τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 13. Januar 2021

Supplement zur Minimalontologie II

Die Fokussierung/Streuung des Seienden als Seienden eröffnet ein riesiges und mehrdimensionales Spektrum, das vom Wesen zum Nicht-Seienden, von den Akzidenzien zu Vermögen und Verwirklichung, vom Einen und Vielen zum Werden und Vergehen und zu wahr oder falsch reicht. 

 

Alle diese Bestimmungen sind der Ontologie zuzurechnen, die im Buch IV formell begründet wird. Sie scheinen sich in einem nicht ganz glatten Feld zu verteilen und mehr oder weniger friedlich zu koexistieren.

 

Doch der Eindruck einer rein deskriptiven und statischen Ontologie hält nicht lange, denn einige der genannten Bestimmungen zerren und treiben die ebene Fläche in andere Dimensionen, sie graben Vertiefungen ein und werfen Höhen auf. Es setzt sich das Bild einer Landschaft durch, in der Veränderungen, Hin- und Her- und Auf- und Abbewegungen, Werden im Plural derart dominieren, dass die Sachverhalte, die von den ontologischen Bestimmungen abstrakt angedeutet werden, nach einer zusätzlichen Kategorie zu verlangen scheinen, die Aristoteles nicht als Kategorie einführt, sondern auf zwei andere Begriffe verteilt, die sich weitgehend überlappen und doch getrennt genannt werden, weil der eine Begriff, nämlich die Ursache, mit den Sachen eng verschmilzt, während der andere, das Prinzip, die Herrschaftsattitüde nicht aufgeben will. 

 

Vier Ursachensorten unterscheidet Aristoteles und außerdem vier Verursachungsbereiche oder -weisen. Sie alle gelten auch als Prinzipien. Als Prinzipien gelten ferner gewisse „bessere“ Kategorien wie das Wesen oder aber die Verwirklichung und außerdem etwas ganz anderes, nämlich so ein Prinzip, das die Form eines Axioms angenommen hat und von Aristoteles als „Sicherstes Prinzip“ bezeichnet wird, in unserer schlampigen Gelehrtensprache jedoch als „Satz vom Widerspruch“ firmiert. 

 

Im Buch IV wird nicht nur die eher deskriptive Betrachtung des Seienden als seienden und der ihm zukommenden Bestimmungen zum Programm erhoben sondern auch die Erfassung der „ersten Ursachen“ des Seienden als seienden (1003a 32) postuliert. Diese ordnet sich direkt in den explikativen (oder „metaphysischen“ im engeren Sinne) Zweig der „gesuchten Wissenschaft“ (983a 20) ein, welcher vom Gegebenen aus nach weiter Entferntem zu suchen hat, nach Voraussetzungen oder Bedingungen, die Aristoteles als „erste“ bezeichnet. Die Suche nach den „ersten Ursachen und den Prinzipien“ (981b 29) wird schon im Buch I als die allgemeine Aufgabe der Weisheit, die in eine Wissenschaft transformiert werden soll, festgesetzt.[1]

Die große Verzweigung in die deskriptive und in die explikative Metaphysik findet übrigens innerhalb der Ontologie-Gründung des Buches IV eine Analogie, da sich diese in eine assertorische oder schlicht behauptende und in eine elenchische oder widerlegend-beweisende teilt.[2]

Die explikative Seite der Metaphysik lässt sich in folgender sehr pauschaler Frage zusammenfassen: 

Warum gibt es das, was es gibt, und warum ist es so, wie es ist?

 

Eine derart aufs Ganze der Realität gehende Warum-Frage resümiert das Gesamtprogramm der aristotelischen Metaphysik in Kurzform.

Und diese sprachliche Fassung erinnert unmittelbar an die berühmte fundamentalontologische Frage, die von Gottfried Wilhelm Leibniz um das Jahr 1700 mehrmals gestellt worden ist: 

„Warum gibt es eher etwas und nicht vielmehr nichts?“ 

Diese verschärft allerdings die aristotelische Grundfrage der Metaphysik durch die Konfrontation des „etwas“ mit dem „nichts“ – das heißt sie radikalisiert ihre eigene implizite Ontologie „meontologisch“. 

 

Die damit aufgerissene Problematik ist sicherlich riesig und ich möchte sie hier nur skizzieren, indem ich aus einem Aufsatz über die Vorgeschichte der Leibniz-Frage referiere und speziell auf die aristotelische Position darin eingehe:

 

 

Jens Lemanski: ‚Cur Potius Aliquid Quam Nihil’ von der Frühgeschichte bis zur Hochscholastik.[3]

 

Die ersten griechischen Autoren, die Lemanski nennt, sind Hesiod mit seiner Theogonie, der Komiker Epicharmos, der Philosoph Parmenides von Elea und der Philosoph Melissos von Samos, zwischen denen Entstandensein oder Ewigkeit der Götter umstritten sind, wobei mit den Göttern solche wie Chaos, Erde, Himmel gemeint sind, also kosmische Entitäten. Gegen die Aussage, das Chaos sei als erstes von den Göttern entstanden, richtet Epicharmos die Frage, wie das möglich sein soll, wo es doch keinen Weg irgendeiner Entstehung gegeben habe. Lemanski betont, dass hier eine Wie-Frage, keine Warum-Frage gestellt werde. (26ff.)

 

In den Nomoi (891 ff.) nähert sich Platon mit der Seele als „Prinzip der Entstehung von allen Dingen“ der fundamentalontologischen Frage und ihrer Beantwortung. Der Timaios (28a 4-6) formuliert die „ägyptische Protologie“ in das Prinzip vom zureichenden Grund um: „Alles, was entsteht, muß aber nun aus einer Ursache notwendig entstehen; denn unmöglich kann etwas ohne Ursache entstehen.“

 

Später sollte Seneca dem Gott als Motiv für die Erschaffung der Welt seine Güte unterstellen. 

 

Doch meint Lemanski, wichtiger als Platon sei für das Heraufkommen der fundamentalontologischen Frage die Tatsache, dass Aristoteles den Kontingenzgedanken, etwas Seiendes könne auch nicht sein, auf das Sein selbst bezieht. So im Buch XII: 

 

„Allerdings eine Aporie. Man meint, das Wirkende vermöge alles, das Vermögende aber wirke nicht alles, so dass das Vermögen das Erste sei. Wenn dies so wäre, so gäbe es keines von allen Seienden; denn es ist möglich, dass etwas sein kann, ohne tatsächlich zu sein.“ (1071b 23-26)

 

Hier befinde ich persönlich mich in einer Aporie. Nicht nur habe ich die ersten Sätze ziemlich anders übersetzt als die anderen. Noch dazu verstehe ich sie nicht im Sinn der Schlußfolgerung, die Aristoteles aus ihnen zieht und die mir allerdings „aristotelisch“ zu sein scheint.

 

Aristotelisch und konvenient mit dem „und nicht vielmehr nichts“ der Leibniz-Frage. Daß das Vermögen in vielen Fällen der Verwirklichung faktisch vorausgeht, grundsätzlich aber die Verwirklichung als primär gedacht werden muß, ist im Buch IX ausführlich dargelegt worden. 

 

Den meontologischen Irrealis als Weg zum ontologischen Realis findet man bei Aristoteles so oft, dass man tatsächlich von einer Denknähe zu Leibniz sprechen kann.

 

So etwa in der 14. Aporie von Buch III: „Wenn die Elemente nur der Möglichkeit nach sind, so würde keines der Seienden existieren; denn möglich sein heißt (noch) nicht sein; dieses Nicht-Seiende wird; aus dem Unmöglichen wird nichts.“ (1003a 2-6)

Oder ein Satz aus der Kategorienlehre, der sich bereits aus der Minimalontologie erhebt: „Gibt es die primären Wesen nicht, so ist es unmöglich, dass es irgend etwas von den anderen Dingen gibt.“ (5, 2b 6a-b)

 

Dieses Supplement ist insofern sehr supplementär, als es den unteren Rand der Ontologie, die Meontologie, über sie hinaus und aufs Ganze der Realität zutreibt.

 

 

 

Walter Seitter

 


[1] Siehe dazu Ermylos Plevrakis: Aristoteles’ Suche nach der Ersten Wissenschaft. In: Grundlegung des Absoluten? Paradigmen aus der Geschichte der Metaphysik. Hrsg. v. Ermylos Plevrakis und Max Rohstock. Heidelberg 2019

[2] Siehe Walter Seitter: op. cit.: 89ff.

[3] In: D. Schubbe, J. Lemaanski, Rico Hauswald (Hg.): Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Wandel und Variationen einer Frage (Hamburg 2013). Seitenangaben beziehen sich auf dieses Buch. Ein anderer neuerer Sammelband ist der Diskussion einer bestimmten Antwort auf die Leibniz-Frage gewidmet: Nicholas Rescher: Why Is There Anything at All? (Freiburg/München 2018)


1 Kommentar:

  1. Seitter arbeitet wunderbar heraus, wie die Leibniz-Frage im schriftlichen Geist des Stagiriten lebendig wird. Wir sollten allerdings nicht vergessen, dass diese Problematik mit Leibniz nicht abschlossen war. Ein gewisser Martin Heidegger pointierte die Frage wenig originell in seiner Freiburger Antrittsvorlesung im Jahr 1929, und in dieser Heidegger-Ontologie von Seiendem und Nichts geistere sie durch das ganze Jahrhundert, bis ihr Jean Baudrillard im Titel seines letzten Buches, das er im Alter von 77 verfasste, endlich eine neue Pointe abrang. »Pourquoi tout n'a-t-il pas déjà disparu?/ Warum ist nicht alles schon verschwunden?«, begehrte der Theoretiker der Simulation am Ende seines Lebens zu wissen. Das war 2007 ein wirklich bemerkenswerter Sprung in der Debatte, der das blosse philosophische Staunen hinter sich liess. Wenn die »Grundfrage der Metaphysik« (Seitter) nämlich nicht bloss eine rhetorische Frage sein soll, muss man das Augenmerk auf die Antwortversuche legen. Baudrillard meinte in der Auflösung von alten Wirklichkeits- und Wahrnehmungsmustern unseren Wunsch zu erkennen, die Welt in unserer Abwesenheit zu sehen, ja über den Horizont des Verschwindens hinauszublicken in »einen Bereich reinen Scheins, der Welt so wie sie ist«. Dieser Gedanke schliesst wohl eher an Platon als an die genannten Quizmaster an; und die aktuelle Diskussion des Anthropozäns erscheint vor dem Hintergrund von Baudrillards Beobachtung wie ein Traum von unserer ultimativen Abwesenheit.

    Wolfgang Koch, 13. Jän. 2021

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