τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 27. Januar 2021

In der Metaphysik lesen (1069b 8 – 34)

Neuerscheinungen

 

Somatismus in philosophischen Anthropologien (Erich Voegelin, Helmuth Plessner 1922-1934), in: Mario Marino (Hg.): Körper, Leibidee und politische Gemeinschaft. „Rasse“ und Rassismus aus der Sicht der Philosophischen Anthropologie (Nordhausen 2020)

 

Topik, Physik, Dramatik des Menschenkörpers. Bei Helmuth Plessner, in: Macht-Knoten-Fleisch. Topographien des Körpers bei Foucault, Lacan und Merleau-Ponty (Berlin 2020)

 

In diesen Buchtiteln, vor allem im zweiten, erscheint das Wort „Körper“ mit der automatischen Unterstellung, dass es den menschlichen Körper bedeuten soll, auch wenn das nicht deutlich signalisiert wird. Darin kommt ein narzisstischer Anthropozentrismus zum Zug, der sich seit dem 20. Jahrhundert verstärkt hat. Demgegenüber haben wir in der 15. Zeile des Buches XII gesehen wie Aristoteles zum Begriff des Körpers kommt: er bezeichnet das Gemeinsame aus verschiedenen Elementen wie Feuer und Erde – entweder mehr physikalisch durch Mischung oder mehr logisch als Allgemeines. Meinem Beitrag zum zweiten Band habe ich das Spinoza-Motto „Omnia corpora in quibusdam conveniunt“ vorangestellt.

 

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Der Salzburger Schnürlregen, dem vor einiger Zeit von Wolfgang Koch die Ehre zugesprochen worden ist, eines meiner Aristoteles-Interpretamente, nämlich die „Seinsmodalitäten“, zu symbolisieren, hat vor kurzem so gute Arbeit geleistet, daß er den Kapuzinerberg, den zweiten der Salzburger Stadtberge, so ein bißchen aufgeweicht hat, daß sich ca. 60 Tonnen Gestein gelöst haben, und um 6 Uhr 8 das direkt an seinem Fuß stehende Stadtarchiv ziemlich schwer beschädigt haben, indem sie in den Lesesaal im Erdgeschoß eingedrungen sind und dort Gott sei Dank niemanden verletzt, auch keine wertvollen Archivalien beschädigt, sondern nur ein paar Möbel und Computer zerstört haben. Der Schadensfall ist auch deswegen heikel, weil die Rückseite des Gebäudes, durch die der Felssturz eingedrungen ist, so knapp am steilen Berghang steht, daß dort kaum ein Bagger auffahren kann, um eine ordentliche „Baustelle“ zu schaffen. 

 

Den Hintergrund dieses Vorfalls bildet die Tatsache, daß das Stadtarchiv, das sich jetzt großtönend „Haus der Stadtgeschichte“ nennt, im Jahr 2003 diese neue Unterkunft bezogen hat, die einem bekannten Architekturtrend folgend über keine Außenmauern verfügt, sondern überhaupt nur Glaswände aufweist, um sich nach außen zu positionieren. Das gilt sowohl für die langgestreckte Fassade zur Straße hin wie auch für die ebenso lange Rückseite ganz knapp an beziehungsweise unter dem steil aufragenden Berg. 

 

Ausgerechnet das Stadtarchiv hat so wenig Salzburg-Wissen, daß es sein neues Quartier dermaßen nicht gemauert, dermaßen eigentlich nicht „gebaut“ hat - sondern  bei einer Glasfabrik so und so viele, so und so große Glasplatten bestellt hat und dann aufgestellt hat. Die Mauer-Verweigerung, die Stein-Verleugnung hat ausgerechnet in Salzburg und ausgerechnet an so einer heiklen, ja salzburg-typischen Stelle Platz gegriffen.

 

Denn Salzburg wurde ungefähr seit dem 7. Jahrhundert unmittelbar am Felsen des ersten Stadtberges, des Mönchsbergs, gegründet und erbaut: mit der klösterlichen Niederlassung, die den Namen St. Peter, wörtlich übersetzt "Heiliger Stein", erhielt.[1] Die gesamte sogenannte Altstadt wurde unter dem vertikal aufragenden Felsen errichtet und größere Gebäude wie zum Beispiel der Dom im 17. Jahrhundert wurden aus diesem Konglomerat erbaut. Die Symbiose zwischen dem Berg und der Stadt ist so eng, daß auch die Gefahren, die sich daraus ergeben, seit langem bekannt sind. Regelmäßig werden die Stadtberge von sogenannten „Bergputzern“, die wie Alpinisten agieren, kontrolliert und gesichert. 

 

 

Im Bauwesen den Stein vergessen, vermeiden, verleugnen - das habe ich vor vielen Jahren einmal als eine Spielform der „Anarchitekur“ bezeichnet.[2]

 

Die Stein-Vergessenheit rächt sich: der Stein kommt hinten durchs Glas leicht herein. 

 

 

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Die Rede von den „drei Wesen“ (1069a 30ff.) bezieht sich nicht auf irgendwelche drei Instanzen, Personen oder dergleichen, sondern auf drei sehr weit gefasste „Sorten“ von Wesen, die innerhalb des Kosmos festzustellen sind und verschiedene Wissenschaften erfordern bzw. beschäftigen. Dieser Überblick erinnert einigermaßen an denjenigen, der im Abschnitt 7 von Buch XI gegeben worden ist und dort zu den Erörterungen über Bewegung und Veränderung übergeleitet hat. 

 

Jetzt interessiert sich der Text wiederum für die wahrnehmbaren Wesen, also für die beweglichen und veränderlichen, somit für die physischen. Das nur kurz angedeutete immerwährende Wesen wird gleich wieder vergessen oder beiseitegeschoben. Wenn diese hier durchgeführte Untersuchung „Metaphysik“ heißen sollte, so betätigt sie sich doch in Bezug auf ein eventuelles Überphysisches hauptsächlich als leere Ankündigung, Ausweichmanöver, Vermeidungstaktik, Wille zum Aufschub oder Unfähigkeit zu einem angeblich ins Auge gefassten Ziel, zu einem unmöglichen Finden, zu einem illusorischen Fund. Wie auch sollte eigentlich etwas Unwahrnehmbares ins Auge gefasst werden? Wenn es unwahrnehmbar ist, dann wäre es ja nicht bloß unsichtbar, sondern auch unhörbar und unberührbar - von Duft und Geschmack ganz zu schweigen. Im vorletzten November haben wir gesehen, wie sich Aristoteles im Buch vom Werden und Vergehen mit der Tatsache herumschlägt, dass sogar einige Körper, die klassifikationsgemäß wahrnehmbar sein müssten, in dieser Hinsicht Schwächen aufweisen, da sie unsichtbar sind und beinahe unwahrnehmbar (siehe 318ff.).

 

Also landet der Text wieder bei so etwas wie Physik, obwohl bzw. weil diese Wissenschaft von Aristoteles selber ja längst ausgearbeitet worden war und diese Ausarbeitung im Buch XI bereits wieder und wieder aufgegriffen, abgewandelt, doublettiert worden ist (was eine Aristotelismus-Koryphäe dazu ermächtigt hatte, dieses Buch zu verwerfen). 

Allmählich sollte dieses ständige Zurückgreifen und Wiederholen zumindest „psychologisch“ verständlich werden, ich meine jetzt „textpsychologisch“. Der Text „möchte“ eine neue, eine weiterführende Ebene erreichen, eine Erkenntnis über eine andere, eine zusätzliche, eine andersartige Realität oder dergleichen erringen. Die im Buch I schon einigermaßen umrissen worden war – als göttliches Wissen vom Göttlichen. Aber dieser Umriss schien viel zu vage und vermutlich viel zu wenig wißbar-wissend. Es waren wohl nur ein paar Wörter aus irgendwelchen Überlieferungen. Dann hat der Text eine interessante und weitläufige Landschaft betreten und durchwandert, die nicht ganz identisch war mit der Physik, irgendwie zwischen Physik und Logik eine eigene Ebene halb entdeckt und halb erfunden, für die erst tausend Jahre später ein eigener Name aus der aristotelischen Syntax heraus geprägt worden ist: Ontologie. Von Buch IV bis Buch X währte diese langwierige Expedition (das Buch V nimmt zwar darin eine Sonderstellung ein – aber sein lexikographischer und begriffsanalytischer Charakter verleiht ihm eine charakterliche Nähe zur Ontologie).

Charakter? Ja – es geht um ein Verhalten, um eine Physiognomie des Textes, der seit dem Buch I etwas sucht. Etwas möchte.

Was heißt dieses „möchte“? Es ist ein Konjunktiv, der dem Irrealis näher steht als dem Realis. Und es ist der Konjunktiv zu zwei Verben, die ihre Zweiheit im deutschen Wort „mögen“ verstecken. Denn dieses Wort bedeutet im Neuhochdeutschen so etwas wie „wollen“, „lieben“, „vorziehen“, „gern tun“, „gernhaben“. Also begehrend, verlangend, liebend tun. 

Doch „mögen“ heißt noch etwas, was ich als Kind bei manchen bäuerlichen Leuten im Salzburgischen oder wo gehört habe, denn ich stamme so wie jeder aus vielen Gegenden und da hört man mehr Wörter als es gibt und mehr Bedeutungen als erlaubt sind. Jenes „mögen“ heißt auch können und vor allem wurde es resignierend ausgesprochen: i mog ned = ich kann leider nicht. Ein Versagen der Kraft, das jeder kennt, der es nicht gemäß irgendeiner sogenannten Teleologie zu einem potenten Potentaten gebracht hat. 

So ein „möchten“ mitsamt einigem Nicht-Können legt der Text nun wieder an den Tag, wenn es ihm nicht gelingt, eine zusätzliche Realitätsebene zu bestimmen und zu erläutern. Und sich stattdessen mit neuerlichen Wiederholungen in ein Gestrüpp aus Physik und Ontologie versteigt.

Für das erfolglose „möchten“ hat Aristoteles das Wort „Aporie“, dem er ein ganzes Buch gewidmet hat: das Buch III mit den fünfzehn Aporien, die seriell genannt und angeblich erledigt worden sind. Aber das war nur eine übungshafte, eine simulatorische Lösung von beispielhaft genannten Aporien. Wie er dort auch dargelegt hat, können Aporien nur durch „Diaporien“, durch Durchmachen und Durchgehen, aufgelöst oder zumindest aufgelockert werden. Frei nach Freud: erinnern, wiederholen, durcharbeiten.

Weniger im Buch III als vielmehr im Buch XI und auch jetzt wieder im Buch XII stoßen wir auf so ein mühseliges wieder und wieder wiederholen. 

(Es könnte sein, dass die gesamte Ontologie (IV bis X) ein eher elegantes Ausweichmanöver, ein Sich-Drücken vor dem Aufstieg oder Einstieg in die Metaphysik gewesen ist – oder vielmehr ein umwegiges Durchmachen und Durchgehen, das die Suchbewegung der Metaphysik verschiebt oder modifiziert?)

Im Abschnitt 7 von Buch XII kreuzen sich Begrifflichkeiten aus mehreren Ebenen, die sich folgendermaßen anschreiben lassen:

physikalisch: Stoff, Form, Bewegung, Veränderung

ontologisch: seiend – nicht-seiend, möglich – wirklich

ätiologisch (genealogisch, archäologisch): Ursache, Prinzip

Die dritte Begriffsebene ist die vorwärts treibende, sie gibt die Stoßrichtung an, die im Text den Text vielleicht weiterführt.

 

Ursache und Prinzip werden zu Synonymen erklärt – und es soll drei davon geben: Form, Privation, Stoff (siehe 1069b 34).

 

 

Walter Seitter


[1] Wie Johannes Neuhardt neulich hervorgehoben hat, waren im Mittelalter auch die Salzburger Dombauten dem Hl. Petrus geweiht. 

 

[2] Walter Seitter: Zur Architektur (Monarchitektur, Anarchitektur, Pararchitektur). In: Marc Mer (Hg.): Translokation. Der ver-rückte Ort. Kunst zwischen Architektur (Wien 1994)

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