τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 17. Februar 2021

In der Metaphysik lesen (1070a 30 – 1070b 21)

Manfred Hulverscheidt hat mir ein Foto zugeschickt, das er am 9. November 2019 von meinem Schild aufgenommen hat, als es noch an seinem angestammten Platz neben meiner Haustür hing.

 

 

Ähnlich wie das bereits gezeigte neuere Foto zeigt es eine undeutliche Spiegelung sowie einen Altersfleck. Und damit zwei Erscheinungsaspekte, die den ohnehin nur nachträglich fingierten heraldischen Charakter des Schildes krass reduzieren.

Es sind zwei Aspekte, die sowohl von der modernen Malerei wie auch von der Fotografie in den Vordergrund geschoben worden sind und die die auch anderweitig nämlich politisch vorangetriebene Überwindung der Heraldik sichtbar machen, welche in den etwa von Carl Schmitt zur Kenntnis genommenen „Menschenfassungen“ kommentiert worden ist. 

Doch ob diese Überwindung tatsächlich endgültig sein muß, sei irgendwo hingestellt. 

Und ein Kommentar von Wolfgang Koch:

Ich halte die Reinstallation des Seitter'schen Analytiker-Schildes durch seinen Eigner für unterbewertet. Walter Seitter sieht darin gewohnt bescheiden die »tiefgreifende Transformation eines mehr oder weniger simulativen Geschäftsschildes in einen postheraldischen Schild«. War das Schild denn am Hauseingang eine Parodie auf die anderen dort angebrachten Geschäftsschilder? War es je eine kommerzielle Marke? Oder war es nur die öffentliche Manifestation eines heraldischen Privatwappens? Man könnte auch fragen: Ist das lange Zeitalter der Heraldik vielleicht schon vorbei? Und verblasst mit der zeichenhaften Funktion der Aussenwirkung auch das heraldische Zeichen im Inneren?
Jean-Paul Sartre, der sich einen »kritischen Weggefährten der Psychoanalyse« nannte, veröffentlichte 1969 in drei intellektuellen Zeitschriften – ›Les Temps Modernes‹ in Paris, ›Ramparts‹ in San Franzisko und »Neues Forum‹ in Wien – die Tonbandabschrift einer psychoanalytischen Sitzung, in der ein gewitzter Analysand namens A. sich und den Therapeuten dazu bringen wollte, sich gegenseitig ins Gesicht zu sehen und Heilung zu einem Abenteuer zu zweit zu machen. Der Patient wirft in dem langen Monolog dem Analytiker vor: »Herr Doktor, Sie sind nach Freud gekommen, man hat Ihnen Ihr Studium bezahlt, und Sie haben es geschafft, ein Schild an Ihre Tür zu heften. Und nun belästigen Sie eine Reihe von Leuten; Sie haben ja das Recht das zu tun, und damit glauben Sie, sich aus allem herauszuhalten. Sie sind ein Versager, Sie machen aus Ihrem Leben nichts anderes, als Ihre eigene Probleme anderen Leuten aufzuladen.«
Auch Seitter hat es geschafft, das Schild an den Eingang zu heften, und es war dort meines Erachtens nie nur ein heraldisches Zeichen. Es war auch nicht einfach eine Parodie der daneben hängenden Geschäftsschilder. Mit der Selbstzeichnung als Analytiker bestritt der Wiener Philosoph die historische Verdammung der Laienanalyse durch die klinische Medizin. Dass er diesen Kompetenzkonflikt nun in das Innere seiner Behausung und damit in das Innere seines Seins verlegt hat, dass Seitter das Analyseangebot nun im Privatimen »ein bisschen beweglich hält«, also den Zwiespalt des Insichgehens und Sichheraushaltens auf sich selbst ausdehnt, das lässt mich mit Gilbert Simondon von einer echten Transduktion sprechen, das heisst von einer dynamischen Operation, in deren Verlauf Energie aktualisiert wird, indem man Materialitäten von einem Zustand in einen anderen bringt. 

Wolfgang Koch, Februar 2021

                             

 

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Neueres Griechisch

In der größeren der beiden Griechisch-Orthodoxen Kirchen Wiens, in der Dreifaltigkeitskirche auf dem Fleischmarkt, kann man einen kirchlichen Kalender für das Jahr 2021 bekommen, der vom Ökumenischen Patriarchat sowie von der Wiener Metropolis herausgegeben wird. Liest man das Grußwort des Patriarchen von Konstantinopel und Neu Rom, so fällt auf, dass es sich in Schreibweise und Syntax, abgesehen von einigen Verbformen, ganz und gar ans Altgriechische hält. Auch sonst machen die griechischen Texte einen sehr antiken Eindruck, was wohl auch damit zusammenhängt, dass die Bibelzitate den antiken Texten folgen.

Das interessanteste Detail, das in dieser Kirche wahrzunehmen ist, scheint mir eines zu sein, das sich wohl in allen griechischen Kirchen findet, nämlich die Inschrift innerhalb des Nimbus um den Christus-Kopf sowie Gottvater-Kopf herum. Sie besteht nur aus drei dreieckig angeordneten Buchstaben:

 

                               Ω

                       Ο              Ν

 

Zu lesen als: ho on, wobei das o im zweiten Wort ein langes ist, und die Wortgruppe bedeutet: der Seiende. Eine dürre Titulierung des namenverweigernden Gottes, die nur verständlich wird, wenn man sich ihre beiden weit auseinander liegenden Quellen klarmacht. Zum einen die Selbsterklärung, die Moses aus dem Brennenden Dornbusch entgegengeschallt hat: „Ich bin, der ich bin.“ Zum anderen die banal klingende altgriechische und vor allem von Aristoteles terminologisierte Partizipialkonstruktion – „das Seiende“. Die drei Buchstaben zwingen zwei äußerst heterogene Traditionen zusammen (mag auch ihr geographischer und ihr chronologischer Abstand gar nicht so unendlich weit gewesen sein). 

Den göttlichen Personen wurde im Christentum ein ähnlich klingendes Partizip aber mit männlichem Geschlecht eingeschrieben – wohlgemerkt nur im Griechischen, ein lateinisches „ens“ als kirchliche Inschrift wäre wohl doch nicht zuzumuten gewesen. Die griechisch-christliche Formel folgt also einerseits der aristotelischen Kargheit, modifiziert sie aber durch die Geschlechtsumwandlung, man könnte beinahe sagen Geschlechtsverleihung. Diese macht die Entsexualisierung, die Neutralisierung rückgängig, die schon bei den Vorsokratikern die philosophische Sprache und damit die Philosophie angestoßen hatte. 

Im Bild der Dreifaltigkeit am Fleischmarkt bekommen nur Vater und Sohn diese Inschrift. Die Taube, die den Heiligen Geist darstellen soll, bekommt keine. Wie würde sie heißen, wenn es sie gäbe?

 

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Letzthin schrieb ich, dass im Buch XII verschiedene Thesen aus verschiedenen aristotelischen Büchern wiederholt und in einen neuen Zusammenhang gerückt werden. So in 1070a 25ff. die These aus De anima von der menschlichen Seele, die - so wie alle Seelen mitsamt ihren pflanzlichen oder animalischen Körpern – zugrundegeht; allerdings der Seelenteil namens Vernunft, der nur den Menschen eignet, ist davon ausgenommen. Also eine partielle Seelenunsterblichkeit beim Menschen. 

Denkt man an die platonischen Bemühungen um die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, die ja gegen die Annahme ihrer Vergänglichkeit vorangetrieben worden sind, so macht die aristotelische These von der Halb-Sterblichkeit der Menschenseele einen kompromißlerischen Eindruck, was dem Duktus des aristotelischen Denkens nicht ganz fremd ist.

Allerdings wüsste man gerne, ob sich für diesen behaupteten Tatbestand Ursachen oder Prinzipien oder Elemente anführen lassen und diese ätiologische Fragerichtung ist es ja auch, die im Buch XII deutlicher zutage tritt als in den früheren Büchern. Ich nenne sie auch die UPE-Fragerichtung.

Aristoteles formuliert sie nun im Abschnitt 4 auf einer sozusagen höheren Ebene, auf der Ebene der Seinsmodalitäten, die von Buch VII bis Buch X ausführlich dargestellt worden sind und sich in ungefähr vier Dimensionen ordnen – nämlich die Kategorien, das Mögliche und das Wirkliche, das Eine und das Viele, das Wahre und das Falsche. Allerdings war dort die ätiologische Frage für die ontologischen Dimensionen kaum aufgeworfen worden. 

Die immanente UPE-Problematik liegt darin, ob es für verschiedene Dinge unterschiedliche Ursachen, Prinzipien, Elemente gibt oder für alle dieselben. 

Eine spezielle Aporie sieht Aristoteles in der Frage, ob es etwa für das Wesen und für das Bezügliche verschiedene oder selbe Prinzipien und Elemente gibt. Also für die „stärkste“ und für die „schwächste“ der kategorialen Seinsmodalitäten - wobei diese schwächste Seinsmodalität, das Bezügliche oder die Relation, sich im Laufe der Neuzeit zur stärksten Konkurrentin des Wesens, ja zur Überwinderin des sogenannten „Essenzialismus“, aufgeschwungen hat. 

Aber solche Gesichtspunkte spielen für Aristoteles keine Rolle. Er sieht die beiden Seinsmodalitäten irgendwie gleichrangig, da weder das Wesen ein Prinzip der Relation noch diese ein Prinzip des Wesens sei. Die beiden hätten nichts Gemeinsames – als ein solches könnte man allerdings das Seiende annehmen. Doch dieses wird – zusammen mit dem Einen – als mögliches Element ausgeschlossen, da auch Wesen und Relation als Seiendes und Eines zu gelten haben (welche beiden Grundbestimmungen hier als „noetisch“ bezeichnet werden). Die paradoxe Position des Seienden als Grundbestimmung, die doch keine Gattung bilden soll, löst hier die Aporie aus, die Aristoteles dann folgendermaßen auseinanderlegt:

„Demnach könnte keines der Elemente ein Wesen oder ein Bezügliches sein; notwendigerweise aber doch. Nicht alles also verfügt über dieselben Elemente.“ (1070b 8f.)

 

Da zeigt sich der aporetische oder vielleicht doch diaporetische Grundzug der Metaphysik, der im Buch III listenmäßig, schematisch, beinahe maschinell vorgeführt, vorweggenommen worden ist.[1]

 

Und es geht einigermaßen aporetisch, d. h. dilemmatisch weiter:

 

„Oder es verhält sich doch so, wie wir sagen: in gewissem Sinne verfügen alle Dinge über dieselben Elemente, in gewissem Sinne wieder nicht.“ (1070b 10)

 

Von den noetischen zu den aisthetischen Dingen, zu den „wahrnehmbaren Körpern“ übergehend findet Aristoteles leichter, ja geradezu euporetisch, um nicht zu sagen euphorisch, Antworten auf seine Frage.[2] Da ist zum Beispiel das Warme ein Element und ferner das Kalte (als dessen Privation). Sowohl diese Elemente (obwohl hier nur als die Eigenschaften angegeben, aus denen sie abgeleitet worden waren) seien Wesen wie auch die Zusammensetzungen daraus (zum Beispiel Fleisch oder Knochen). In diesem Sinne verfügen unterschiedene Dinge über dieselben Elemente und Prinzipien, sodaß sich Aristoteles hier zu einem „Drei-Prinzipien-Satz“ aufschwingt - siehe 1070b 18: die drei Prinzipien heißen Form, Privation und Stoff. Die Lehre von Form und Stoff, auch Hylomorphismus genannt erfährt hier eine Ergänzung durch die Privation, man könnte auch sagen durch die radikale Negation, durch das konträre Gegenteil. Ein meontologisches Supplement. Für die Farbe heißen die drei Prinzipien Weiß, Schwarz und Oberfläche; für Tag und Nacht heißen sie Licht, Dunkel und Luft.

 

Diese physikalische Prinzipienlehre wird so klipp und klar im berühmten Buch XII der Metaphysik ausgesprochen, was bereits einen Vorgeschmack dieses Buches liefern dürfte.

 

Übrigens steht für „Oberfläche“ „Epiphanie“ – über die zum letzten 6. Jänner hier behauptet wurde, sie sei nur das banale griechische Grundwort „Erscheinung“ – denn die „Erscheinung des Herrn“ bestand ja nur in dem Besuch dreier angeblicher Könige aus dem Morgenland bei dem neugeborenen angeblichen König der Juden (auch wenn sich daran eine größere Geschichte geknüpft hat).

 

Hier kann festgestellt werden, dass das hartnäckige Insistieren auf den ätiologischen Begriffen der Ursache, des Prinzips und des Elements der Physik einen neuen Schwung gibt, der sie weiterführt.

 

Walter Seitter

 




[1] Siehe Walter Seitter: op. coit.: 56ff.

[2] Als reichliches und schwungvolles Tragen und Getragenwerden begünstigt und verstärkt die Euphorie euporetische Phasen eines Unternehmens. 

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