τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 25. November 2020

In der Metaphysik lesen (1067b 1 – 24)

 Kommentar von Gerhard Weinberger (19. November 2020)

 

Levinas spricht ja nicht so sehr vom Unendlichen als solchem, sondern von der "Idee des Unendlichen" (idée de l'infini), die den Menschen inhärent und unausrottbar innewohnt (die ja auch Aristoteles innewohnt). Sonst würde er wie ein Tier dahinleben. Und er gibt ihr einen sehr endlichen Rahmen, "disqualifiziert" sie sozusagen im aristotelischen Sinn: nämlich den Menschen, und zwar als "Anderem" zunächst, als "Drittem = Gesellschaft" in einem weiteren Schritt. Damit setzt er sich von theologischen "Spintisierereien" und Phantasereien ab und bleibt "erdgebunden'", was ihm ja den Vorwurf des Atheismus eingebracht hat. Natürlich räumt er damit dem Menschen eine Sonderstellung ein. Descartes geht davon aus, dass alles im Menschen endlich sei außer seinem Willen. Levinas greift das auf und ersetzt Willen durch Verantwortung. Darüber kann man natürlich streiten.Letztlich geht es ihm darum, was das Menschliche im Menschen ist oder sein bzw. werden kann. An sich ein sehr "dynamisches" Denken.

 

Gerhard Weinberger

 

 

Wolfgang Koch hat am 16. November 2020 zum „Supplement zur Minimalontologie“ (9. November 2020) einen Kommentar verfasst (im Blog). Darin kritisiert er „den grundlegenden Mangel der Ontologie: ihre Statik“ und er plädiert für mehr „Dynamik“, die Weinberger auch für Levinas in Anspruch nimmt.

 

  Da müsste man die textexegetische Frage von der theoriekritischen unterscheiden. Wie gerade zuletzt festgestellt worden ist, fehlt es bei Aristoteles keineswegs an „dynamischen“ Theorieelementen: die „Bewegung“ ist ein Hauptbegriff der Physik und damit auch der Metaphysik (die zu mindestens 60% aus Physik besteht): der Komplex Vermögen-Verwirklichung steht exakt für „Dynamik“. Andererseits steht für die Statik der Hauptbegriff „Wesen“ (das wiederum von den Akzidenzien besetzt und beunruhigt wird). Die poietischen und praktischen Wissenschaften, die fürs menschliche Tun zuständig sind, werden allerdings von Aristoteles von der Ontologie eher ferngehalten – darin sehe ich eine gravierende Schwäche derselben (die doch alle Seinsmodalitäten berücksichtigen und gewichten sollte). 

Die aristotelische Metaphysik scheint eine Balance aus Stabilität und Bewegung (Stabilität durch Bewegung) zu artikulieren und verweigert sich sozusagen „natürlich“ der Dynamik-Entgrenzung und dem Ohnmacht-Allmacht-Spiel, die seit der frühen Neuzeit (Descartes) den Fortschritt in Gang gesetzt haben, welcher die Vermenschlichung der Erde so weit getrieben hat, dass ihre jüngste Epoche „Anthropozän“ genannt wird.

 

 

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Im Abschnitt 11 konzentriert sich der Text auf Veränderung und Bewegung (die beiden Begriffe stehen einander bei Aristoteles näher als in unserer Sprache). Das jedenfalls suggeriert der Übersetzer Franz Schwarz mit der Betitelung des Abschnittes, der außerdem eine Übernahme des ersten Abschnittes von Buch V der Physik sein soll. Daraus ergibt sich, dass der Abschnitt 11 – gewissermaßen XI hoch 11 – selber durch eine Art „Bewegung“ zustandegekommen ist: aus dem bereits vorliegenden Buch der Physik wurde ein Teil herausgenommen, verändert, hauptsächlich gekürzt und in das neue, gerade entstehende, irgendwie nicht vollendet werden wollende und angeblich „Theologie“ heißen sollende, eingefügt. 

Natürlich kann sich der heutige Leser Fragen, was mit so einer Wiederholung erreicht worden ist. Thematisch ja wohl eher eine Bekräftigung der „Dynamik“, performativ hingegen eine Verstärkung der „Statik“, wann „dasselbe noch einmal“ als „statisch“ gelten können soll. Aber derartige Schematisierungen reichen an das Rätselhafte dieser Komposition kaum heran.

Der Text beginnt typisch aristotelisch mit einer Klassifikation zuerst der Veränderung, dann der Bewegung. Der Fall der akzidenziellen Veränderung wird mit einem kleinen Satz vorgeführt: „Das Musische geht.“ Hier übernehme ich die Übersetzung von Bonitz, die wörtlich exakt das Subjekt ins neutrale Geschlecht setzt, obwohl sowohl das Musischsein wie auch das Gehen typischerweise einem Menschen, also einem Mann oder einer Frau, zukommen müssten. Wieso „das Musische“? Wird es damit zu einer „philosophischen“ Abstraktion gemacht? Jedenfalls sind in diesem Satz sowohl Subjekt wie auch Prädikat Akzidenzien – es scheint da gar kein Wesen vorzukommen. 

Sodann die schlechthinnige Veränderung: Veränderung des ganzen Körpers, die von einem Teil ausgeht.

An sich bewegt werden, aktives Bewegen im akzidenziellen Sinn oder dem Teil nach oder an sich. Von einem ersten Bewegenden kann etwas bewegt werden oder es wird in einer Zeit bewegt oder es wird von einem Zustand zu einem anderen bewegt. Diese Zustände, etwa Wissenschaft oder Wärme, sind keine Bewegungen. Darüber hinaus gibt es die Wesensveränderungen, die zu kontradiktorischen Gegenteilen führen. 

Es folgt eine höchst merkwürdige Verkettung von Distinktionen, die den Begriff des Substrates mit seiner Negation, also mit Nicht-Substrat, verknüpfen und auf diese Weise eine wie es scheint extrem fundamentale Klassifikation der Veränderungen artikulieren; denn üblicherweise gilt das Substrat als dasjenige, was bei einer Veränderung gleichbleibend zugrunde liegt. Jetzt aber heißt es: „Es verändert sich das, was sich verändert, entweder aus einem Substrat in ein Substrat oder aus einem Nicht-Substrat in ein Nicht-Substrat oder aus einem Substrat in ein Nicht-Substrat oder aus einem Nicht-Substrat in ein Substrat, sodaß sich notwendigerweise drei Veränderungen ergeben: die Veränderung nämlich aus einem Nicht-Substrat in ein Nicht-Substrat ist gar keine Veränderung ... Die Veränderung nun aus einem Nicht-Substrat in ein Substrat ... ist Entstehung ... Die Veränderung aus einem Substrat in ein Nicht-Substrat ist ein Vergehen ... “ (1067b 14ff.)

Anscheinend sind damit die Wesensänderungen gemeint – aber doch auch akzidenzielle. Merkwürdig die Terminologie, die den logischen Spezialausdruck „Substrat“ für jedwede Bestimmung einsetzt und außerdem auch noch mit der Negation operiert, ja die Negation mit der Negation verknüpft, obwohl das rein gar nichts ergibt.

 

Die obige Bemerkung, wonach bei jeder Veränderung ein gleichbleibendes Substrat vorausgesetzt wird, muß allerdings nach dem Kommentar von Thomas Buchheim zu Über Werden und Vergehen korrigiert werden – wie wir am 30. Oktober 2019 festgestellt haben. Danach stellt sich die Wesensveränderung dar als eine Veränderung aus einem Substrat in ein Nicht-Substrat und aus diesem eine Veränderung in ein anderes Substrat.

Damit ermöglicht die hier eingeführte negationistische Terminologie eine terminologische Formulierung für die Bedingung der Wesensveränderung, für die Thomas Buchheim den umgangssprachlichen Ausdruck „Kaputtgehen“ gebraucht hat (und leider auch die wienerische „schöne Leich’“.[1]


Walter Seitter

 


[1] Siehe Thomas Buchheim, op. cit.: XIX, XXIV.

2 Kommentare:

  1. Der Beispielsatz, wenn es denn überhaupt ein Satz sein soll, der am Beginn von 1067b für die akzidentielle Veränderung steht, wird in meiner, von Seidl herausgegebenen Bonitz-Übersetzung mit "wie z.B. das Gebildete geht" wiedergegeben. In der englischen Übersetzung von Hugh Tredennick heißt es "as when der cultured walks".
    Welches Beispiel für Veränderung ist es, wenn das Musische, das Gebildete, das Kultivierte geht. Wie verändert sich das symbebekale Subjekt, wenn es ein Gegenstand der Veränderung sein kann, vermehrt es sich, verringert es sich, nimmt es eine andere Farbe an.
    Es ist jedenfalls ein dem Gehen Zugrundeliegendes, obwohl es kein Zugrundeliegendes sein kann. - Wirkliches Minimalontologie.

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  2. Das Musische geht gar nicht

    Seitter behauptet, Bonitz übersetze den Beispielsatz in Buch XI, Abschnitt 11 mit: »Das Musische geht.« Das ist unrichtig. Diese Übersetzung stammt von Schwarz (Reclam 1970). In der Neubearbeitung von Bonitz (Meiner 2009) wird der Satz mit »Das Gebildete geht« übersetzt, und der Ausdruck ›Gedildete‹ hat in diesem Kontext nichts mit Bildungsgut oder Musenschmus zu tun, sondern meint das Herausgebildete, Entwickelte, Zusammengesetzte, dem eine teleologische Bestimmung zugeschrieben wird.

    Eben in dieser teleologischen Zuschreibung der Subjekte liegt der zweite wesentliche Grund für die Statik der aristotelischen Ontologie. Ich stimme mit Seitter darin überein, dass die Statik des substanzialistischen Modells zuerst im Usia-Begriff zu suchen ist. Eng damit verflochten aber ist auch die Telelogie der Subjekte. Der diskutierte Abschnitt läuft auf die Behauptung des Stagiriten hinaus, dass es nur eine essentielle Veränderung geben kann: die aus einem Subjekt in ein Subjekt, die aus einem bejahten Zugrundegeliegendem in ein neues bejahtes Zugrundeliegendes. Whitehead hat 1927 die Ontologie als Denkmanöver zu retten versucht, indem er die Perspektive umkehrt: Nicht die die beiden Subjekte sind die zu beobachtenden Entitäten, sondern allein der Prozess ihrer Verwandlung.

    Der Standpunkt Whiteheads übergeht also einfach die Teleologie der Dinge des Stagiriten. In einer erstmals 1965 erschienen »Illustrierten Geschichte der Medizin« von Theodor Meyer-Steineg und Karl Sudhoff lese ich von den altgriechischen Ärzteschulen in Kos und Knidos und vom unheilvollen Einfluss der Philosophie in der nachhippokratischen Zeit: »Der Einfluß des Aristoteles hat sich in doppelter Weise geltend gemacht: seine nüchterne Sammlung und Darstellung eines ungeheuren naturwissenschaftlichen Tatsachenmaterials wäre geradezu das Ideal für die Grundlegung der Medizin gewesen und hat auch zweifellos außerordentlich anregend gewirkt. Die Methodik seines Denkens hingegen hat, so bestechend sie in ihren Ergebnissen vielfach war, die medizinische Forschung auf Irrwege geführt, von denen sie sich mehr als anderthalb Jahrtausende nie ganz freizumachen vermochte. Solange Aristoteles nur beschreibt, was er sieht, bilden seine Schriften eine wahre Fundgrube für den naturforschenden Arzt. Seine vergleichenden anatomischen Schilderungen, seine Aufdeckung des Stufenganges im ganzen Naturreiche, seine natürliche Einteilung der Tiere in solche mit Blut und solche mit einem Ersatzstoffe sind für die Heilkunde von größtem Wert gewesen. Aber seine teleologische Betrachtungsweise, die in allem die Zweckmässigkeit jeder Einrichtung als gegebene Tatsache nahm, und seine deduktive Art der Beweisführung, die aus allgemeinen, nur mit dem Verstande erschlossenen Voraussetzungen die einzelnen Schlußfolgerungen abzuleiten bestrebt war, schließlich seine willkürliche Übertragung von Ergebnissen der Tiersektion auf den Menschen – alles dies hat auf die medizinische Forschung geradezu verhängnisvoll gewirkt«.

    Diese begründete medizinhistorische Kritik stammt aus einer Zeit, als der Vorwurf des Substanzialismus und des Essentialismus an die griechischen Klassiker der Philosophie noch kein akademischer Kompetenznachweis war.

    Wolfgang Koch

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