τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 20. Januar 2021

In der Metaphysik lesen (1069a 30 – 1069b 8)

 Auch das heutige Aristoteles-Lesen ist von aktuellen Tatsachen (oder Tätern) umgeben, die man als philosophienah in irgendeinem Sinn bezeichnen kann. (Sie alle finden in dem „All“ statt, das Aristoteles anscheinend am Beginn des Buches XII eingeführt hat.)

Da ist zum einen die Angelobung des neuen amerikanischen Präsidenten. Deren Inszenierung bzw. Fern(seh)erscheinung machte deutlich, dass der Präsident zwar nur einer ist, aber die Angelobung und das ganze Drumherum inkludiert eine Menge von Mitwirkenden, ja von Kollegen, Vize- und Präpräsidenten mitsamt Ehefrauen oder –männern. Das Wort „Präsident“ zeigt ja schon an, dass ein Präsident kein alleiniger sein kann. Er präsidiert vor anderen, gegenüber anderen – er heißt ja nicht Sident sondern Präsident. Insofern er Vorgänger hat, ist er selber ein Nachfolger, ein Postsident. Aus gutem Grund (siehe den Kommentar zum 6. Jänner) betonte er: „Es gibt die Wahrheit und die Lüge“ – womit er eine Ontologie-Dimension zur Sprache gebracht hat, die wir an einem hiesigen Mittwoch kontrovers diskutiert haben; denn Aristoteles sagt, du bist nicht deswegen weiß (beispielsweise), weil wir wahrheitsgemäß sagen, du seiest weiß, sondern eine solche Aussage ist deswegen wahr, weil du weiß bist. (Siehe 1051b 7ff.)

 Und im Zweiten Deutschen Fernsehen bei Markus Lanz war die mit einem steilen blonden Haarschopf bekrönte Philosophin Svenja Flaßpöhler zu Gast und plädierte mit der „Präsenz des Todes“ dafür, aus dem Leben mehr zu machen als die Abwehr des Todes; denn der Mensch ist ein sterbliches Lebewessen, nicht ein lebendes Todeswesen. (Siehe Martin Heidegger). Das vergängliche Lebewesen ist eines der „drei Wesen“, die hier – zum ersten Mal? – als solche genannt werden. 

„Wesen aber gibt es drei – einerseits das wahrnehmbare, von dem eines das immerwährende und das andere das vergängliche ist, über welches alle übereinstimmen, zum Beispiel Pflanzen und Tiere, und von welchem die Elemente zu erfassen sind (sei es, dass es nur eines ist oder dass es viele sind); andererseits gibt es das bewegungslose Wesen, von dem die einen sagen, es sei ein selbständiges Wesen, andere scheiden es in zwei Arten und setzen die Formen und die mathematischen Dinge als eine Natur oder sie setzen nur die mathematischen Dinge dafür ein. Jene ersten beiden Wesen gehören zur Naturwissenschaft, denn sie sind mit Bewegung verbunden; das dritte gehört zu einer anderen Wissenschaft, sofern es nicht über ein mit jenen gemeinsames Prinzip verfügt.“ (1069a 30ff.)

Rätselhafter Satz von den drei Wesen – der nach den ziemlich missglückten und wieder aufgegebenen Formeln vom ersten und vom zweiten Wesen eine neuerliche Mathematisierung des Wesensbegriffs versucht und damit dem Anschein entgegentritt, „Wesen“ sei so ein erhabener Begriff, dass er eigentlich nur im Singular gebraucht werden könne. Liest man die ganze Passage, so verliert sich auch die Vermutung, mit der Dreizahl sei irgendeine heilige Zahl festgeschrieben. Vielmehr ergibt sich diese aus der Überschneidung verschiedener physischer Qualitäten wie Wahrnehmbarkeit, Beweglichkeit, Vergänglichkeit, Selbständigkeit und deren Gegenteilen. Was wahrnehmbar und beweglich ist, ist auch selbständig, kann jedoch immerwährend sein oder vergänglich. Was unbeweglich und unwahrnehmbar ist, ist vielleicht selbständig oder vielleicht „nur“ mathematisch – ein gewissermaßen aristotelisches „nur“. Das übrigens nach dem Buch XII noch weiter problematisiert werden wird, denn das Buch XII schließt mitnichten die Metaphysik ab – deren literarische Mathematik folgt auch nicht irgendeiner heiligen Zahl. 

Vom Beweglichen und vom Vergänglichen ist auch noch das Veränderliche zu unterscheiden – wenngleich es mit jenen Eigenschaften häufig zusammentreffen mag. Jedenfalls trifft es mit dem Wahrnehmbaren zusammen. Und dieses Zusammentreffen hat seine besondere Wichtigkeit, weil damit eine gewisse Erkennbarkeit für uns gegeben ist. Und ohne eine Erkennbarkeit für uns wäre jede Rede von irgendwelchen Wesen oder Nicht-Wesen leerer Schall (und nicht einmal Schall ...).

Der Text greift auf ein Nicht-Wesen zurück, das im vorigen Abschnitt genannt worden war: das Nicht-Weiße (1069b 5), das man als eine Privation betrachten könnte, wenn sämtliche Eigenschaften als irgendwelchen Normen entsprechend oder nicht entsprechend gesehen würden; als konträres Gegenteil zu Weiß wäre das Nicht-Weiße das Schwarze und würde dann vielleicht als sehr mangelhaft beurteilt werden; etwas Rotes oder Gelbes wäre dann ein kontradiktorisches Gegenteil und würde vielleicht milder beurteilt. Aristoteles aber schlägt hier sozusagen aus Übermut ein noch viel kontradiktorischeres Gegenteil vor, nämlich die Stimme als solche, und die wird man schwerlich als irgendeinen Mangel empfinden können. Mangelhaft können natürlich bestimmte Ausprägungen der Stimme sein, also solche oder solche „Gegenteile“. Die aber verändern sich nicht, sondern bei einer Veränderung werden sie durch andere ersetzt. Unter ihnen hält sich etwas durch – und dafür setzt Aristoteles hier ein „neues“ Wort ein: hypeinai – druntersein, zugrundeliegen. Ein anderes Wort für „sein“. 

 

Der aristotelische Sprung vom Nicht-Weißen zur Stimme erinnert mich an die sehr junge Dichterin Amanda Gorman, die bei der amerikanischen Präsidenten-Inauguration vor dem Kapitol am heutigen 20. Jänner 2021 ihr Gedicht „When We Climb the Hill“ vortrug.

Mit dieser ehrenvollen Aufgabe wird sie gewiß zur Poeta Laureata gekürt worden sein. Ein Titel, der auf antike und mittelalterlche Dichterkrönungen zurückgeht und der übrigens in Wien durch den Philosophen Konrad Celtis eine gewisse Akademisierung erfahren hat.[1]

Amanda Gorman ist eine „Schwarze“, sie war geschmückt mit Rot, Gelb und Gold. Diese besondere heraldische Farbe trug und zeigte sie mit einem großen Ring an der rechten Hand – dessen Gold von Washington bis nach Wien herüberfunkelte (und ich habe denn auch die Spektralanalyse dieses Funkelns hier ausgedruckt).[2]

 

 



Sie hat also ihre visuelle Wahrnehmbarkeit aufs äußerste gesteigert. Aber ihre Stimme übertraf alles: ein Hymnus auf die Zukunft Amerikas, der allerdings den aktuellen und lokalen Bezug nicht aussparte. Denn genau vierzehn Tage zuvor war das Kapitol Objekt und Ort eines pittoresken und brutalen und nicht ganz geglückten Putschversuchs, dessen dramatische Bearbeitung in einer Tragödie (oder Komödie?) wohl den Titel „Die Horde“ tragen würde

 

Walter Seitter




[1] Siehe Walter Seitter: The Mathematical-Poetic Renaissance in Austria (Johannes von Gmunden, Georg von Peuerbach, Regiomontanus, Conrad Celtis), in: Czech and Slovak Journal of Humanities. Philosophica 1/2016. 

 

[2] Siehe Thomas Posch: Strnenfunkeln, in: Sehen und Sagen. Ein Buch für Walter Seitter (Wien 2016): 197-201.

1 Kommentar:

  1. Der Philosoph, geblendet von der Dichtung, die sich den Mächtigen dienstbar macht.
    wk

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