τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 10. Februar 2021

In der Metaphysik lesen (1070a 22 - 30)

Und noch eine neue Erscheinung

 

Ungefähr seit 1990 bis zum Jahr 2020 hing neben meiner Haustür (Hoher Markt 4) ein von mir entworfenes Messingschild mit meinem Namen und Berufsangabe. Im vergangenen Herbst wurde es von der Hausverwaltung abgenommen, weil ein anderer Mieter den Schildplatz beansprucht. Das Schild wurde mir ausgehändigt und ich überlegte, was tun damit. Der Gedanke, es innerhalb meiner Wohnung anzubringen, führte zu verschiedenen technischen Überlegungen und schließlich realisierte der Künstler Wolfgang Podgorschek Anfang 2021 eine recht schlichte Anbringung, die das Schild an einer Wand befestigt und gleichzeitig ein bisschen beweglich hält. 

Wenn man will, kann man sagen, dass der Transfer zu einer tiefgreifenden Transformation geführt hat: das mehr oder weniger simulative Geschäftsschild wurde ein heraldischer oder postheraldischer Schild, der mit Schwarz auf Gold beschriftet ist. Die Farben und die Wörter stehen natürlich historischen sowie ästhetischen Analysen offen.

 

 


 

Im Zeitalter der Photographie (welche als antiheraldische Bildtechnik zu gelten hat) können recht unterschiedliche Erscheinungen des Schildes hinsichtlich Beleuchtung und Spiegelung aufgenommen und festgehalten werden. Die hiesige Aufnahme hält den Fotografen Walter Pamminger fragmentarisch fest. 

 

 

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Natürlich kann man sich fragen, ob die Erinnerung an Hermann von Kärnten (im letzten Protokoll) in irgendeiner angebbaren Beziehung zu der hiesigen Aristoteles-Lektüre gestanden sein könnte oder wozu sie überhaupt gut gewesen sein könnte. 

Ihre „Ursache“ lag zunächst weder in der einen oder anderen Denkrichtung sondern im Zusammentreffen von zwei „zufälligen“, also von außen kommenden Widerfahrnissen mir gegenüber, nämlich zwei verschiedenen bibliographischen Wahrnehmungen, die einen mir – und nicht nur mir – völlig unbekannten mittelalterlichen und mitteleuropäischen philosophischen Autor plötzlich ein bisschen bekannt gemacht haben. 

Die massive Unbekanntheit dieses Autors ließ auch nicht erwarten, daß ich da nun auf einen sehr bedeutenden, etwa gar einen „sensationellen“ Theoretiker, Philosophen gestoßen sein könnte. 

 

Immerhin war mir Ähnliches schon vor ungefähr dreißig Jahren passiert, als mir in Rimini – auf der Suche nach einem Wandbild von Piero della Francesca – die Spur von dem Georgios Gemistos Plethon unterkam, der im 15. Jahrhundert gewirkt hat und von dem ich ebenfalls in meinem ganzen Philosophiestudium nie gehört hatte.[1] Doch dieser Hermann wird im 12. Jahrhundert situiert, welches mir philosophiehistorisch noch nie aufgefallen war. Erste Lektüren berichteten von einem multidisziplinärem Schaffen, das neben einigen vielleicht interessanten eigenen Schriften viele Übersetzungen mit eher naturwissenschaftlicher Ausrichtung enthält. 

Übersetzungen unternehmen zumeist „geographische“ Expeditionen, sofern sie zwischen zwei Sprachen vermitteln, die „nebeneinander“ angesiedelt sind, zum Beispiel deutsch und französisch. Hermanns Leben „verlief“ selber sehr geokinetisch oder –poretisch (ein bisschen auch das meinige). Seine Übersetzungen ins Lateinische nehmen immer auch größere historische Distanzen auf und mit, da sie Schriften aus der Antike in seine Zeit (und womöglich in unsere) transferieren – sie überbrücken also synchrone wie auch diachrone Abstände.

 

Kann eine derartige Transporttätigkeit von Aristoteles-Lesern für wichtig gehalten werden? Ja, wir müssen sie hoch schätzen, sofern wir wissen wollen, was wir tun – wenn wir ihn vierundzwanzig Jahrhunder†e nach seinem Leben lesen. Was ohne vielfältige Übersetzungs-, Kommentierungs- und andere Rezeptionsleistungen gar nicht möglich wäre.

 

Aristoteles selber hat die historischen Aufeinanderfolgen und Auseinandersetzungen, die bis zu ihm hin geführt haben, immer wieder aus seiner Perspektive nachgezeichnet und kommentiert. Und er hat sogar die Frage nach „bedeutenden“ und „weniger bedeutenden“ Vorgängern mit einer gewissen Distanziertheit betrachtet, indem er zum Vergleich mit der Philosophie zwei neuere Vertreter der lyrischen Poesie namhaft macht, nämlich Phrynis von Mitylen und Timotheos von Milet, von denen der zweite viel höher geschätzt werde, aber ohne den ersten kaum möglich gewesen wäre (993b 12ff.). Zumindest als Übersetzer, vielleicht aber auch als Autor dürfte Hermann von Kärnten für manche Autoren des 13. oder eines späteren Jahrhunderts ein hilfreicher Anreger gewesen sein und eventuell könnte er mit seinen fünf Wesenheiten oder mit der Herzenserkundung auch künftige Leser und Schriftsteller noch inspirieren. Meine bibliographischen Angaben sollen dem dienlich sein.

 

Ein gleiches mag vielleicht auch für manchen Autor des 20. Jahrhunderts gelten, der in irgendwelchem Getöse untergegangen scheint.

 

Jetzt haben wir es mit einigen merkwürdigen aber bescheidenen Aussagen des Buches XII zu tun - zum Beispiel mit der Differenz zwischen solchen Ursachen, die dem Verursachten vorausgehen und die unserem modernen Ursachenbebegriff eher entsprechen, und anderen Ursachen, die synchron mit oder sogar in dem Verursachten gegeben sind und von uns eher als Bestandteile des Verursachten bezeichnet werden. Dazu gehören wohl die stofflichen Elemente, aber Aristoteles nennt hier nicht sie sondern den „Begriff“ und er meint etwa die Gesundheit als Ursache des gesunden Menschen, in diesem Fall also ein Akzidens, oder die Kugelform als eine Ursache einer Metallkugel – welche gleichzeitig mit dieser gegeben ist. Und da fügt er die Frage an, ob so eine Form auch noch bestehen bleibt, wenn das Ding vergangen ist, und er setzt die Seele als Form an und den Menschen als Ding, und meint, dass wohl nicht die ganze Seele bestehen bleibt, sondern nur der Seelenteil, den er Vernunft nennt.

Und dann doch die antiplatonische Schlußfolgerung, dass es die Ideen nicht geben müsse. „Denn ein Mensch zeugt einen Menschen, der einzelne einen einzelnen.“ (1070a 28)

 

„In gleicher Weise verhält es sich bei den Künsten, denn die ärztliche Kunst ist der Begriff der Gesundheit.“ (1070a 29f.)

Ganz gleich verhalten sich die Dinge nicht: einmal geht die Verursachung von den Eltern zu Kind, das andere Mal vom Arzt zum Patienten.

Oben war die Gesundheit noch als Begriff-Ursache des gesunden Menschen bezeichnet worden, jetzt bekommt sie doch eine Extra-Existenz als Spezialität eines Fachmannes zugesprochen – im Sinne einer gesellschaftlichen „Arbeitsteilung“. Im potenziellen Patienten ist die Gesundheit eine potenzielle und hoffentliche Ursache, also Kraft seines Gesundseins. Im Falle der Privation ist sie – hoffentlich – im Wissen des Arztes ein Begriff, der ihn dazu befähigt, die Gesundheit des Patienten, d. h. des Privierten, wiederherzustellen bzw. an deren Wiederherstellung mitzuwirken, was nicht ausschließt, dass der gewusste Begriff der Gesundheit auch etwas „Gesehenes“, also eine „Idee“ ist. Denn „Wissen“ heißt im Griechischen „Gesehenhaben“. Und auch nicht, dass ebenfalls im Patienten so eine „Idee“ am Werk ist und ihn aufrichtet. Die Idee wird operationalisiert. 

 

Diese kurzen Feststellungen ziehen verschiedene Thesen, die in mehreren aristotelischen Büchern ausgeführt und diskutiert worden sind, zu knappen Verdichtungen zusammen und bekommen damit eine neue Positionierung, die vielleicht einen neuen Weg bereiten. 

 

 

Walter Seitter

 




[1] Siehe Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft 29: Georgios Gemistos Plethon (1355-1452): Reformpolitiker, Philosoph, Verehrer der alten Götter (2005) Hg. W. Blum und W. Seitter

1 Kommentar:

  1. Ich halte die Reinstallation des Seitter'schen ›Analytike‹-Schildes durch seinen Eigner für unterbewertet. Walter Seitter sieht darin gewohnt bescheiden die »tiefgreifende Transformation eines mehr oder weniger simulativen Geschäftsschild in einen postheraldischen Schild«. War das Schild denn am Hauseingang eine Parodie auf die anderen dort angebrachten Geschäftsschilder? War es je eine kommerzielle Marke? Oder war es nur die öffentliche Manifestation eines heraldisches Privatwappens? Man könnte auch fragen: Ist das lange Zeitalter der Heraldik vielleicht schon vorbei? Und verblasst mit der zeichenhaften Funktion der Aussenwirkung auch das heraldische Zeichen im Inneren?
    Jean-Paul Sartre, der sich einen »kritischen Weggefährten der Psychoanalyse« nannte, veröffentlichte 1969 in drei intellektuellen Zeitschriften – ›Les Tempes Modernes‹ in Paris, ›Ramparts‹ in San Franzisko und »Neues Forum‹ in Wien – die Tonbandabschrift einer psychoanalytischen Sitzung, in der ein gewitzter Analysand namens A. sich und den Therapeuten dazu bringen wollte, sich gegenseitig ins Gesicht zu sehen und Heilung zu einem Abenteuer zu zweit zu machen. Der Patient wirft in dem langen Monolog dem Analytiker vor: »Herr Doktor, Sie sind nach Freud gekommen, man hat Ihnen Ihr Studium bezahlt, und Sie haben es geschafft, ein Schild an Ihre Tür zu heften. Und nun belästigen Sie eine Reihe von Leuten; Sie haben ja das Recht das zu tun, und damit glauben Sie, sich aus allem herauszuhalten. Sie sind ein Versager, Sie machen aus Ihrem Leben nichts anderes, als Ihre eigene Probleme anderen Leuten aufzuladen.«
    Auch Seitter hat es geschafft, das Schild an den Eingang zu heften, und es war dort meines Erachtens nie nur ein heraldisches Zeichen. Es war auch nicht einfach eine Parodie der daneben hängenden Geschäftsschilder. Mit der Selbstzeichnung als Analytiker bestritt der Wiener Philosophen die historische Verdammung der Laienanalyse durch die klinische Medizin. Dass er diesen Kompetenzkonflikt nun in das Innere seiner Behausung und damit in das Innere seines Seins verlegt hat, dass Seitter das Analyseangebot nun im Privatimen »ein bisschen beweglich hält«, also den Zwiespalt des Insichgehens und Sichheraushaltens auf sich selbst ausdehnt, das lässt mich mit Gilbert Simondon von einer echten Transduktion sprechen, das heisst von einer dynamischen Operation, in deren Verlauf Energie aktualisiert wird, indem man Materialitäten von einem Zustand in einen anderen bringt.

    Wolfgang Koch, Februar 2021

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