τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 13. Januar 2021

In der Metaphysik lesen

 

13. Jänner

 

Zweifaches Nachwort zum 6. Jänner

 

Die katholische Kirche feiert am 6. Jänner das Fest der Erscheinung des Herrn - oder Epiphania Domini. Das Missale Romanum nennt dieses Fest in seinem Kirchenlatein mit dem griechischen Wort, einem Grundwort des antiken griechischen Weltverständnisses, welches auch impliziert, dass die Götterverehrung nicht auf Offenbarung, Selbstoffenbarung eines Gottes beruht, sondern auf mehr oder weniger deutlichem Erscheinen göttlicher Kräfte, welches von menschlichem Bilden und Sprechen gefasst werden musste. 

 

Das Evangelium dieses Festes (Matth. 2 , 1-21) gehört zwar zum Text der Offenbarung, aber die von ihm erzählte Geschichte vermeidet jeden emphatischen Offenbarungsanspruch.

 

Morgenländische Weise, die auf das Sehen von Himmelserscheinungen spezialisiert sein mochten, sahen einen auffälligen Stern und erkannten in ihm den Wegweiser zu einem neugeborenen König der Juden. Sie folgten dem Stern und kamen nach Jerusalem, wo sie nicht weiterwussten. Daher gingen sie zum König des Landes und fragten ihn nach seinem mutmaßlichen Nachfolger. Der aber wusste von nichts und schöpfte Verdacht und bat die merkwürdigen Fremden, ihm dann zu berichten, wenn sie fündig geworden seien. Diese gerieten schon dadurch in die Position von Königen, von fremden Kollegen. Seither firmieren sie als Heilige Drei Könige, denn sie verrieten den kleinen Jesus nicht, dessen Familie sich alsbald nach Ägypten absetzte, um sein Leben zu retten. Der jüdische König aber rottete die Generation der Babys aus.

Ungefähr 33 Jahre später war aus dem Kind ein Wanderprediger geworden, der beim Volk Anklang fand, bei der Obrigkeit aber unbeliebt war. Eines Tages ritt er auf einem jungen Esel in Jerusalem ein, bejubelt wie ein König. Wenig später wurde es der jüdischen Obrigkeit zu viel, sie verhaftete und misshandelte ihn und lieferte ihn der römischen Obrigkeit aus, da er als König der Juden die Autorität des römischen Kaisers in Frage stelle. Der römische Prokurator führte ein Gespräch mit ihm und erfuhr, dass er sich zwar als König verstehe – aber nicht als weltlicher König, sondern als die Wahrheit selbst. Damit konnte der vielleicht ciceronisch, also aristotelisch gebildete Römer gar nichts anfangen und wollte ihn freilassen. Doch die jüdischen Volksvertreter zwangen ihn, Jesus zu kreuzigen. Immerhin brachte er über ihm eine Schrifttafel an, die ihn als „König der Juden“ festschrieb. Als einige Juden dagegen protestierten, beharrte er auf seinem Schriftstellertum: „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.“ (Joh. 19,22)

 

Wie die Geschichte von diesem König, die mit den Heiligen Drei Königen begonnen hatte, mit einer ziemlich schwachen Herrenerscheinung, die ihn beinahe damals schon das Leben gekostet hätte, und keineswegs mit einer großartigen Theophanie, weitergegangen ist, ist bekannt.[1]

 

Und jetzt noch zum 6. Jänner 2021. Da geschah in der amerikanischen Hauptstadt etwas, wodurch sich der amerikanische Präsident, immerhin ein mächtigster Staatsmann, halb freiwillig, halb unfreiwillig, offenbarte. Nicht im Sinn einer Offenbarungsreligion, sondern im Sinn einer staatsfeindlichen Monstrosität, die er damit aufgebaut hatte, dass er die Unterscheidung zwischen wahr und falsch konsequent verachtete. In gewissem Sinn ein philosophisches oder vielmehr ein misosophisches Ungeheuer. 

 

In mehrfacher Hinsicht ließe sich dieser aktuelle Präsident dem von Michel Foucault genannten Typ des „grotesken“ oder „ubuesken“ Herrschers zuordnen, der „infamen Souveräntät“, für die Namen wie Nero oder Heliogabalus stehen und die für das Funktionieren des römischen Imperiums zeitweise geradezu typisch waren.[2] Foucault meint, dass diese Herrschertypen, die bekanntlich dann im 20. Jahrhundert bekannte Rollen gespielt haben und auch eine strukturelle Nähe zur Bürokratie aufweisen, nicht als pure Ausnahmeerscheinungen gelten können, sondern einen Grundzug der politischen Machtausübung verkörpern. Diese Figuren realisieren das konträre Gegenteil zum Ideal der Gerechtigkeit, die an die Wahrheit gebunden ist.[3] In der Französischen Revolution wurden der König wie auch die Königin mit allen nur möglichen Untaten und Perversitäten zu wahren Monstern ausstaffiert – und so zu Prototypen der gefährlichen und krankhaften Persönlichkeit, mit der Psychiatrie und  Strafvollzug seit dem 19. Jahrhundert zu tun haben.[4] „Das erste Monstrum, das ist der König.“[5]

 

Der Marquis de Sade, der sich zwischen dem König und dem Revolutionär positioniert hat, hat Pierre Klossowski zufolge das Paradigma der „integralen Monstrosität“ in jeder Hinsicht perfekt ausagiert.[6]

 

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(1069a 18-30) 

 

Wenn man nun auch das Buch XI mit Sorgfalt gelesen hat, dann hat man mitgekriegt, wie mühselig dieses erst dreihundert Jahre nach Aristoteles in Form gebrachte Werk seine eigene Form gefunden hat. Denn das Buch VI hatte bereits eine vorläufige Übersicht über die aus Ontologie (gar nicht so genannt) und Theologie (eigentlich nur genannt) zusammengebaute Erste Philosophie geboten – aber dann folgten erst die Bücher VII bis X mit ihren ziemlich ausführlichen Ausarbeitungen der Ontologie-Dimensionen.

 

Das Buch XI wiederholt und präzisiert die Gesamtübersicht über die gesuchte Wissenschaft, möchte ihr ebenfalls den Titel „Theologie“ geben, aber merkt doch, dass es damit den Inhalt der Bücher VII bis X entweder übersieht oder falsch benennt. Zwischen Abschnitt 7 und 8 dann der offen ausgesprochene Rückzieher (1064b 7) und ein Einbrechen in die Geschoße der unteren Seinsmodalitäten. In die Unterwelt der Philosophie: zum me on und zum Sophisten (1064b 28f.)

Es ist wie eine Peripetie im Drama – zu der ich interpretierend interpoliere: „flectere si nequeo superos acheronta movebo“.

 

Jetzt im Buch XII fällt ein neuer Ton auf, vorsichtig zwar und ohne großes Pathos. Zunächst nichts Neues und nur eine anscheinend geringfügige Zugabe:

 

Um das Wesen die Betrachtung; denn von Wesen werden die Prinzipien und die Ursachen gesucht. (1069a 18f.)

 

Ein erster Satz wie ein warmer Frühlingswindstoß. Der vielleicht eine Gegen-Peripetie ankündigt. Bloß eine neue Performanz? Was daran ist semantisch neu?

Daß den Wesen, die ja Prinzipien und Ursachen in sich selber enthalten, äußere Prinzipien und Ursachen zugesagt werden, sie somit in einen Außenraum gestellt, mit einem Außenraum konstelliert werden, der alsbald auch genannt wird: das All. 

 

Das Wesen wird als erster Teil des Alls situiert, weitere Teile sind das Quale und das Quantum, sodann auch die Negationen von Akzidenzien wie das Nicht-Weiße oder das Nicht-Gerade, die ja insofern noch als Seiende gelten können, als man von ihnen sagt, sie „seien“ nicht weiß oder nicht gerade. 

 

Mit seiner neuen Betrachtungsweise, die das Extensionale in den Vordergrund rückt, hat Aristoteles die minimalen Seinsmodalitäten nicht vergessen – auch sie bevölkern auf ihre Weise das All. 

Und er nimmt eine theoriehistorische Vergleichung vor: die alten Philosophen hätten nach den Prinzipien, Elementen und Ursachen des Wesens gesucht, die heutigen würden mehr Allgemeinheiten der Wesen ins Auge fassen und daher die Gattungen als deren Prinzipien annehmen; denn sie führen ihre Untersuchungen auf begriffliche, Aristoteles sagt wörtlich, auf „logische“ Weise. (1069a 29). Die Frühen hätten die Elemente als Einzeldinge sozusagen physikalisch untersucht, etwa Feuer oder Erde, ohne jedoch das Gemeinsame, und das wäre der Körper, der aus mehreren Elementenx gemischt ist, ins Auge zu fassen. Aristoteles scheint also dafür zu plädieren, die beiden Untersuchungsrichtungen, die naturphilosophische und die sokratisch-platonische, miteinander zu verbinden. Und im Begriff des Körpers sieht er das geeignete Mittelglied – das übrigens auch die beiden sozusagen Extrem-Begriffe Stoff und Form entlasten könnte. 

 

 

Walter Seitter




[1]  Die Kindheit Jesu wurde um 1200 in einem mittelhochdeutschen Versepos quasi theophanisch derart umgeschrieben, dass seine Allmächtigkeit jederzeit manifest war und das normale Leben durcheinanderbrachte. Siehe dazu Walter Seitter: Distante Siegfried-Paraphrasen. Jesus, Dietrich, Helmbrecht (Berlin 1993)

[2] Siehe Michel Foucault: Les anormaux. Cours au Collège de Fance. 1974-1975 (Paris 1999): 12ff. 

[3] Siehe op. cit.: 14ff. 

[4] Siehe op. cit.: 84ff. 

[5] Zum Fall des amerikanischen Präsidenten siehe auch Elias Canetti: Massensymbolde der Nationen: Amerikander, in: FAZ, 13. Jänner 2021; Ulrich Haltern: Präsident der Begierde. Aus der  Geschichte des Volkskörpers, ebd.

[6] Siehe Pierre Klossowski: Sade und Fourier, in: H. Ebner, I. Gurschler, W. Seitter (Hg.): Wörter, Bilder, Körper. Zu Pierre Klossowskis Lebendes Geld (Wien-Berlin 2018): 15ff. sowie andere Beiträge in diesem Band.

 

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