τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 2. Dezember 2020

In der Metaphysik lesen (1067b 25 – 1068a 6)

 Die Kommentare von Karl Bruckschwaiger und Wolfgang Koch setzen an dem Satz „Das Musische geht.“ (1067b 2) an, den ich so übersetzt habe, um die Übersetzung von Karl Schwarz - „Ein Musischer geht.“ - zu korrigieren. Offensichtlich wollte Schwarz das Befremdliche des Satzes, in dem sowohl das Subjekt wie auch das Prädikat „nur“ aus akzidenziellen Bestimmungen bestehen, beseitigen, indem er mit dem männlichen Geschlecht ein menschliches Wesen als grammatisches Subjekt andeutet. Diese normalisierende Beseitigung scheint mir nicht statthaft zu sein, weil sie dem Text eine Fremdheit nimmt, die ihm eigen ist. Insofern habe ich mich an die Übersetzung von Bonitz angelehnt, allerdings statt „gebildet“ „musisch“ eingesetzt, um der Schwarz-Übersetzung näher zu bleiben. 

Der Satz widerspricht sogar einer aristotelischen Regel, die hier schon öfter zitiert worden ist, dass nämlich kein Akzidens einem anderen Akzidens zukommen kann (Met. IV, 1007a 20ff.). 

In der Vorlage des Satzes, nämlich in Phys. 224a 2, wird der akzidenzielle Charakter des Musischen oder Gebildeten, also das Subjekts, sogar ausdrücklich hervorgehoben: „’Etwas Gebildetes schreitet aus’, weil eben etwas ausschreitet, dem es nebenbei auch zutrifft, gebildet zu sein.“

 

 

Was dieser extrem „künstliche“ Beispielsatz vorführen soll, das tut er allerdings mit dem Prädikat „geht“ – damit wird dem Musischen eine akzidenzielle Veränderung zugesprochen, nämlich, dass „es“ sich in Gang setzt bzw. weitergeht. 

Der winzige Satz bedarf noch einer weiteren Erläuterung, die allerdings gar nichts Neues verkündet, nämlich dass die Eigenschaft „musisch“ (oder „gebildet“) – neben „weiß“ – die am allerhäufigsten beispielhaft genannte akzidenzielle Bestimmung ist. Eine mögliche Bestimmung, die immer nur an Menschen vorkommt – oder eben nicht vorkommt. Und die auch abhanden kommen kann, was aber dem Weiterbestehen des zugrundeliegenden Wesens (oder Individuums) keinen Abbruch tun muß, wie wir im Buch Über Werden und Vergehen gelesen haben. 

Daß diese kontingente Menscheneigenschaft eine eher erwünschte und unter günstigen Umständen durch Erziehung hergestellte bzw. geförderte sein dürfte, kann man annehmen. Insofern ist sie ein Ziel der Erziehung, die ihrerseits eine praktische oder eine poietische (technische) Tätigkeit (?) ist, und vielleicht sogar in einer praktischen oder in einer poietischen Wissenschaft, also in einer Erziehungskunde, gelehrt werden kann. Aristoteles hat diese Aufgabe hauptsächlich als eine politische zum Thema gemacht – und zwar in seiner Politik.

Ein großer Automatismus namens „Teleologie“ wird von ihm dabei nicht vorausgesetzt – und ein „Musenschmus“ auch nicht. 

 

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Karl Bruckmaier bleibt bei der Frage, ob das Subjekt jenes Satzes nur grammatisches Subjekt oder auch ontologisches, also „Substrat“ sein kann. Zur Begriffsgeschichte kann nachgetragen werden, dass die Reihe der lateinischen „Sub“wörter bis hin zur Substanz dank Cicero mithilfe des griechischen Begriffs hypostasis erweitert worden ist, der aus der antiken Naturwissenschaft stammt (und später für die christliche Theologie wichtig geworden ist). 

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In der zuletzt gelesenen Passage ist eine weitere Vervielfältigung der Veränderungen auch noch dadurch formulierbar geworden, dass dem Begriff „Substrat“ das Präfix „Nicht“ vorangestellt worden ist. Thomas Buchheims Kommentar zur Wesensveränderung würde erlauben, daraus eine terminologische Schlussfolgerung zu ziehen – und den zusammengesetzten Begriff „Nichts-Substrat“ zu bilden. 

 

Der wiederum leitet über zu dem Satz in 1067b 25, der vom -Nicht-Seienden genau das sagt, was der Grundsatz 2 in der Gründung der Ontologie im Buch IV vom Seienden gesagt hat; dass es in vielfachen Bedeutungen ausgesagt wird. Womit das Nicht-Seiende an einer entscheidenden Stelle mit dem Seienden gleichgesetzt wird. Vor einigen Wochen haben wir darüber diskutiert, ob nicht genau damit das „als“ des „Seienden als Seienden“ expliziert wird.

 

Jetzt wird die Differenzierung der verschiedenen Sorten von Bewegungen und anderen Sorten von Veränderungen (die nicht als Bewegungen gelten) so vorangetrieben, dass gewisse, man könnte sagen „extreme“ ontologische Begriffe dazu eingesetzt werden, insbesondere minimale, wie das Nicht-Seiende. Dabei kann es sich nur um relative Nicht-Seiende handeln, die auch durch „positive“ Ausdrücke bezeichnet werden, „wie etwa das Nackte, Stumme und Schwarze“ (1068a 6) Aristoteles spricht ihnen privative Bedeutungen zu. 

Wiederum und jetzt in einer kleinen Serie drei Eigenschaften, bloße Eigenschaften ohne Angabe von Trägern, als welche sich wiederum Menschen nahelegen würden. Alle im dem dritten, dem neutralen Geschlecht, das man ebenso als Nicht-Geschlecht bezeichnen könnte, um die Serie der „Nicht“-Begriffe fortzusetzen. Jedes der drei würde einen Kommentar verdienen, das Nackte zum Beispiel würde das Nicht-Geschlecht denn doch relativieren, denn es beendet die Verbergung des Geschlechts. 

 

 

Das Stumme, wenn man es auf Menschen bezieht und nicht irgendwie „literarisch“ glorifiziert, würde an seinen spektakulärsten Vorläufer in diesem Buch, überhaupt an die dramatischste Erscheinung eines irgendwie „Nicht-Seienden“ in der sogenannten Metaphysik denken lassen: an das Verstümmelte, jenes extrem akzidenzielle weil unfallhafte Akzidens, das im Buch V Aufnahme in die Reihe sogenannter Hauptbegriffe und sogar Grundworte gefunden hat. Dort wird es explizit vom Vernichteten unterschieden, wobei der elementare ontologische Unterschied zwischen Wesen und Akzidens die Unterscheidung ermöglicht. Absetzung vom Nicht-Seienden, mit knapper Not Rettung auf die Seite des Seienden. Doch-Seiendes.

 

Aber es verbleibt in der Randzone der Ontologie, die man Meontologie nennen könnte: eine untere Randzone, in der scharfe Absetzungen mit dosierten Unschärfen koexistieren. Ein unterer Rand, der mit dem „als“ des Seienden als Seienden doch auch das Zentrum der Ontologie bildet.

 

Walter Seitter

1 Kommentar:

  1. Wenn sich das Nicht-Seiende in einer Randlage der Ontologie befindet, dort als Meontologie wie das Seiende auch auf vielfache Weise ausgesagt werden kann, wie die Stelle 1067b,25 ausagt, dann ist das Nichtseiende mit dem Seienden gemeinsam anwesend. Das Seiende als Seiendes und Nicht-Seiendes ist beim Entstehen schlechthin vorhanden, wie Aristoteles auf 1067b,33 sagt, woducrch das Entstehen keine Bewegung sein kann, denn das Nicht-Seiende ist im Vorsatz als unbewegt bestimmt worden.
    Nun sind textliche Wendungen bei Aristoteles in aporetische Situationen nahezu zu erwarten, aber hier folgert er konsequent, das das Nicht-seiende zwar entstanden ist, aber weil es unbewegt ist, nicht im Raum ist, weil es ja sonst irgendwo sein müsste.
    Wir würden hier lieber das Wort Ort lesen, da der Raum zusehr den Geruch der Unendlichkeit verströmt, der sich nicht mit der Ablehnung der Unendlichkeit bei Aristoteles verträgt.
    Aber wenn das Nicht-Seiende keinen Ort haben kann, muss es doch irgendwie als Veränderung eines Seiendes ausgesagt werden können, als das Nicht-Seiende des Seienden selbst.
    Die Me-Ontologie hat seinen Ort in der Ontologie, aber das Nichtseiende wird als Nichtseiendes und Seiendes zugleich ausgesagt, weil es keinen eigenen Ort hat.

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