τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 9. Dezember 2020

In der Metaphysik lesen (1068a 8 – 1068b 6)

 Hartnäckig setzt der Text seine analytische Differenzierung der Bewegungen (und der anderen Veränderungen) fort, wobei er die Kategorienlehre als theoretischen Raster zugrundelegt. Dennoch ist nicht leicht zu erkennen, worauf der Text hinauswill.

Es ist ja nicht so, dass der Begriff der Veränderung hier eingesetzt wird, um einen bestimmten Realtätsbereich zu analysieren. Dies geschieht etwa in der aristotelischen Politik, in den Büchern IV bis VI, unter dem Stichwort „Verfassungswandel“, wo sehr viele verschiedene Fälle von formellen und informellen Verfassungsänderungen durchgenommen werden – ein Thema, dessen Aktualität bis heute anhält und die Politikwissenschaft ebenso interessiert wie die Geschichtswissenschaft. 

Hier jedoch legt sich die subtilere Frage nahe, worauf der Text überhaupt hinauswill. Mit dieser Formulierung unterstelle ich, dass ein Text – auch dann und gerade dann, wenn er wie dieser da schon vorliegende Textstücke von wo anders hernimmt und neu einsetzt – irgendetwas anstrebt. Ich unterstelle ihm eine Intention, denn er würde von Aristoteles nicht bloß als logos, also Aussage, bezeichnet werden, sondern näherhin als eine pragmateia – also eine Abhandlung und folglich eine Handlung, also eine Aktion. Eine Denk-, Schreib-, Textaktion, die in aller Regel eine Antwort auf eine Frage, einen Ausweg aus einer Aporie sucht. Solche Absichtserklärungen sind im Text immer wieder anzutreffen – und natürlich sind sie selber textuell.

Ein besonders deutliches Beispiel dafür haben wir im Abschnitt 7 von Buch XI gefunden, wo es heißt, dass die hier gesuchte Wissenschaft „Theologie“ genannt werden soll und dass die Gegebenheit eines „abgetrennten und unbewegten Wesens“ demnächst aufgewiesen werde soll. (1064a 35f.) Doch wenige Zeilen später schlägt der Text eine ganz andere Richtung ein und wirft sich auf die Akzidenzien, von denen angeblich gar nicht wissenschaftlich geredet werden kann, auf die Bewegungen und die anderen Veränderungen, auf die Abweisung eines aktual Unbegrenzten, auf die verschiedenen Sorten von Substrat, die von Veränderungen vorausgesetzt werden – einschließlich Nicht-Substrat und Nicht-Seiendes.

Eine beinahe „disruptive“ Veränderung in der Textproduktion, die ja ihrerseits als eine Bewegung oder Veränderung gelten kann.

Jetzt, im Abschnitt 12, wird die Frage aufgeworfen, ob Veränderungen in sich selber, also sozusagen immanent und reflexiv, verändert werden können – womit sie selber „Subjekt“ und sogar „Substrat“ werden würden. Dies wird von Aristoteles verneint, weil damit einem „Unbegrenzten“ Tür und Tor geöffnet werden würde: damit würde auch eine „Entstehung der Entstehung“ angenommen werden müssen und es würde kein Erstes angenommen werden können. „Es könnte demnach kein Entstehen, kein Bewegtwerden und keine Veränderung geben.“ ((1068b 5).

Wir diskutieren darüber, ob diese Argumentation nachvollziehbar ist. Nehmen wir aus dem lakonischen Satz „Das Musische geht.“ (1067b 2) das Prädikat heraus, so drückt dieses „geht“ eine Bewegung in zweierlei Sinn aus: es fängt an zu gehen und es setzt seine Gehbewegung fort. Die damit verbundene Veränderung, nämlich Ortsveränderung, kann sehr wohl verändert werden, und zwar nicht nur durch seine Beendigung, also durch Stehenbleiben, sondern auch „immanent“ durch Verlangsamung oder Beschleunigung.

Insofern wird die Bewegung tatsächlich zu einem Substrat von Veränderung. Gleichwohl bleibt das andere oder eigentliche oder wesenhafte Substrat ebenfalls in seiner Position und Funktion als Zugrundeliegendes – entweder das sogenannte Musische oder irgendjemand.

Beim Entstehen, also bei einer wesenhaften Veränderung, könnte man der aristotelischen Angst vor dem Unbegrenzten Verständnis entgegenbringen, insofern jedem Anfang oder Ursprung ein früherer vorgeschaltet werden müsste. Geht man jedoch von einem Gewimmel vieler Mitursachen oder niedriger Anfänge aus, würden die vielleicht als etwas ungefähr „Unendliches“ geschildert werden können, wofür Michel Foucault seinerseits eine Art von „Historie“ vorgeschlagen hat. [1]

Innerhalb des Ablaufs von kontingenten und dennoch mehr oder weniger notwendigen akzidenziellen Veränderungen zwischen Gesundsein und Kranksein oder zwischen Erinnerung und Vergessen drohen wohl keine theoretischen Aporien. Erwünschte oder unerwünschte Extremzustände sind da natürlich möglich – so auch die beiden von Aristoteles genannten Zustände namens „Wissenschaft“ oder „Unwissenheit“. (1068a 33)

Die Veränderung oder Bewegung in Richtung Wissenschaft ist diejenige, die in diesem, nämlich im gelesenen Text versucht wird.

 

Walter Seitter 




[1] So Michel Foucault 1969-1970 in seiner Vorlesung in Vincennes, die ich selber gehört habe. Siehe ders,: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders.: Von der Subversion des Wissens (München 1974)

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