τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 16. Dezember 2020

In der Metaphysik lesen (1068b 7 – 1069a 17)

   In der Welt der Veränderungen – und das ist die hiesige - überlegt Aristoteles, welchem Schema sie folgen, um wirklich stattfinden zu können: etwas entsteht von einer Bestimmung aus zu einer anderen Bestimmung hin. Es braucht also zu einem Entstehen außer dem Entstehen ein „etwas“ und eine Ausgangsbestimmung und eine Zielbestimmung. Also ein Substrat- oder Wesenhaftes und zwei Akzidenzien und das Entstehen. Das Entstehen allein macht noch keine Entstehung – auch nicht wenn es sich reflexiv verdoppelt und aufbauscht. 

 

Auch ein bestimmteres Werden, nämlich das Lernen, das immerhin als Wissend-Werden, als Übergang von einem Unwissen zu einem Wissen, definiert ist, hält er für unmöglich, sofern es sich in reiner Reflexivität verselbständigt: mathesis matheseos (1058b 14).

 

Ist nicht von der modernen Curriculumspolitik das „Lernen des Lernens“ zum offiziellen Lernziel erklärt worden, weil man die Schule von unbegrenzter – und daher unmöglicher - Stoffvermittlung entlasten will? Ja diese Einsicht teilt die neuere Didaktik mit der aristotelischen Unbegrenztheitskritik. Daher verlegt sie ihre Zielbestimmung auf die viel eleganter klingende Reflexivitätsprogrammatik. 

 

Dabei handelt es sich tatsächlich um eine sinnvolle Umstellung oder soll man sagen „Kopernikanische Wendung“? Jedoch wird sich diese reine Reflexivität spätestens beim Versuch der Realisierung als undurchführbar erweisen. Sie stellt eine andere Version von Unbegrenztheit, vielleicht eine weniger „schlechte“ Unbegrenztheit dar. Aber eine, die sofort scheitert, weil sie den Weg zu den Bestimmtheiten gar nicht auf sich nimmt. Eine elegante Abkürzung - zu gar nichts. Die Grenzenlosigkeit der Hinzufügung wird durch diejenige der Teilung ersetzt. 

 

Die mathesis matheseos erinnert sehr daran, dass für Aristoteles selbst die Wahrnehmung, die sich per definitionem auf äußeres Wahrnehmbares richtet, immer auch den Wahrnehmungsakt erfasst: man könnte also von aisthesis aistheseos sprechen. Und zwar zurecht. 

 

Jedoch: „Es scheinen aber die Wissenschaft, die Sinneswahrnehmung, die Meinung und Überlegung immer auf ein anderes zu gehen, auf sich selber nur nebenbei.“ (1074b 35) Nur „parergisch“. 

 

Mit der Reflexität des Lernens steht es auch so. Es lernt jemand das Lernen kaum, wenn man ihm eintrichtert, er habe ja „nur“ das Lernen zu lernen oder er dürfe auf der Höhe der „Exzellenzforschung“ das Lernen lernen. Man wird es am ehesten dann lernen, wenn man mit Erfolg „etwas“ lernt und im Genießen des Gelingens eines solchen Lernens spürt, so oder so ähnlich auch anderes lernen können zu werden. 

 

Ein anderes hoch klingendes Attribut ist das Unbewegte. Aristoteles insistiert darauf, dass damit zweierlei gemeint sein kann. Eine Eigenschaft, die solchem zukommt, das von Bewegung gar nicht affiziert werden kann. Und eine Eigenschaft, die solchen Dingen zukommt, die sehr wohl bewegt werden können, aber jetzt gerade beziehungsweise aus irgendwelchen Gründen dessen beraubt sind. Sie „ruhen“ aufgrund eines Ausfalls – wie etwa ein Geschäft ruht oder etwas aristotelischer die Erde. Diese privative Unbewegtheit gehört in den Bereich der Physik. Die andere in einen anderen. 

 

Zuletzt wird noch auf den Begriff des Ortes zurückgegriffen und daran die Frage geknüpft, ob er nur in der Physik oder auch in der Mathematik eine Rolle spielt – womit wiederum die beiden „ersten“ theoretischen Wissenschaften evoziert werden und im Grunde genommen ein Schritt vor diese hier gegründet werden sollende sogenannte Metaphysik gesetzt wird, die ja angeblich die „dritte“ theoretische Wissenschaft sein soll. 

 

Ein merkwürdiger Schlusspunkt dieses Buches XI, das von Anfang an einen schwachen Eindruck gemacht hat. Nach den Büchern VII, VIII, IX und X, die unterschiedliche Seinsmodalitäten – Wesen, dynamis und energeia, eines – abhandlungsartig durchgenommen haben, beginnt das Buch XI als Aufguß von ganz grundsätzlichen Überlegungen aus den Büchern I, II, III, IV, die allesamt die Fragerichtung, die Stoßrichtung, die Thematik dieser „Weisheit“ oder „gesuchte Wissenschaft“ genannten mehr oder weniger neuen Wissenschaft festlegen wollen, bis es sich dann entschließt, sie „Theologie“ nennen zu wollen. Aber gleich merkt, dass der Titel eigentlich unpassend weil zu eng begrenzend erscheint, sodaß sich der Text dann auf die untere Randzone der Ontologie, also die Akzidenzien und die Veränderungen wirft, um schließlich mit dem „Unbegrenzten“ und dem „Unbewegten“ zwei höchst schillernde Qualitäten unter die Lupe zu nehmen, die vielleicht einen rutschigen Weg zum Nächsten andeuten können. Wozu ausgerechnet Stücke aus der aristotelischen Physik aufgegriffen und verwendet werden.

 

Kein Wunder, dass dieses Buch XI die Aristoteles-Leser scheidet. Und zwar nicht nur in solche und solche Kommentatoren, sondern in solche, die dennoch weiterlesen und irgendetwas herauszulesen versuchen, und solche, die auf die eine oder andere Weise kapitulieren – entweder resignativ und quietistisch oder polemisch und aggressiv (gegen wen auch immer). 

 

Also in Leser und Nicht-Leser. Unter den literarisch namhaften und standhaften Lesern nenne ich jetzt nur noch einmal den amerikanischen Metaphysik-Übersetzer Joe Sachs. 

 

Walter Seitter

 

Nächste Sitzung am 13. Januar 2021

1 Kommentar:

  1. Im Sinn dieses Protokolls sollte man den nächsten Sammelband vielleicht "Weiterleben, Weiterlesen" nennen.
    wk

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