Buch XI bereits wieder und wieder aufgegriffen, abgewandelt, doublettiert worden ist (was eine Aristotelismus-Koryphäe dazu ermächtigt hatte, dieses Buch zu verwerfen). 

Allmählich sollte dieses ständige Zurückgreifen und Wiederholen zumindest „psychologisch“ verständlich werden, ich meine jetzt „textpsychologisch“. Der Text „möchte“ eine neue, eine weiterführende Ebene erreichen, eine Erkenntnis über eine andere, eine zusätzliche, eine andersartige Realität oder dergleichen erringen. Die im Buch I schon einigermaßen umrissen worden war – als göttliches Wissen vom Göttlichen. Aber dieser Umriss schien viel zu vage und vermutlich viel zu wenig wißbar-wissend. Es waren wohl nur ein paar Wörter aus irgendwelchen Überlieferungen. Dann hat der Text eine interessante und weitläufige Landschaft betreten und durchwandert, die nicht ganz identisch war mit der Physik, irgendwie zwischen Physik und Logik eine eigene Ebene halb entdeckt und halb erfunden, für die erst tausend Jahre später ein eigener Name aus der aristotelischen Syntax heraus geprägt worden ist: Ontologie. Von Buch IV bis Buch X währte diese langwierige Expedition (das Buch V nimmt zwar darin eine Sonderstellung ein – aber sein lexikographischer und begriffsanalytischer Charakter verleiht ihm eine charakterliche Nähe zur Ontologie).

Charakter? Ja – es geht um ein Verhalten, um eine Physiognomie des Textes, der seit dem Buch I etwas sucht. Etwas möchte.

Was heißt dieses „möchte“? Es ist ein Konjunktiv, der dem Irrealis näher steht als dem Realis. Und es ist der Konjunktiv zu zwei Verben, die ihre Zweiheit im deutschen Wort „mögen“ verstecken. Denn dieses Wort bedeutet im Neuhochdeutschen so etwas wie „wollen“, „lieben“, „vorziehen“, „gern tun“, „gernhaben“. Also begehrend, verlangend, liebend tun. 

Doch „mögen“ heißt noch etwas, was ich als Kind bei manchen bäuerlichen Leuten im Salzburgischen oder wo gehört habe, denn ich stamme so wie jeder aus vielen Gegenden und da hört man mehr Wörter als es gibt und mehr Bedeutungen als erlaubt sind. Jenes „mögen“ heißt auch können und vor allem wurde es resignierend ausgesprochen: i mog ned = ich kann leider nicht. Ein Versagen der Kraft, das jeder kennt, der es nicht gemäß irgendeiner sogenannten Teleologie zu einem potenten Potentaten gebracht hat. 

So ein „möchten“ mitsamt einigem Nicht-Können legt der Text nun wieder an den Tag, wenn es ihm nicht gelingt, eine zusätzliche Realitätsebene zu bestimmen und zu erläutern. Und sich stattdessen mit neuerlichen Wiederholungen in ein Gestrüpp aus Physik und Ontologie versteigt.

Für das erfolglose „möchten“ hat Aristoteles das Wort „Aporie“, dem er ein ganzes Buch gewidmet hat: das Buch III mit den fünfzehn Aporien, die seriell genannt und angeblich erledigt worden sind. Aber das war nur eine übungshafte, eine simulatorische Lösung von beispielhaft genannten Aporien. Wie er dort auch dargelegt hat, können Aporien nur durch „Diaporien“, durch Durchmachen und Durchgehen, aufgelöst oder zumindest aufgelockert werden. Frei nach Freud: erinnern, wiederholen, durcharbeiten.

Weniger im Buch III als vielmehr im Buch XI und auch jetzt wieder im Buch XII stoßen wir auf so ein mühseliges wieder und wieder wiederholen. 

(Es könnte sein, dass die gesamte Ontologie (IV bis X) ein eher elegantes Ausweichmanöver, ein Sich-Drücken vor dem Aufstieg oder Einstieg in die Metaphysik gewesen ist – oder vielmehr ein umwegiges Durchmachen und Durchgehen, das die Suchbewegung der Metaphysik verschiebt oder modifiziert?)

Im Abschnitt 7 von Buch XII kreuzen sich Begrifflichkeiten aus mehreren Ebenen, die sich folgendermaßen anschreiben lassen:

physikalisch: Stoff, Form, Bewegung, Veränderung

ontologisch: seiend – nicht-seiend, möglich – wirklich

ätiologisch (genealogisch, archäologisch): Ursache, Prinzip

Die dritte Begriffsebene ist die vorwärts treibende, sie gibt die Stoßrichtung an, die im Text den Text vielleicht weiterführt.

 

Ursache und Prinzip werden zu Synonymen erklärt – und es soll drei davon geben: Form, Privation, Stoff (siehe 1069b 34).

 

 

Walter Seitter


[1] Wie Johannes Neuhardt neulich hervorgehoben hat, waren im Mittelalter auch die Salzburger Dombauten dem Hl. Petrus geweiht. 

 

[2] Walter Seitter: Zur Architektur (Monarchitektur, Anarchitektur, Pararchitektur). In: Marc Mer (Hg.): Translokation. Der ver-rückte Ort. Kunst zwischen Architektur (Wien 1994)

Mittwoch, 20. Januar 2021

In der Metaphysik lesen (1069a 30 – 1069b 8)

 Auch das heutige Aristoteles-Lesen ist von aktuellen Tatsachen (oder Tätern) umgeben, die man als philosophienah in irgendeinem Sinn bezeichnen kann. (Sie alle finden in dem „All“ statt, das Aristoteles anscheinend am Beginn des Buches XII eingeführt hat.)

Da ist zum einen die Angelobung des neuen amerikanischen Präsidenten. Deren Inszenierung bzw. Fern(seh)erscheinung machte deutlich, dass der Präsident zwar nur einer ist, aber die Angelobung und das ganze Drumherum inkludiert eine Menge von Mitwirkenden, ja von Kollegen, Vize- und Präpräsidenten mitsamt Ehefrauen oder –männern. Das Wort „Präsident“ zeigt ja schon an, dass ein Präsident kein alleiniger sein kann. Er präsidiert vor anderen, gegenüber anderen – er heißt ja nicht Sident sondern Präsident. Insofern er Vorgänger hat, ist er selber ein Nachfolger, ein Postsident. Aus gutem Grund (siehe den Kommentar zum 6. Jänner) betonte er: „Es gibt die Wahrheit und die Lüge“ – womit er eine Ontologie-Dimension zur Sprache gebracht hat, die wir an einem hiesigen Mittwoch kontrovers diskutiert haben; denn Aristoteles sagt, du bist nicht deswegen weiß (beispielsweise), weil wir wahrheitsgemäß sagen, du seiest weiß, sondern eine solche Aussage ist deswegen wahr, weil du weiß bist. (Siehe 1051b 7ff.)

 Und im Zweiten Deutschen Fernsehen bei Markus Lanz war die mit einem steilen blonden Haarschopf bekrönte Philosophin Svenja Flaßpöhler zu Gast und plädierte mit der „Präsenz des Todes“ dafür, aus dem Leben mehr zu machen als die Abwehr des Todes; denn der Mensch ist ein sterbliches Lebewessen, nicht ein lebendes Todeswesen. (Siehe Martin Heidegger). Das vergängliche Lebewesen ist eines der „drei Wesen“, die hier – zum ersten Mal? – als solche genannt werden. 

„Wesen aber gibt es drei – einerseits das wahrnehmbare, von dem eines das immerwährende und das andere das vergängliche ist, über welches alle übereinstimmen, zum Beispiel Pflanzen und Tiere, und von welchem die Elemente zu erfassen sind (sei es, dass es nur eines ist oder dass es viele sind); andererseits gibt es das bewegungslose Wesen, von dem die einen sagen, es sei ein selbständiges Wesen, andere scheiden es in zwei Arten und setzen die Formen und die mathematischen Dinge als eine Natur oder sie setzen nur die mathematischen Dinge dafür ein. Jene ersten beiden Wesen gehören zur Naturwissenschaft, denn sie sind mit Bewegung verbunden; das dritte gehört zu einer anderen Wissenschaft, sofern es nicht über ein mit jenen gemeinsames Prinzip verfügt.“ (1069a 30ff.)

Rätselhafter Satz von den drei Wesen – der nach den ziemlich missglückten und wieder aufgegebenen Formeln vom ersten und vom zweiten Wesen eine neuerliche Mathematisierung des Wesensbegriffs versucht und damit dem Anschein entgegentritt, „Wesen“ sei so ein erhabener Begriff, dass er eigentlich nur im Singular gebraucht werden könne. Liest man die ganze Passage, so verliert sich auch die Vermutung, mit der Dreizahl sei irgendeine heilige Zahl festgeschrieben. Vielmehr ergibt sich diese aus der Überschneidung verschiedener physischer Qualitäten wie Wahrnehmbarkeit, Beweglichkeit, Vergänglichkeit, Selbständigkeit und deren Gegenteilen. Was wahrnehmbar und beweglich ist, ist auch selbständig, kann jedoch immerwährend sein oder vergänglich. Was unbeweglich und unwahrnehmbar ist, ist vielleicht selbständig oder vielleicht „nur“ mathematisch – ein gewissermaßen aristotelisches „nur“. Das übrigens nach dem Buch XII noch weiter problematisiert werden wird, denn das Buch XII schließt mitnichten die Metaphysik ab – deren literarische Mathematik folgt auch nicht irgendeiner heiligen Zahl. 

Vom Beweglichen und vom Vergänglichen ist auch noch das Veränderliche zu unterscheiden – wenngleich es mit jenen Eigenschaften häufig zusammentreffen mag. Jedenfalls trifft es mit dem Wahrnehmbaren zusammen. Und dieses Zusammentreffen hat seine besondere Wichtigkeit, weil damit eine gewisse Erkennbarkeit für uns gegeben ist. Und ohne eine Erkennbarkeit für uns wäre jede Rede von irgendwelchen Wesen oder Nicht-Wesen leerer Schall (und nicht einmal Schall ...).

Der Text greift auf ein Nicht-Wesen zurück, das im vorigen Abschnitt genannt worden war: das Nicht-Weiße (1069b 5), das man als eine Privation betrachten könnte, wenn sämtliche Eigenschaften als irgendwelchen Normen entsprechend oder nicht entsprechend gesehen würden; als konträres Gegenteil zu Weiß wäre das Nicht-Weiße das Schwarze und würde dann vielleicht als sehr mangelhaft beurteilt werden; etwas Rotes oder Gelbes wäre dann ein kontradiktorisches Gegenteil und würde vielleicht milder beurteilt. Aristoteles aber schlägt hier sozusagen aus Übermut ein noch viel kontradiktorischeres Gegenteil vor, nämlich die Stimme als solche, und die wird man schwerlich als irgendeinen Mangel empfinden können. Mangelhaft können natürlich bestimmte Ausprägungen der Stimme sein, also solche oder solche „Gegenteile“. Die aber verändern sich nicht, sondern bei einer Veränderung werden sie durch andere ersetzt. Unter ihnen hält sich etwas durch – und dafür setzt Aristoteles hier ein „neues“ Wort ein: hypeinai – druntersein, zugrundeliegen. Ein anderes Wort für „sein“. 

 

Der aristotelische Sprung vom Nicht-Weißen zur Stimme erinnert mich an die sehr junge Dichterin Amanda Gorman, die bei der amerikanischen Präsidenten-Inauguration vor dem Kapitol am heutigen 20. Jänner 2021 ihr Gedicht „When We Climb the Hill“ vortrug.

Mit dieser ehrenvollen Aufgabe wird sie gewiß zur Poeta Laureata gekürt worden sein. Ein Titel, der auf antike und mittelalterlche Dichterkrönungen zurückgeht und der übrigens in Wien durch den Philosophen Konrad Celtis eine gewisse Akademisierung erfahren hat.[1]

Amanda Gorman ist eine „Schwarze“, sie war geschmückt mit Rot, Gelb und Gold. Diese besondere heraldische Farbe trug und zeigte sie mit einem großen Ring an der rechten Hand – dessen Gold von Washington bis nach Wien herüberfunkelte (und ich habe denn auch die Spektralanalyse dieses Funkelns hier ausgedruckt).[2]

 

 



Sie hat also ihre visuelle Wahrnehmbarkeit aufs äußerste gesteigert. Aber ihre Stimme übertraf alles: ein Hymnus auf die Zukunft Amerikas, der allerdings den aktuellen und lokalen Bezug nicht aussparte. Denn genau vierzehn Tage zuvor war das Kapitol Objekt und Ort eines pittoresken und brutalen und nicht ganz geglückten Putschversuchs, dessen dramatische Bearbeitung in einer Tragödie (oder Komödie?) wohl den Titel „Die Horde“ tragen würde

 

Walter Seitter




[1] Siehe Walter Seitter: The Mathematical-Poetic Renaissance in Austria (Johannes von Gmunden, Georg von Peuerbach, Regiomontanus, Conrad Celtis), in: Czech and Slovak Journal of Humanities. Philosophica 1/2016. 

 

[2] Siehe Thomas Posch: Strnenfunkeln, in: Sehen und Sagen. Ein Buch für Walter Seitter (Wien 2016): 197-201.

Mittwoch, 13. Januar 2021

In der Metaphysik lesen

 

13. Jänner

 

Zweifaches Nachwort zum 6. Jänner

 

Die katholische Kirche feiert am 6. Jänner das Fest der Erscheinung des Herrn - oder Epiphania Domini. Das Missale Romanum nennt dieses Fest in seinem Kirchenlatein mit dem griechischen Wort, einem Grundwort des antiken griechischen Weltverständnisses, welches auch impliziert, dass die Götterverehrung nicht auf Offenbarung, Selbstoffenbarung eines Gottes beruht, sondern auf mehr oder weniger deutlichem Erscheinen göttlicher Kräfte, welches von menschlichem Bilden und Sprechen gefasst werden musste. 

 

Das Evangelium dieses Festes (Matth. 2 , 1-21) gehört zwar zum Text der Offenbarung, aber die von ihm erzählte Geschichte vermeidet jeden emphatischen Offenbarungsanspruch.

 

Morgenländische Weise, die auf das Sehen von Himmelserscheinungen spezialisiert sein mochten, sahen einen auffälligen Stern und erkannten in ihm den Wegweiser zu einem neugeborenen König der Juden. Sie folgten dem Stern und kamen nach Jerusalem, wo sie nicht weiterwussten. Daher gingen sie zum König des Landes und fragten ihn nach seinem mutmaßlichen Nachfolger. Der aber wusste von nichts und schöpfte Verdacht und bat die merkwürdigen Fremden, ihm dann zu berichten, wenn sie fündig geworden seien. Diese gerieten schon dadurch in die Position von Königen, von fremden Kollegen. Seither firmieren sie als Heilige Drei Könige, denn sie verrieten den kleinen Jesus nicht, dessen Familie sich alsbald nach Ägypten absetzte, um sein Leben zu retten. Der jüdische König aber rottete die Generation der Babys aus.

Ungefähr 33 Jahre später war aus dem Kind ein Wanderprediger geworden, der beim Volk Anklang fand, bei der Obrigkeit aber unbeliebt war. Eines Tages ritt er auf einem jungen Esel in Jerusalem ein, bejubelt wie ein König. Wenig später wurde es der jüdischen Obrigkeit zu viel, sie verhaftete und misshandelte ihn und lieferte ihn der römischen Obrigkeit aus, da er als König der Juden die Autorität des römischen Kaisers in Frage stelle. Der römische Prokurator führte ein Gespräch mit ihm und erfuhr, dass er sich zwar als König verstehe – aber nicht als weltlicher König, sondern als die Wahrheit selbst. Damit konnte der vielleicht ciceronisch, also aristotelisch gebildete Römer gar nichts anfangen und wollte ihn freilassen. Doch die jüdischen Volksvertreter zwangen ihn, Jesus zu kreuzigen. Immerhin brachte er über ihm eine Schrifttafel an, die ihn als „König der Juden“ festschrieb. Als einige Juden dagegen protestierten, beharrte er auf seinem Schriftstellertum: „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.“ (Joh. 19,22)

 

Wie die Geschichte von diesem König, die mit den Heiligen Drei Königen begonnen hatte, mit einer ziemlich schwachen Herrenerscheinung, die ihn beinahe damals schon das Leben gekostet hätte, und keineswegs mit einer großartigen Theophanie, weitergegangen ist, ist bekannt.[1]

 

Und jetzt noch zum 6. Jänner 2021. Da geschah in der amerikanischen Hauptstadt etwas, wodurch sich der amerikanische Präsident, immerhin ein mächtigster Staatsmann, halb freiwillig, halb unfreiwillig, offenbarte. Nicht im Sinn einer Offenbarungsreligion, sondern im Sinn einer staatsfeindlichen Monstrosität, die er damit aufgebaut hatte, dass er die Unterscheidung zwischen wahr und falsch konsequent verachtete. In gewissem Sinn ein philosophisches oder vielmehr ein misosophisches Ungeheuer. 

 

In mehrfacher Hinsicht ließe sich dieser aktuelle Präsident dem von Michel Foucault genannten Typ des „grotesken“ oder „ubuesken“ Herrschers zuordnen, der „infamen Souveräntät“, für die Namen wie Nero oder Heliogabalus stehen und die für das Funktionieren des römischen Imperiums zeitweise geradezu typisch waren.[2] Foucault meint, dass diese Herrschertypen, die bekanntlich dann im 20. Jahrhundert bekannte Rollen gespielt haben und auch eine strukturelle Nähe zur Bürokratie aufweisen, nicht als pure Ausnahmeerscheinungen gelten können, sondern einen Grundzug der politischen Machtausübung verkörpern. Diese Figuren realisieren das konträre Gegenteil zum Ideal der Gerechtigkeit, die an die Wahrheit gebunden ist.[3] In der Französischen Revolution wurden der König wie auch die Königin mit allen nur möglichen Untaten und Perversitäten zu wahren Monstern ausstaffiert – und so zu Prototypen der gefährlichen und krankhaften Persönlichkeit, mit der Psychiatrie und  Strafvollzug seit dem 19. Jahrhundert zu tun haben.[4] „Das erste Monstrum, das ist der König.“[5]

 

Der Marquis de Sade, der sich zwischen dem König und dem Revolutionär positioniert hat, hat Pierre Klossowski zufolge das Paradigma der „integralen Monstrosität“ in jeder Hinsicht perfekt ausagiert.[6]

 

                                *

 

(1069a 18-30) 

 

Wenn man nun auch das Buch XI mit Sorgfalt gelesen hat, dann hat man mitgekriegt, wie mühselig dieses erst dreihundert Jahre nach Aristoteles in Form gebrachte Werk seine eigene Form gefunden hat. Denn das Buch VI hatte bereits eine vorläufige Übersicht über die aus Ontologie (gar nicht so genannt) und Theologie (eigentlich nur genannt) zusammengebaute Erste Philosophie geboten – aber dann folgten erst die Bücher VII bis X mit ihren ziemlich ausführlichen Ausarbeitungen der Ontologie-Dimensionen.

 

Das Buch XI wiederholt und präzisiert die Gesamtübersicht über die gesuchte Wissenschaft, möchte ihr ebenfalls den Titel „Theologie“ geben, aber merkt doch, dass es damit den Inhalt der Bücher VII bis X entweder übersieht oder falsch benennt. Zwischen Abschnitt 7 und 8 dann der offen ausgesprochene Rückzieher (1064b 7) und ein Einbrechen in die Geschoße der unteren Seinsmodalitäten. In die Unterwelt der Philosophie: zum me on und zum Sophisten (1064b 28f.)

Es ist wie eine Peripetie im Drama – zu der ich interpretierend interpoliere: „flectere si nequeo superos acheronta movebo“.

 

Jetzt im Buch XII fällt ein neuer Ton auf, vorsichtig zwar und ohne großes Pathos. Zunächst nichts Neues und nur eine anscheinend geringfügige Zugabe:

 

Um das Wesen die Betrachtung; denn von Wesen werden die Prinzipien und die Ursachen gesucht. (1069a 18f.)

 

Ein erster Satz wie ein warmer Frühlingswindstoß. Der vielleicht eine Gegen-Peripetie ankündigt. Bloß eine neue Performanz? Was daran ist semantisch neu?

Daß den Wesen, die ja Prinzipien und Ursachen in sich selber enthalten, äußere Prinzipien und Ursachen zugesagt werden, sie somit in einen Außenraum gestellt, mit einem Außenraum konstelliert werden, der alsbald auch genannt wird: das All. 

 

Das Wesen wird als erster Teil des Alls situiert, weitere Teile sind das Quale und das Quantum, sodann auch die Negationen von Akzidenzien wie das Nicht-Weiße oder das Nicht-Gerade, die ja insofern noch als Seiende gelten können, als man von ihnen sagt, sie „seien“ nicht weiß oder nicht gerade. 

 

Mit seiner neuen Betrachtungsweise, die das Extensionale in den Vordergrund rückt, hat Aristoteles die minimalen Seinsmodalitäten nicht vergessen – auch sie bevölkern auf ihre Weise das All. 

Und er nimmt eine theoriehistorische Vergleichung vor: die alten Philosophen hätten nach den Prinzipien, Elementen und Ursachen des Wesens gesucht, die heutigen würden mehr Allgemeinheiten der Wesen ins Auge fassen und daher die Gattungen als deren Prinzipien annehmen; denn sie führen ihre Untersuchungen auf begriffliche, Aristoteles sagt wörtlich, auf „logische“ Weise. (1069a 29). Die Frühen hätten die Elemente als Einzeldinge sozusagen physikalisch untersucht, etwa Feuer oder Erde, ohne jedoch das Gemeinsame, und das wäre der Körper, der aus mehreren Elementenx gemischt ist, ins Auge zu fassen. Aristoteles scheint also dafür zu plädieren, die beiden Untersuchungsrichtungen, die naturphilosophische und die sokratisch-platonische, miteinander zu verbinden. Und im Begriff des Körpers sieht er das geeignete Mittelglied – das übrigens auch die beiden sozusagen Extrem-Begriffe Stoff und Form entlasten könnte. 

 

 

Walter Seitter




[1]  Die Kindheit Jesu wurde um 1200 in einem mittelhochdeutschen Versepos quasi theophanisch derart umgeschrieben, dass seine Allmächtigkeit jederzeit manifest war und das normale Leben durcheinanderbrachte. Siehe dazu Walter Seitter: Distante Siegfried-Paraphrasen. Jesus, Dietrich, Helmbrecht (Berlin 1993)

[2] Siehe Michel Foucault: Les anormaux. Cours au Collège de Fance. 1974-1975 (Paris 1999): 12ff. 

[3] Siehe op. cit.: 14ff. 

[4] Siehe op. cit.: 84ff. 

[5] Zum Fall des amerikanischen Präsidenten siehe auch Elias Canetti: Massensymbolde der Nationen: Amerikander, in: FAZ, 13. Jänner 2021; Ulrich Haltern: Präsident der Begierde. Aus der  Geschichte des Volkskörpers, ebd.

[6] Siehe Pierre Klossowski: Sade und Fourier, in: H. Ebner, I. Gurschler, W. Seitter (Hg.): Wörter, Bilder, Körper. Zu Pierre Klossowskis Lebendes Geld (Wien-Berlin 2018): 15ff. sowie andere Beiträge in diesem Band.

 

Supplement zur Minimalontologie II

Die Fokussierung/Streuung des Seienden als Seienden eröffnet ein riesiges und mehrdimensionales Spektrum, das vom Wesen zum Nicht-Seienden, von den Akzidenzien zu Vermögen und Verwirklichung, vom Einen und Vielen zum Werden und Vergehen und zu wahr oder falsch reicht. 

 

Alle diese Bestimmungen sind der Ontologie zuzurechnen, die im Buch IV formell begründet wird. Sie scheinen sich in einem nicht ganz glatten Feld zu verteilen und mehr oder weniger friedlich zu koexistieren.

 

Doch der Eindruck einer rein deskriptiven und statischen Ontologie hält nicht lange, denn einige der genannten Bestimmungen zerren und treiben die ebene Fläche in andere Dimensionen, sie graben Vertiefungen ein und werfen Höhen auf. Es setzt sich das Bild einer Landschaft durch, in der Veränderungen, Hin- und Her- und Auf- und Abbewegungen, Werden im Plural derart dominieren, dass die Sachverhalte, die von den ontologischen Bestimmungen abstrakt angedeutet werden, nach einer zusätzlichen Kategorie zu verlangen scheinen, die Aristoteles nicht als Kategorie einführt, sondern auf zwei andere Begriffe verteilt, die sich weitgehend überlappen und doch getrennt genannt werden, weil der eine Begriff, nämlich die Ursache, mit den Sachen eng verschmilzt, während der andere, das Prinzip, die Herrschaftsattitüde nicht aufgeben will. 

 

Vier Ursachensorten unterscheidet Aristoteles und außerdem vier Verursachungsbereiche oder -weisen. Sie alle gelten auch als Prinzipien. Als Prinzipien gelten ferner gewisse „bessere“ Kategorien wie das Wesen oder aber die Verwirklichung und außerdem etwas ganz anderes, nämlich so ein Prinzip, das die Form eines Axioms angenommen hat und von Aristoteles als „Sicherstes Prinzip“ bezeichnet wird, in unserer schlampigen Gelehrtensprache jedoch als „Satz vom Widerspruch“ firmiert. 

 

Im Buch IV wird nicht nur die eher deskriptive Betrachtung des Seienden als seienden und der ihm zukommenden Bestimmungen zum Programm erhoben sondern auch die Erfassung der „ersten Ursachen“ des Seienden als seienden (1003a 32) postuliert. Diese ordnet sich direkt in den explikativen (oder „metaphysischen“ im engeren Sinne) Zweig der „gesuchten Wissenschaft“ (983a 20) ein, welcher vom Gegebenen aus nach weiter Entferntem zu suchen hat, nach Voraussetzungen oder Bedingungen, die Aristoteles als „erste“ bezeichnet. Die Suche nach den „ersten Ursachen und den Prinzipien“ (981b 29) wird schon im Buch I als die allgemeine Aufgabe der Weisheit, die in eine Wissenschaft transformiert werden soll, festgesetzt.[1]

Die große Verzweigung in die deskriptive und in die explikative Metaphysik findet übrigens innerhalb der Ontologie-Gründung des Buches IV eine Analogie, da sich diese in eine assertorische oder schlicht behauptende und in eine elenchische oder widerlegend-beweisende teilt.[2]

Die explikative Seite der Metaphysik lässt sich in folgender sehr pauschaler Frage zusammenfassen: 

Warum gibt es das, was es gibt, und warum ist es so, wie es ist?

 

Eine derart aufs Ganze der Realität gehende Warum-Frage resümiert das Gesamtprogramm der aristotelischen Metaphysik in Kurzform.

Und diese sprachliche Fassung erinnert unmittelbar an die berühmte fundamentalontologische Frage, die von Gottfried Wilhelm Leibniz um das Jahr 1700 mehrmals gestellt worden ist: 

„Warum gibt es eher etwas und nicht vielmehr nichts?“ 

Diese verschärft allerdings die aristotelische Grundfrage der Metaphysik durch die Konfrontation des „etwas“ mit dem „nichts“ – das heißt sie radikalisiert ihre eigene implizite Ontologie „meontologisch“. 

 

Die damit aufgerissene Problematik ist sicherlich riesig und ich möchte sie hier nur skizzieren, indem ich aus einem Aufsatz über die Vorgeschichte der Leibniz-Frage referiere und speziell auf die aristotelische Position darin eingehe:

 

 

Jens Lemanski: ‚Cur Potius Aliquid Quam Nihil’ von der Frühgeschichte bis zur Hochscholastik.[3]

 

Die ersten griechischen Autoren, die Lemanski nennt, sind Hesiod mit seiner Theogonie, der Komiker Epicharmos, der Philosoph Parmenides von Elea und der Philosoph Melissos von Samos, zwischen denen Entstandensein oder Ewigkeit der Götter umstritten sind, wobei mit den Göttern solche wie Chaos, Erde, Himmel gemeint sind, also kosmische Entitäten. Gegen die Aussage, das Chaos sei als erstes von den Göttern entstanden, richtet Epicharmos die Frage, wie das möglich sein soll, wo es doch keinen Weg irgendeiner Entstehung gegeben habe. Lemanski betont, dass hier eine Wie-Frage, keine Warum-Frage gestellt werde. (26ff.)

 

In den Nomoi (891 ff.) nähert sich Platon mit der Seele als „Prinzip der Entstehung von allen Dingen“ der fundamentalontologischen Frage und ihrer Beantwortung. Der Timaios (28a 4-6) formuliert die „ägyptische Protologie“ in das Prinzip vom zureichenden Grund um: „Alles, was entsteht, muß aber nun aus einer Ursache notwendig entstehen; denn unmöglich kann etwas ohne Ursache entstehen.“

 

Später sollte Seneca dem Gott als Motiv für die Erschaffung der Welt seine Güte unterstellen. 

 

Doch meint Lemanski, wichtiger als Platon sei für das Heraufkommen der fundamentalontologischen Frage die Tatsache, dass Aristoteles den Kontingenzgedanken, etwas Seiendes könne auch nicht sein, auf das Sein selbst bezieht. So im Buch XII: 

 

„Allerdings eine Aporie. Man meint, das Wirkende vermöge alles, das Vermögende aber wirke nicht alles, so dass das Vermögen das Erste sei. Wenn dies so wäre, so gäbe es keines von allen Seienden; denn es ist möglich, dass etwas sein kann, ohne tatsächlich zu sein.“ (1071b 23-26)

 

Hier befinde ich persönlich mich in einer Aporie. Nicht nur habe ich die ersten Sätze ziemlich anders übersetzt als die anderen. Noch dazu verstehe ich sie nicht im Sinn der Schlußfolgerung, die Aristoteles aus ihnen zieht und die mir allerdings „aristotelisch“ zu sein scheint.

 

Aristotelisch und konvenient mit dem „und nicht vielmehr nichts“ der Leibniz-Frage. Daß das Vermögen in vielen Fällen der Verwirklichung faktisch vorausgeht, grundsätzlich aber die Verwirklichung als primär gedacht werden muß, ist im Buch IX ausführlich dargelegt worden. 

 

Den meontologischen Irrealis als Weg zum ontologischen Realis findet man bei Aristoteles so oft, dass man tatsächlich von einer Denknähe zu Leibniz sprechen kann.

 

So etwa in der 14. Aporie von Buch III: „Wenn die Elemente nur der Möglichkeit nach sind, so würde keines der Seienden existieren; denn möglich sein heißt (noch) nicht sein; dieses Nicht-Seiende wird; aus dem Unmöglichen wird nichts.“ (1003a 2-6)

Oder ein Satz aus der Kategorienlehre, der sich bereits aus der Minimalontologie erhebt: „Gibt es die primären Wesen nicht, so ist es unmöglich, dass es irgend etwas von den anderen Dingen gibt.“ (5, 2b 6a-b)

 

Dieses Supplement ist insofern sehr supplementär, als es den unteren Rand der Ontologie, die Meontologie, über sie hinaus und aufs Ganze der Realität zutreibt.

 

 

 

Walter Seitter

 


[1] Siehe dazu Ermylos Plevrakis: Aristoteles’ Suche nach der Ersten Wissenschaft. In: Grundlegung des Absoluten? Paradigmen aus der Geschichte der Metaphysik. Hrsg. v. Ermylos Plevrakis und Max Rohstock. Heidelberg 2019

[2] Siehe Walter Seitter: op. cit.: 89ff.

[3] In: D. Schubbe, J. Lemaanski, Rico Hauswald (Hg.): Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Wandel und Variationen einer Frage (Hamburg 2013). Seitenangaben beziehen sich auf dieses Buch. Ein anderer neuerer Sammelband ist der Diskussion einer bestimmten Antwort auf die Leibniz-Frage gewidmet: Nicholas Rescher: Why Is There Anything at All? (Freiburg/München 2018)