τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Montag, 9. November 2020

Supplement zur Minimalontologie

  Im Zusammenhang mit der Lektüre der aristotelischen Metaphysik von Maximal- und Minimalontologie sprechen, das erscheint befremdlich, weil solche Begriffe im Text gar nicht vorkommen, und textfremde Begriffe sollten in einer solchen Lektüre keinen Platz haben, könnte man meinen. 

 

Dagegen spricht, dass die Lektüre eines Textes immerzu etwas Fremdes dem Text gegenüber ist. Nicht nur dann, aber auch dann, wenn die Lektüre von jemandem durchgeführt wird, der vom Text, vom Entstehen, von den Entstehungen des Textes geographisch und historisch, kulturell und sprachlich so weit entfernt ist, wie das hier der Fall ist. Selbst wenn man die Entstehung des Textes der Metaphysik nicht auf die Stadt Athen und auf das Todesjahr des Aristoteles zurückschiebt, sondern bis in das 1. Jahrhundert vor Christus und bis zur Stadt Rom heranrücken lässt, so liegen immer noch ein paar Jahrtausende und einige andere schwerwiegende Distanzen zwischen ihm und mir. Und auch noch die späteren Jahrhunderte, die vielen Übersetzungen in die vielen anderen Sprachen haben an dem Text, der uns vorliegt, mitgeschrieben. 

 

Eine Lektüre, die gar nichts sagen würde, sondern nur schauen, sich beeindrucken lassen, nur staunen oder bewundern würde, ganz passiv bleiben würde, würde sich auch dann nicht als sinnerfassendes Lesen qualifizieren, wenn sie sich dafür halten würde – dies aber nicht einmal behaupten könnte. 

 

Der lesende Intellekt, der intellektuelle Leser muß sowohl ein passiver wie auch ein aktiver sein. Und als aktiver ein sprechender, der sowohl nachspricht wie auch gegenredet.

Die Rede von Minimalontologie setzt voraus, dass in der Wissenschaft, die im vorliegenden umfangreichen Buch gesucht, gegründet und entfaltet wird, mehrere unterscheidbare Untersuchungsrichtungen erkennbar sind, die jedoch von Aristoteles nicht konsequent benannt und unterschieden werden.

 

Auf diesen Sachverhalt sind wir gestoßen, als im Abschnitt 7 von Buch XI die zwei schon etablierten theoretischen Wissenschaften genannt worden sind und dazu auch die jetzt gerade in Gründung befindliche „Theologie“, der Text aber sofort gemerkt hat, dass diese Benennung nicht ganz passend ist, da sie den allgemeinen Charakter oder die allgemeine Dimension der gesuchten Wissenschaft nicht hinreichend klar zum Ausdruck bringt.

 

Was in dieser Benennung untergeht, wird dann in Abschnitt 8 nachgeholt, aber nicht mit einer zusätzlichen Disziplinbezeichnung, sondern viel drastischer und direkter mit dem Hinweis auf Phänomene, die so ungefähr das konträre Gegenteil zu dem darstellen, was Aristoteles sehr vorsichtig der Theologie zugewiesen hat. Diese Phänomene sind Akzidenzien, die etwas so Minderes, ja „Nicht-Seiendes“ sind, dass es gar keine Wissenschaft davon geben kann – was aber plötzlich „gesehen“ werden soll und dann auch über den Zufall theoretisiert wird. Aber zunächst müsste die supplementäre Untersuchung, die dann noch eine Kurve in Richtung Ethik macht, nur „Nicht-Wissenschaft“ heißen. 

 

Die entsprechende Passage ist ein modulierender Rückgriff auf Abschnitt 2 von Buch VI, auf den ich nun meinerseits zurückgreife, und zwar in komplementärer Weise. Die Unwichtigkeit der Akzidenzien wird dort so statuiert, dass gesagt wird, das Akzidens sei wohl nur ein Name, das heißt kein Begriff, dem etwas Wirkliches und Typisches entspricht (siehe 1026b 14). Und dann entschließt sich der Text zu einer Kompromißformel, die da lautet „Es erscheint das Akzidens als etwas, was dem Nicht-Seienden nahe ist.“ (1026b 22).

 

Eine Kompromißformel, die eigentlich unausweichlich ist, wenn das Vernichtungsurteil zum „Nicht-Seienden“, hinter dem die Autorität Platons und vermutlich einer noch altehrwürdigeren steht, und das Vorurteil gegenüber den Sophisten bereits feststeht, andererseits aber nicht nur die Fülle der bekannten Phänomene, sondern zumindest auch die Textautorität der Kategorienschrift, sowie zahlreicher anderer aristotelischer Schriften, etwa Buch IV der Metaphysik, dagegen steht. 

 

Die „Nähe zum Nicht-Seienden“ sichert den Akzidenzien eine vielleicht noch zumutbare Aufenthaltserlaubnis auf der Seite des Seienden. Aber es ist eine diskriminierende, eine sehr reduzierende, eben eine mindernde Einschätzung. 

 

Die Akzidenzien werden doch nicht brutal und gegen den Augenschein, sogar gegen die Gesetze der Sprache genichtet. Sie werden der Meontologie überanwortet, die wenn es sie geben sollte, immerhin eine Logie wäre, und sogar eine Ontologie, wie sich aus der oben zitierten Stelle 1003b 10 ergibt. 

 

Die Meontologie betrachtet den Grenzstreifen zwischen Seiendem und Nicht-Seiendem und ist daher „nur“ ein Randgebiet der Ontologie. Allerdings nicht irgendein Randgebiet sondern ein konstitutives, der Ontologie. 

 

Dies sage ich, weil ich dem Buch XI folgend auf das Buch VI zurückgreife. Der Rückgriff erweist sich als Fortschritt. Daher gibt es überhaupt das Buch XI und ebenso dies da. 

 

Das Buch VI wurde bekanntlich (oder unbekanntlich) hier auch schon gelesen – am 15. März 2017. Liest man die damalige Lektüre nach, so sieht man, dass damals auch schon einiges gesagt worden ist, wie etwa, dass „die Ontologie einen quasi-demokratischen Akt vollzieht: Rettung der niedrigen Seinsmodalitäten vor der Verstoßung ins Nichts.“[1]

 

Thematisiert Aristoteles die Minimaltendenz in der Ontologie auch direkter? Sehr explizit ist eine Stelle im letzten Buch der Metaphysik, wo es heißt, dass „das Bezügliche von allen Aussageweisen am wenigsten eine Natur oder Wesen ......, am wenigsten ein Wesen und ein Seiendes ist“ (1088a 22ff.). Hier wird innerhalb der Kategorien, ja innerhalb der Akzidenzien ein Minimum ausfindig gemacht – aber ohne Bezug zu einem Nicht-Seienden. 

 

Wenn das Nicht-Seiende als extremer Pol der Minimal-Ontologie angesehen wird, könnten auch andere Seinsmodalitäten dieser Seite zugeschlagen werden: so das Unmögliche, das Unwirkliche, das Unwahrscheinliche; die Bewegung wird von Aristoteles teilweise in diese Nähe gerückt; die Zeit oder einzelne Aspekte davon ebenfalls; und die sogenannte erste Materie. 

 

Das Eigentümliche der aristotelischen Ontologie erfasst man nur, wenn man auch ihren unteren Rand, die Zone der kleinen, der schwierigen und unsicheren Anfänge, die Zone der prekären Übergänge und der mehr oder weniger katastrophischen Untergänge in Betracht zieht. In gewisser Weise bilden die sogenannten wesentlichen Veränderungen, also Entstehen und Vergehen, eine Hauptlinie dieser Zone. 

 

Diese Probleme werden in der modernen Forschung unter dem Titel der „Seinsgrade“ abgehandelt – zu unterscheiden von der Aufstufung der Wesen, welche unter dem Titel der Scala naturae hier am 6. Mai 2020 erwähnt worden ist.[2]

 

Die belarusische Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja hat fernab von jeder Aristoteles-Lektüre ihre Zwischen-Situation zwischen Repression in der Heimat und Prominenz im Ausland kurz und bündig so artikuliert, dass sie genau in die Ontologie-Dimension hineinpasst, die Aristoteles mit den Polen wahr und falsch kennzeichnet und die man als die phänomenische bezeichnen könnte: „Solange man über uns spricht, heißt das, es gibt uns.“[3]

Das griechische Wort für wahr, alethes, situiert sich auf der Minimum-Seite, da es „nur“ das Nicht-Erscheinen negiert. Zum Maximum neigt eher Platon, wenn er sagt, „das Schöne ist das Erscheinendste .....“ (Phaidros 250b)

 

 

Walter Seitter




[1] Siehe Walter Seitter: loc. cit.; 264.

[2] Siehe Art. „Sein“, in: Chr.Rapp, Kl. Corcilius (Hg,): Aristoteles Handbuch. Leben-Werk-Wirkung (Stuttgart 2011): 323ff.

[3] Siehe Swetlana Tichanowskaja: „Lukaschenko macht viele Fehler“, in: Die Presse, 7. November 2020.

1 Kommentar:

  1. Zum letzten Satz im Supplement zur Minimalontologie vom 9. November 2020

    ZITAT
    Das griechische Wort für wahr, alethes, situiert sich auf der Minimum-Seite, da es »nur« das Nicht-Erscheinen negiert. Zum Maximum neigt eher Platon, wenn er sagt, »das Schöne ist das Erscheinendste .....« (Phaidros 250b)

    Es stimmt schon, aus dem Stagiriten ist letztendlich kein Schüler seines Lehrer geworden. Er blieb im seinem Herzen ein Naturwissenschafter und begnügte sich damit, seine theoretische Wissenschaft so lange in begriffsmechanische Schemata und Modelle überzuführen, bis sie für den Alltagsverstand unbrauchbar war. Der Stagirit schloss sich nicht der Weisheitskritik seiner Vorgänger an und formulierte Tools der theoretischen Wissenschaften. Eine Frage dreht sich seither darum, ob die Ontologie noch für etwas ausserhalb der Fußnoten-Apparate brauchbar ist. Ich meine die Thesen vom Wahren als einem minimal Seienden (oder Erscheinenden), vom Gute als einem normativ Seienden (oder Erscheinenden) und vom Schönen als einem maximal Seienden (oder Erscheinenden) widersprechen einander in keinem Punkt. Da lagen Schüler und Lehrer nicht auseinander. Aber wir sind besser beraten, wenn wir gewissen Denkern des 20Cs – von Whitehead bis Gramsci – folgen und Prozessbeschreibungen an die Stelle der qualifizierten Seinszustände setzen. Gnoseologie, Praxeologie und Ästhetik überwinden jede auf ihre Weise den grundlegenden Mangel der Ontologie: ihre Statik. Den Erkennenden interessiert der Prozess, indem das Erkannte erkannt wird, noch bevor die erkannte Sache einen Begriff oder einen Wert erhält. Das nennen wir Wahrnehmung. Den Handelnden interessiert der Prozess, in dem das Behandelte behandelbar wird, noch bevor die behandelte Wirklichkeit einer Idee oder einem Wert folgt. Das nennen wir Praxis. Und den schöpferisch Schaffenden interessiert der Prozess, in dem das Sichtbare sichtbar wird, noch bevor das gesehene Ding einen Namen oder einen Wert erhält. Das nennen wir Kunst.

    Wolfgang Koch
     

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