Werden und Vergehen sind
die beiden gegenläufigen Vorgänge, die nach Aristoteles eng aneinander
gekoppelt sind. Immer wenn etwas wird, vergeht ein anderes. Immer wenn etwas
vergeht, wird etwas anderes. Es scheint eine Art Nullsummenspiel zu sein. Ja
Aristoteles setzt das Werden des einen mit dem Vergehen des anderen gleich.
(318a 24, 30) Dennoch stellt er die Frage, wieso das Werden bei dem vielen
Vergehen immer weiter gehen kann, immer wieder anknüpfen kann, wieso das Ganze
nicht schon längst aufgebraucht und fort ist. (318a 16)
Mir scheint, dass er damit
die Frage stellt, die sich die moderne Kosmologie zu wenig stellt, da sie ja
seit dem späten 19. Jahrhundert von dem Gedanken der Entropie so fasziniert
ist, der zwar nicht die Vernichtung wohl aber die totale Entspannung und
Erschöpfung der Energie nahelegt.
Aristoteles operiert hier
mit anderen Begriffen und die Ausgewogenheit von Werden und Vergehen sorgt
dafür, dass immer wieder ein Woraus für neues Werden da ist.
Sowohl beim Werden wie
beim Vergehen unterscheidet Aristoteles schlechthinniges und partielles.
Wenn jemand durch Lernen
ein Wissender wird, so liegt ein partielles Werden vor – das auch Veränderung
genannt werden kann: ein Weg zu einer neuen Beschaffenheit. (318a 35) Würde ein
Wissender sein Wissen verlieren und unwissend werden, so handelte es sich um
ein partielles Vergehen.
Schlechthinniges Werden
führt zu einem schlechthin Seienden, schlechthinniges Vergehen führt zu einem
schlechthin Nicht-Seienden.(318b 10) Dafür bieten sich die deutlicheren
Ausdrücke „Entstehung“ und „Zerstörung“ an. Und der Unterschied zwischen
partiellem und schlechthinnigen Werden entspricht demjenigen zwischen Akzidens
und Substanz.
Aristoteles führt dann
Beispiele an, in denen sich eines der vier Elemente in ein anderes wandelt.
Solche Wandlungen können als partielle oder als schlechhinnige Werden
betrachtet werden – je nachdem, wie diese verschiedenen Elemente eingeschätzt
werden: da spielen unterschiedliche kosmologische Positionen eine Rolle. (318b
2ff.)
Neben solchen eher
spekulativen Unterscheidungen erwähnt Aristoteles dann eine andere
Unterscheidung, die den meisten Menschen vertraut ist: diejenige zwischen
Wahrnehmbarem und Nicht-Wahrnehmbarem. Wenn etwas Unwahrnehmbares in
Wahrnehmbares übergeht, dann ist das für die meisten ein Entstehen, der
gegenläufige Übergang ist für sie ein Verschwinden oder Vergehen. Denn sie
setzen das Unwahrnehmbare mit dem Nicht-Seienden, das Wahrnehmbare mit dem
Seienden gleich. (318b 18ff.) Diese sensualistische Auffassung wird von
Aristoteles mit starken Vorbehalten akzeptiert. Er setzt ihr jedoch eine der
oben angedeuteten Thesen entgegen, wonach etwa der unsichtbaren Luft eine
höhere Wirklichkeit zukomme als der berührbaren und bekanntlich auch sichtbaren
Erde. (318b 25ff.)
Walter Seitter
13. November 2019
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