τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 3. Februar 2021

In der Metaphysik lesen (1069b 35 – 1070a 21)

Noch eine Neuerscheinung

 

Im vergangenen Sommer 2020 habe ich zwei Bücher über die „Leibniz-Frage“ gelesen, über die ich hier unter dem Titel „Supplement zur Minimalontologie II“ berichtet habe. Und in einem davon sah ich zum ersten Mal einen Hinweis auf einen gewissen „Hermann von Kärnten“, nämlich auf dessen lateinische Schrift mit dem Titel De essentiis. Immerhin findet man in Wikipedia einen Eintrag zu ihm, der ihn als Philosophen, Astronom, Mathematiker und Übersetzer ausweist. 

Und vor kurzem erschien nun auch in Buch über diesen Mann, der von ca. 1100 bis 1155 ein sehr bewegtes Gelehrtenleben geführt hat:

Mario Rausch: Hermann de Carinthia. Die Biographie (Klagenfurt 2020)

Dieser Hermann wird auch Sclavus Dalmata genannt, man weiß nicht, welche seine Muttersprache war - das Herzogtum Kärnten, aus dem er stammt, reichte seinerzeit viel weiter nach Süden als das heutige Bundesland Kärnten (und mit Österreich hatte es gar nichts zu tun). 

Dieser Mann ging schon in jungen Jahren von Kärnten nach Frankreich zum Studieren an die Domschule in Chartres und wurde dort von Magister Thierry in einen christlich getönten Neuplatonismus eingeführt. 1130 folgte er ihm nach Paris, dort erwachte sein Ehrgeiz, antike Texte, die in arabischer Sprache vorlagen, selber lesen und übersetzen zu können.

Er reiste in den Orient, traf in Konstantinopel und Damaskus Gelehrte und Schriften, die ihn interessierten. Und daraufhin reiste er nach Spanien und begann in Toledo mit Übersetzungen aus dem Arabischen, die er in Toulouse fortsetzte. Er übersetzte astronomische Schriften von Ptolemäus, mathematische Schriften von Euklid und als Auftragsarbeit für Petrus Venerabilis, den Abt von Cluny, sogar den Koran. Insgesamt hat er ungefähr 20 Bücher ins Lateinische übertragen, einige davon aus dem Griechischen.

 

Eigene Schriften verfasste er zur Meteorologie, zur Mathematik, zur Astronomie sowie - unter dem Titel „Von der Erforschung des Herzens“ bzw. „The Search of the Heart“ – zur Astrologie.[1]

Von philosophischem Interesse ist die Schrift De essentiis, die im Jahr 1143 in Toulouse und Bézier geschrieben worden ist. Es handelt sich um ein System, das vor allem von Platon, Aristoteles und Alkindus (800-873) inspiriert ist und fünf Wesenheiten unterscheidet: Ursache, Bewegung, Ort, Zeit und „habitudo“ (Verhalten). Viele detaillierte Ausführungen haben kosmologischen Charakter und beziehen sich auf die Elemente, Planeten, Metalle, Farben. Im Unterschied zu Aristoteles nimmt er mit den sogenannten Astrologen an, dass die Elemente, aus denen die Körper im Prozess des Werdens hervorgehen, im gesamten Erd- und Himmelsraum dieselben sind – eine eher moderne Ansicht. 

 

Mehr kann ich dazu nicht sagen, weil ich die zweisprachige Neuausgabe dieser Schrift nicht gelesen habe: De Essentiis. A Critical Edition with Translations and Commentary by Charles Burnett (Leiden-Köln 1982).

Über die letzten Jahre von Hermanns Leben ist nichts bekannt. Aber seine Werke haben wissensgeschichtlich und religionspolitisch weitergewirkt – daher sollte ihre Wirkung auch hier möglich sein. Die geographische Bewegung war diesem Autor nie fremd.[2]

 

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Mit Karl Bruckschwaiger (der gerade mit einer massiven Reiseblockade zu tun hat) wird die Frage aufgeworfen, ob man aus der Aporie (Ausweglosigkeit, Dilemma) und der Diaporie (Durchgang, Weiterkommen) auf die Porie als neutrale Grundbestimmung zurückkommen kann – als Gang, Weg, Reise. Das entsprechende Verb findet sich zur Erläuterung der Pragmatik des Sichersten Prinzips in 1008b 16: wenn jemand nach Megara gehen will, empfiehlt es sich, diese Reise konsequent durchzuführen und Hindernisse zu vermeiden. Das gilt erst recht, wenn jemand von St. Paul im Lavanttal nach Chartres gehen will. Oder von Paris nach Damaskus. 

Aporien können nur entstehen, wenn eine Porie, also eine Reise oder eine Unternehmung oder eine Suchbewegung geplant ist. Diese Voraussetzung könnte man als Poretik (Reisewesen) bezeichnen und die Porologie wäre dann die Wissenschaft dazu: Reisekunde, Verkehrswissenschaft, Unternehmensanalyse, Mediologie. Wenn Aristoteles im Laufe der Metaphysik immer wieder von Aporien spricht, dann könnte es so sein, dass der Eindruck von einer mehr oder weniger(!) geordneten Textmasse, nicht nur auf nachträgliche Kompositionszufälle zurückzuführen ist, sondern auf einen „inneren“ aporetisch-diaporetischen Gang der Untersuchung, der sich allerdings weit über die Lebenszeit des Autors hinaus erstreckt, verzögert, gebrochen und fortgesetzt hat.  

Poretik der Metaphysik – mitsamt Aporien. Diaporien und etwa gar Euporien (erfolgreichen Expeditionen)?

Zu Beginn von Abschnitt 3 erwähnt mein Übersetzer, dass der Text unsicher ist, und er fügt denn auch gleich eine Negation ein, sodaß der erste Satz sagt, dass letzter Stoff und letzte Form sich verändern, beispielsweise Stoff und Form eines Bronzerings. Nicht verändern sich der Rohstoff, der aus Elementen besteht und das Runde, das eine geometrische Urform ist. Die Ursachenforschung muß da stehen bleiben, sonst würde sie ins Unendliche fortgehen müssen und das wäre eine missliche Reise, eine „Dysporie“ – dieses Wort setze ich hier ein, aber es existiert im Griechischen und darf hier eingesetzt werden (auch wenn die modernen Freunde des Unendlichen den Kopf schütteln würden (hoffentlich schütteln sie ihn nicht endlos)). In der Verursachungsreihe spielt aber noch ein drittes „Erstes“ eine Rolle: das „erste Bewegende“, also die erste Wirk- oder Bewegursache. Die lässt sich allerdings nicht so leicht identifizieren wie die letzte Bewegursache, das wird wohl irgendein Handwerker sein. Und relativ leicht lässt sich auch eine letzte Zweckursache denken: irgendein Gebrauch, irgendein Wunsch nach so einem Ring. 

Von den vier Ursachensorten sind zu unterscheiden die vier Weisen der Verursachung, die im Buch VII (7-9) ausführlich dargestellt worden sind: die Kunst hat ihr Prinzip in einem anderen, die Natur hingegen hat es in den Dingen selber; die beiden anderen Verursachungen – Zufall und „von selber“ – sind defiziente Formen der beiden ersten. 

Und dann: drei Seiten nach 1069a 30 der gleiche Satz wiederum: „Wesen gibt es drei“ (1070a 9). Auch mit dieser Wesenstriade sind nicht etwa drei bestimmte Entitäten gemeint (daher verzichte ich auf –trinität). Allerdings auch nicht drei weitgefaßte Sorten, sondern drei Suppositionen des Begriffs, drei Verwendungsweisen, die den Begriff „Wesen“ beinahe so mehrdeutig machen wie das Grundwort „seiend“ bei Aristoteles tatsächlich angenommen wird. 

 

Was ist das für eine Textkomposition, die haargenau mit dem gleichen Satz eine völlig andere Begriffsdifferenzierung ankündigt und einleitet, welche auf die frühere gar keinen Bezug nimmt? Der „zweite“ Satz im 3. Abschnitt weiß wohl gar nichts vom „ersten“ im 1. Abschnitt. Die Abschnitte scheinen tatsächlich sehr abgeschnitten voneinander zu sein. 

Der zweite Satz resümiert sehr kurz eine Unterscheidung, die am Ende von Buch VII und am Anfang von Buch VIII sehr ausführlich vorgenommen worden ist und die teilweise seit den Kategorien etabliert ist – nämlich die Doppelaspektivität des Wesens als Form (Spezies) und als Individuum.

Diesen beiden Aspekten wird aber jetzt ein gewissermaßen darunterliegender vorgeschaltet, welcher als Stoff und Substrat bezeichnet wird und mit zwei interessanten Besonderheiten gekennzeichnet wird: der Stoff existiert nicht durch Zusammenwachsen sondern durch Berührung und er ist ein Das dem Erscheinen nach. Die Ebene der Stofflichkeit ist also eine wesenhafte, ihre Einheitlichkeit hat die lockere Form der Berührung und ihre – ontologische – Wahrheit (im Sinne von 1051a 34ff.) besteht in der Leistung des Erscheinens. 

Die ist bekanntlich eine elementare Dimension im griechischen Wirklichkeitsverständnis, wird aber von Aristoteles eher selten hervorgehoben (vielleicht weil er die protagoreische These von der Wahrheit aller Erscheinungen ablehnt (obwohl diese teilweise mit seiner eigenen Wahrnehmungstheorie impliziert ist)).

Das „zweite“ Wesen in dieser Reihung entspricht dem, was sonst unter Form oder Spezies läuft, hier wird es als „Natur“ bezeichnet und überdies mit Habitus, Gewohnheit, Verhalten verbunden (jener Hermann sollte daraus „habitudo“ machen). 

 

Und das „dritte“ Wesen ist die Zusammensetzung aus den beiden: das Individuum – „wie etwa Sokrates oder Kallias“ (1070a 10). Dieses „dritte“ Wesen ist also ebenso wenig wie das erste oder zweite irgendetwas Singuläres, sondern es handelt sich um Versionen von Vollständigkeit oder Unvollständigkeit massenhaft vorkommender Entitäten. Diese Wesenstriade ist also eine analytische Formel für die Konstitution der Wesen im empirischen und vollen Sinn des Wortes: Menschen, Häuser und dergleichen. 

Natürlich muß dann noch die Frage aufgeworfen werden, die den Platon Schüler Aristoteles sozusagen definiert. Wie verhalten sich diese Versionen oder Stufen der Dinge zueinander?

Die Antwort folgt nicht einfach dem bekannten Schema von der Ablehnung der Ideenlehre durch Aristoteles. 

Vielmehr wird zwischen natürlichen und künstlichen Dingen unterschieden. Bei diesen gibt es die Form „extra“ und zwar eben als die Kunst, die diese Dinge hervorgebracht hat. Wobei die Form selber nicht entstanden ist sondern vom Künstler – sei es der Architekt, sei es der Arzt – als vorliegende Möglichkeit, die sowohl „ist“ wie auch „nicht ist“ wahrgenommen und realisiert wird (1070a 17). So jedenfalls interpretiert der amerikanische Übersetzer Joe Sachs diesen Text.[3]

Was die natürlichen Dinge betrifft, so stimmt Aristoteles hier der platonischen These zu, es gebe so viele Formen wie Dinge, sofern diese mehr als bloße Haufen sind. (Allerdings scheint der Text hier sehr unsicher zu sein – das heißt vielleicht besteht er selber nur aus verunglückten Satzbildungen.)

 

 Walter Seitter

 




[1] Siehe Hermann de Carinthia: The Search of  the Heart. Consultation Charts, Interpreting Thoughts & Calculating Victors in Traditional As†rology. Translated & Edited by Benjamin N. Dykkes (Minneapolis 2011)

[2] Die siebenbändige und 7000-seitige Geschichte der Philosophie Österreichs, die von Michael Benedikt initiiert worden ist, setzt historisch erst im frühen 15. Jahrhundert ein, schon aus diesem Grunde kann sie Hermann von Kärnten gar nicht  berücksichtigen. 

[3] Siehe Joe Sachs, op. cit.: 234.

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