τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 30. November 2019

In der Metaphysik lesen (Buch IX, 1051a 34 – 1052a 33)

In dem Text, den wir heute lesen, spricht Aristoteles wie so oft irgendeinem Menschen ganz beiläufig und ohne eine ethnographische oder gar politische Aussage machen zu wollen, als Beispiel für eine akzidenzielle Bestimmung die Farbe „weiß“ zu – neben der Eigenschaft „musisch“ oder „gebildet“ das Standard-Beispiel für Akzidens. Bei „gebildet“ kann man annehmen, dass er diese Eigenschaft für eine erwünschte hält, und im Buch über das Werden und Vergehen hat er sie sogar einmal dramatisiert, indem er von ihrem Abhandenkommen (bei einem Menschen) sprach. Wir haben uns schon öfter gefragt, was er mit „weiß“ eigentlich meint (so am 15. November 2017), denn wir haben keine Stelle gefunden, an der er diese Eigenschaft auch nur im mindesten kommentiert. Also vermuten wir, dass er damit die Hautfarbe meint, die natürlich oder angeblich bestimmten Völkern wie eben den Griechen zukomme.

Wolfgang Koch weist nun darauf hin, dass in der heutigen FAZ ein ausführlicher Artikel erschienen ist, der von einem heftigen Streit berichtet, der innerhalb der Altertumswissenschaft in den USA ausgebrochen ist. Diese Wissenschaft widmet sich ja so gut wie ausschließlich der griechischen und römischen Antike und sie wird nun von einigen Fachvertretern unter den Verdach† gestellt, dem weißen Rassismus Vorschub zu leisten – worauf ich hier nicht eingehe.[1] Immerhin gibt Aristoteles gerade in 1051b 8f. zur weißen Hautfarbe eine rein logische Erklärung ab, mit der er nur seine Wahrheitsauffassung bekräftigen will: „du bist nicht deswegen weiß, weil wir der Wahrheit gemäß meinen, du seist weiß“.

Nach der Lektüre einiger Abschnitte des Buches I von Werden und Vergehen kehren wir zum Lesen in der Metaphysik zurück und kommen zum Abschnitt 10 von Buch IX.  Am Anfang resümiert Aristoteles drei verschiedene ontologische Differenzierungen des Seienden und wiederholt damit ungefähr die Dreiheit, die er im Abschnitt 7 von Buch V angeführt hatte. Dort hatte er die drei Differenzierungen von „seiend“ kurz charaktersiert (Differenzierung zwischen akzidenziell und „an sich“, zwischen wahr und falsch, zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit) – das Buch V ist ja als „Begriffslexikon“ zwischen abhandlungsartige Bücher eingeschoben. Der Abschnitt 10 von Buch IX schließt an die ausführlichen Erörterung von Möglichkeit und Wirklichkeit an. Die Nennung der drei ontologischen Achsen steht nun unter einem anderen Vorzeichen, da das Seiende nun von vornherein durch das Nicht-Seiende „verdoppelt“ erscheint, auch an Möglichkeit und Wirklichkeit werden  ihre Gegenteile angehängt, wahr und falsch bilden ohnehin ein Gegensatzpaar. Hier erscheint also das Seiende – gemeint ist das Seiende der ontologischen Betrachtung, also das Seiende als Seiendes – durch seine Negation nicht aufgehoben wohl aber angegriffen und zersetzt. Die Ontologie ist eine zersetzende Betrachtungsweise - auf einer Metaebene (die jedoch ins Objektive gewendet ist). Heideggers „Ex nihilo omne ens qua ens fit.“[2] ist keine physikalische sondern eine ontologische Aussage. 

Erstaunlicherweise sagt Aristoteles, die Differenzierung nach wahr oder falsch treffe das Seiende am eigentlichsten, obwohl doch wahr und falsch Eigenschaften von Aussagen sind – doch bei den Sachen handle es sich um Zusammengesetztsein oder Getrenntsein. Auf welcher Ebene diese Bestimmungen ihren Platz haben, sei jetzt einmal dahingestellt. Das Zusammengesetzt- oder Getrenntsein kann entweder notwendig oder wirklich oder möglich oder unmöglich sein – hier wird also eine andere Ontologie-Achse eingeschoben.

„Weißes Holz“ scheint eine kontingente, „inkommensurable Diagonale“ eine notwendige Zusammensetzung zu sein.

Wahres und Falsches ergeben sich in unterschiedlicher Weise bei zusammengesetzten und unzusammengesetzten Dingen und jetzt führt Aristoteles zusätzlich zu den Aussagen, die entweder wahr oder falsch sind, eine Reihe menschlicher Wahrheitszugänge oder Wahrheitsverhalten (mitsamt negativen Versionen) ein, die da heißen: erfassen, nennen, bejahen, behaupten, nicht-erfassen, nicht-wissen, Täuschung, denken, nicht-denken, nachforschen ...

Über das Was sei eine Täuschung nicht möglich, außer in akzidenzieller Weise, und ebenso über die unzusammengesetzten Wesen, die weder entstehen noch vergehen. (1051b 26ff.) Und dann ein plakativer Satz über das „Seiende selbst“, das weder entsteht noch vergeht (1051b 29). Ist damit das parmenideische Seiende gemeint, das von der Göttin als unentstanden, unvergänglich, unteilbar, unörtlich, unzeitlich, unwahrnehmbar und vollkommen verkündet worden ist? Oder aber das ziemlich mehrdeutige Substrat der ontologischen Differenzierungen – to on legetai pollachos?

Die erste Antwort ist auszuschließen, die zweite klingt gar nicht plausibel.

Dieses hiesige Seiende entsteht und vergeht nicht, weil, wenn es entstünde, es aus etwas entstehen müsste. Immerhin hat Aristoteles in der kleinen Schrift vom Werden und Vergehen ein Entstehen aus Nichts sozusagen erfunden.

Walter Seitter
27. November 2019





[1]  Jonas Grethlein: Die Modernisierung der Antike, in: FAZ 27. November 2019.

[2] Martin Heidegger: Wegmarken (GA 9): 120.

Freitag, 22. November 2019

Über Werden und Vergehen (Mikroanalysen)

Den Unterschied zwischen Wahrnehmbarem und Unwahrnehmbarem hat Aristoteles deswegen eingeführt, weil diese Eigenschaften von den „meisten“ mit Seiend bzw. Nicht-Seiend gleichgesetzt werden. Der gewöhnliche Hausverstand hält eben nur etwas Wahrnehmbares für wirklich. (318b 17ff., 319b 13ff.)

Das Beispiel, das er für Unwahrnehmbares einführt, ist nun nicht etwas Unkörperliches sondern die Luft, von der er zunächst sagt, sie sei für die Wahrnehmung „weniger“ als die Erde, welche viel besser wahrnehmbar sei. Allerdings sei Luft mehr ein „Das-da und Spezies“, also eine höhere Substanz als die Erde – hierbei handelt es sich um eine kosmologische Einschätzung der verschiedenen Elemente, welche die Materialien für die uns bekannten Körper liefern.

Jedenfalls ist die Luft ziemlich unwahrnehmbar. (319b 20)

Nach Aristoteles sind Werden und Vergehen eng verschränkt. Aber wie ist diese enge Verschränkung bestimmt? Beruht sie darauf, dass jedem Werden ein gegenläufiges Vergehen folgt und dann wiederum ein Werden in der ersten Richtung? So ein sukzessives Hin und Her scheint mir im Text nicht angezeigt und es ist auch nicht einsichtig, welche Phänomene gewöhnlicher also regelmäßiger Art so einer Auffassung entsprechen würden. Die Verschränkung zwischen Werden und Vergehen ist noch enger und zwar ist jedes Werden, also ein Werden von A, selber (und natürlich simultan!) ein Vergehen von Non-A. Also gehen dieses Werden und dieses Vergehen in dieselbe Richtung, sie sind nur zwei Seiten eines einzigen Vorgangs, sie bewirken den Anfang eines Zustandes und das Ende der gegenteiligen Situation.            

Sie führen zusammen einen „neuen“ Zustand herbei, über dessen Dauer damit noch nicht entschieden ist. Metaphorisch spricht Aristoteles von einem „Weg“ bzw. von zwei Wegen (318b 9f.) – und das hat er auch im Buch IV der Metaphysik getan, wo die Ontologie hauptsächlich als Kategorienlehre entfaltet wird.

Geradezu dramatisch historisierend formuliert Aristoteles so einen doppelseitigen Vorgang. „Der gebildete Mensch ist vergangen, der ungebildete Mensch ist entstanden.“ (319b 25). Man könnte den ersten Satzteil auch so wiedergeben: „Der gebildete Mensch ist kaputt gegangen, untergegangen ...“ Daß uns diese Aussage aufgrund ihrer „Bedeutung“ ziemlich negativ vorkommt, das mag schon sein. In der doppelseitigen Formulierung des Aristoteles ist nun gerade nicht nur von Untergang die Rede sondern auch von einem Werden, einem Aufgang. Allerdings Aufgang des ungebildeten Menschen.

Besagter Nensch hat dieses Vergehen-Werden überlebt – er hat nur eine Eigenschaft verloren und eine andere, nämlich die entgegengesetzte angenommen. Die beiden Eigenschaften werden mit relativ starken Substantiven beinahe als selbständige Entitäten genannt: mousike und amousia – und daher muß Aristoteles die Vorstellung, die beiden seien selber vergangen bzw. entstanden, extra abwehren und den Vorgang als bloße Veränderung am Menschen klarstellen. Aber als eine Veränderung, die den Menschen tiefgreifend affiziert: er ist als gebildeter untergegangen und als ungebildeter entstanden.

Man wird die Richtung dieser Veränderung als unerfreulich empfinden und wir haben sie als senile Demenz gedeutet. Umso mehr muß man dieser drastischen Textstelle zugutehalten, dass sie Vorstellungen von einem pauschalen aristotelischen Optimismus zuwiderläuft. Sie hat etwas Tragisches – Ödipus auf Kolonos ist nicht weit.

Ich glaube, dieses Beispiel zeigt, dass Aristoteles jedenfalls hier die Ontologie als Mikroanalyse ansetzt und große kosmologische Zusammenhänge nicht unbedingt aufruft. Solche Zusammenhänge werden allerdings auch in diesem Buch gelegentlich und im Buch II dann stärker thematisiert. Die Ontologie als solche setzt zunächst an kleinen und feinen Phänomenen und Unterschieden an.

Die exemplarische Kurzerzählung dieses Beispiels erinnert an die Struktur der Tragödie, wie sie Aristoteles in seiner Poetik postuliert hat: deren Handlung setzt sich zusammen aus kleinen Vorgängen, unter denen die Wiedererkennung und die Peripetie die bekanntesten sind. Im jetzt gelesenen Text fasst Aristoteles das Werden-Vergehen öfter auch als metabole, also „Umschlag“ zusammen.

Die andere Fragestellung dreht sich darum, welche Arten von Werden-Vergehen es gibt bzw. wie sich Werden-Vergehen von anderen Umschwüngen, Veränderungen, Wandlungen unterscheidet.

Beim Werden des ungebildeten Menschen und Vergehen des gebildeten Menschen wird Bildung durch Unbildung ersetzt – aber nicht Bildung und Unbildung global oder gar an sich – sondern als Eigenschaften eines Menschen, der als solcher, als Mensch, weiterbesteht. Daher ist dieses Werden-Vergehen insgesamt als partielles oder akzidenzielles zu bezeichnen. Damit ist ein Begriff aus der Kategorienlehre eingeführt und Aristoteles differenziert hier weiter, indem er drei Akzidenzien nennt, deren Wandel drei verschiedene Arten von akzidenziellen Werden-Vergehen definiert: Wachsen-Schwinden, Fortbewegung, Veränderung. (319b 31ff.)

Wo aber das Zugrundeliegende selber, die Substanz, entsteht oder untergeht, liegt Werden und Vergehen im eigentlichen Sinn, im substanziellen Sinn, vor. Für so ein Entstehen macht Aristoteles ganz kursorisch das Aufgehen der Pflanze namhaft: phyomenon (319a 11).

Was aber vergeht, was geht unter beim Aufgehen einer Salatpflanze und in der Folge dann bei ihrem Wachsen? Die Pflanze holt aus ihrer Umgebung, der unterirdischen und der oberirdischen, die Stoffe, die sie in sich selber umwandelt – und damit zerstört sie, jedenfalls mindert sie diese Stoffe in ihrem bisherigen Bestand.

So bindet Aristoteles die Problematisierung von Werden, Vergehen et ceteris an die Lehre von den Kategorien zurück, die in der gleichnamigen und vermutlich sehr frühen Schrift entfaltet worden war und die als frühestes Stück der aristotelischen Ontologie gelten kann. Es sind – neben oder zwischen den eigentlich objektbezogenen Abhandlungen – Stücke, die sich zu einer ganz und gar von ihm erfundenen Problematik zusammenfügen.

In der sogenannten Metaphysik ist die Kategorienlehre explizit auf das „Seiende“ bezogen worden und außerdem ist in diesem Buch die Polarität von Möglichkeit und Wirklichkein dargestellt worden. Lauter Stücke, die erst 2000 Jahre nach Aristoteles den Titel „Ontologie“ bekommen haben – die allerdings noch mehr Stücke umfaßt.

Walter Seitter 
20. November 2019

Freitag, 15. November 2019

Über Werden und Vergehen (als gegenläufige Vorgänge)

Werden und Vergehen sind die beiden gegenläufigen Vorgänge, die nach Aristoteles eng aneinander gekoppelt sind. Immer wenn etwas wird, vergeht ein anderes. Immer wenn etwas vergeht, wird etwas anderes. Es scheint eine Art Nullsummenspiel zu sein. Ja Aristoteles setzt das Werden des einen mit dem Vergehen des anderen gleich. (318a 24, 30) Dennoch stellt er die Frage, wieso das Werden bei dem vielen Vergehen immer weiter gehen kann, immer wieder anknüpfen kann, wieso das Ganze nicht schon längst aufgebraucht und fort ist. (318a 16)

Mir scheint, dass er damit die Frage stellt, die sich die moderne Kosmologie zu wenig stellt, da sie ja seit dem späten 19. Jahrhundert von dem Gedanken der Entropie so fasziniert ist, der zwar nicht die Vernichtung wohl aber die totale Entspannung und Erschöpfung der Energie nahelegt.

Aristoteles operiert hier mit anderen Begriffen und die Ausgewogenheit von Werden und Vergehen sorgt dafür, dass immer wieder ein Woraus für neues Werden da ist.

Sowohl beim Werden wie beim Vergehen unterscheidet Aristoteles schlechthinniges und partielles.

Wenn jemand durch Lernen ein Wissender wird, so liegt ein partielles Werden vor – das auch Veränderung genannt werden kann: ein Weg zu einer neuen Beschaffenheit. (318a 35) Würde ein Wissender sein Wissen verlieren und unwissend werden, so handelte es sich um ein partielles Vergehen.

Schlechthinniges Werden führt zu einem schlechthin Seienden, schlechthinniges Vergehen führt zu einem schlechthin Nicht-Seienden.(318b 10) Dafür bieten sich die deutlicheren Ausdrücke „Entstehung“ und „Zerstörung“ an. Und der Unterschied zwischen partiellem und schlechthinnigen Werden entspricht demjenigen zwischen Akzidens und Substanz.

Aristoteles führt dann Beispiele an, in denen sich eines der vier Elemente in ein anderes wandelt. Solche Wandlungen können als partielle oder als schlechhinnige Werden betrachtet werden – je nachdem, wie diese verschiedenen Elemente eingeschätzt werden: da spielen unterschiedliche kosmologische Positionen eine Rolle. (318b 2ff.)

Neben solchen eher spekulativen Unterscheidungen erwähnt Aristoteles dann eine andere Unterscheidung, die den meisten Menschen vertraut ist: diejenige zwischen Wahrnehmbarem und Nicht-Wahrnehmbarem. Wenn etwas Unwahrnehmbares in Wahrnehmbares übergeht, dann ist das für die meisten ein Entstehen, der gegenläufige Übergang ist für sie ein Verschwinden oder Vergehen. Denn sie setzen das Unwahrnehmbare mit dem Nicht-Seienden, das Wahrnehmbare mit dem Seienden gleich. (318b 18ff.) Diese sensualistische Auffassung wird von Aristoteles mit starken Vorbehalten akzeptiert. Er setzt ihr jedoch eine der oben angedeuteten Thesen entgegen, wonach etwa der unsichtbaren Luft eine höhere Wirklichkeit zukomme als der berührbaren und bekanntlich auch sichtbaren Erde. (318b 25ff.)

Walter Seitter
13. November 2019

Montag, 11. November 2019

Über Werden und Vergehen (Ontologie-Achsen II)

Ich schreibe hier noch einmal die vier bisher aufgefundenen
Ontologie-Polaritäten zusammen, aus denen  die ontologische Betrachtungsweise bei Aristoteles zusammengesetzt erscheint.

Kategoriale Polarität: Substanz -------- Akzidenzien

Modale Polarität:      Möglichkeit ----- Wirklichkeit

Epistemische Polarität:  wahr -------- falsch

Radikale Polarität: werden --------- vergehen

Diese Betrachtungsweise hat sich bei Aristoteles selber mit einer gewissen Langsamkeit zusammengefügt – und mit einer starken Nachträglichkeit gegenüber den regionalen Untersuchungen, die er im Laufe seines Schaffens vorgenommen hat.

In welcher Reihenfolge hat er die verschiedenen Realitätsbereiche zu seinen Themen gemacht? Die früheste Regionaluntersuchung, in der die Ontologie massiv und gleichzeitig implizit auftaucht, ist wohl die Kategorienschrift, in der zehn Kategorien und fünf Postprädikamente ziemlich detailliert vorgestellt werden. Diese Schrift wird der Logik zugerechnet, die man heute auch als Sprachanalytik bezeichnen könnte – oder als „Metawissenschaft“, insofern da die verschiedenen Weisen von Sprechen, Denken, Wissen thematisiert werden. Wobei die jeweiligen Sachbezüge nicht unterschlagen werden. Sosehr, dass etwa die Kategorie „Substanz“ mit dem Anwendungsfall „Mensch“ durch die geradezu politische Aussage spezifiziert wird, dass sie keine Steigerung zulässt: „Denn nicht ist einer mehr Mensch als ein anderer.“ (3b 38) Die Unzulässigkeit von Steigerung oder Minderung unterscheidet die Substanz von den Akzidenzien.

Die formelle Gründung der Ontologie setzte dort ein, wo die Kategorien als Ausdifferenzierungen des griechischen Grundwortes „seiend“ festgelegt worden sind. Ein Wort, das ungefähr so etwas wie „real“ oder „wirklich“ heißt, aber als aktives Präsenspartizip von „sein“ eine sehr spezielle Grammatik aufweist.
„to on legetai ... pollachos“ lautet die Formel, die in verschiedenen Schriften auftaucht; in der sogenannten Metaphysik, im Buch IV, wird sie als ein Grundsatz der später danach benannten Ontologie aufgestellt, wobei die Ontologie auch in dieser Textsammlung sich erst allmählich als eigene Betrachtungsweise herauskristallisiert – und zunächst keine eigene Disziplinbezeichnung bekommt. „Gesuchte Wissenschaft“ ist ja nun wahrlich keine ordentliche Disziplinbezeichnung und „Theologische Philosophie“ (VI, 1026a 20) ist gar keine zutreffende Bezeichnung dafür. In den Büchern VII und VIII wird dann die Kategorie „Wesen“ ausführlich abgehandelt, im Buch IX Möglichkeit und Wirklichkeit und in dessen 10. Abschnitt wird dann die Polarität wahr und falsch immerhin angeschnitten.

In De generatione et corruptione werden Werden und Vergehen als ontologische Modalitäten eingeführt, die allerdings schon früher angedeutet worden waren. Ich würde sagen, es sind aggressive Modalitäten, denn sie konfrontieren als Anfang bzw. als Ende das Seiende bzw. Sein mit dem Nicht-Seienden oder Nicht-Sein.

Insofern die moderne Kosmologie – im Unterschied zu Aristoteles – auch die Himmelskörper zu den vergänglichen Wesen rechnet, sie als entstandene und „sterbliche“ diagnostiziert und prognostiziert, weitet sie die Gültigkeit von De generatione et corruptione aus und verstärkt gewissermaßen den ontologischen Charakter dieser Schrift. Denn die ontologischen Bestimmungen sind durchgängige Seinsmodalitäten. Insofern hat die moderne Wissenschaft paradoxerweise dazu beigetragen, die aristotelische Ontologie „weiterzuentwickeln“. Schlechterdings alle sind sterblich ... und Unsterblichkeit wäre wenn überhaupt die Ausnahme.

Das würde heißen, die sehr langsame „Genese“(!) dieser Ontologie setzt sich bis heute fort. Die Unterscheidung von drei oder vier Ontologie-Achsen hat sich ja erst vor wenigen Wochen in dieser Klarheit und zwar hier herauskristallisiert.

Im Kapitel 3 dieses Buches wirft Aristoteles die Frage auf, ob es auch schlechthin Werdendes und Vergehendes gibt – oder nur Werden von einer Bestimmtheit zu einer anderen. Mit dieser Unterscheidung trifft man wieder auf den Unterschied zwischen Wesen und Akzidens.

Beim Wesen-Werden stellt sich die Frage, von wo es seinen Ausgang nimmt. Und Aristoteles gibt die Antwort, ein Werden gehe immer von einem „nicht-seiend“ aus. Das Weiß-Werden gehe von einem Nicht-Weißen aus, das Werden schlechthin von einem schlechthin Nicht-Seienden. Aber was bedeutet „schlechthin“? Entweder jede Kategorie des Seienden oder das Allgemeine und das Allumfassende.

Eine „erstaunliche Aporie“ sieht Aristoteles darin, wie schlechthinniges Werden ist – entweder ist es aus einem der Möglichkeit nach Seienden oder irgendwie anders. Mit dem „wie“ akzentuiert Aristoteles das Adverbiale und wiederholt dieses im „irgendwie“ und im „anderswie“.

Davon zu unterscheiden ist die Frage des Woraus des Werdens – und dieses Woraus ist ein partielles oder ein totales Nicht-Seiendes.

Das Woraus kann als eine Art Ursache begriffen werden. Eine andere Art Ursache ist das Woher der Bewegung. Da die Bewegung von außen kommt, ist sie von dem Wie des Werdens wohl zu unterscheiden.

All das steht unter der Drohung des Nichts, welches dem schlechthinnigen Werden zugrunde zu liegen scheint.


Walter Seitter
6. November 2019