τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 4. November 2020

In der Metaphysik lesen (1065b 28 – 1066a 34)

  Zunächst antworte ich auf den Kommentar, den Wolfgang Koch zum Protokoll vom 28. Oktober 2020 verfaßt hat und den ich erst heute, am 4. November, bekommen habe. 

 

Einwände zum Protokoll der Sitzung vom 28. Oktober 2020

Zitat:
In dem zuletzt öfter herbeizitierten Anfang von Kap. 10 von Buch IX setzt Aristoteles statt Seiendes als seiendes“ ein: das Seiende und das Nicht-Seiende“. Die Einsetzung erfolgt so, dass man in dieser Formel ein Synonym für die viel häufiger gebrauchte als-Formel sehen darf.

1. Formaler Einwand: »das Seiende und das Nicht-Seiende« ist eine Aufzählung und keine Formel.

2. Formaler Einwand: Eine Formel ist eine prägnante Art, Informationen symbolisch auszudrücken. Keiner der beiden Ausdrücke gibt etwas symbolisch wieder. Beide fassen den Erkenntnisinhalt in nichtrepräsentative Begriffe.

3. Formaler Einwand: »Das Seiende und das Nicht-Seiende« hat keinen Wiederholungscharakter im Text. Es kommt im zitierten Abschnitt genau einmal vor.

4. Textorganisatorischer Einwand: A° leitet in Kap. 10 von IX ein neues Thema ein, in welchem er das Seiende und das Nicht-Seiende hinsichtlich der Wahrheitsfrage prüft. Es gibt keinen besonderen inhaltlichen Zusammenhang zu Abschnitt 4 in Buch VI.

5. Gnoseologischer Einwand: Die Aussage, das »Seiende als seiendes« umfasse »das Seiende und das Nicht-Seiende« setzte A°s im selben Werk dargelegten »Satz vom Widerspruch« (1005b) ausser Kraft, wonach es unmöglich ist, dass etwas zugleich sei und nicht sei.

6. Lesestrategischer Einwand: Der Oberbegriff des Seienden und des Nicht-Seienden lässt sich Sein, oder besser: mit Evidenz im philosophischen Sinn angeben, also Ersichtlichkeit, Gewissheit; ihre Unterbegriffe gibt A° in der Wahrheitsuntersuchung als Zusammenhang und Gestalt an. Wir haben es also nicht allein mit dem im Denken und Urteilen liegenden Wahren zu tun, die ontologische Wahrheit der Dinge (oder die ontische Dimension nach Heidegger) ist die Grundlage für die gnoseologische und logische Wahrheit des Verstehens. Eine exzessiver Ausweitung des Seinsbegriffs, wie sie Seitter in der Seinsphilosophie von Hermann Nitsch noch vor zwei Jahren abgelehnt hat, führt nur zum bekannten Salzburger Schnürlregen (»mehr oder weniger parallele Stränge aus schwächeren und stärkeren sowie verschiedenartigen Seinsmodalitäten«).

Wolfgang Koch

 

 

Wolfgang Koch kritisiert, dass ich den Ausdruck

„das Seiende und das Nicht-Seiende“ als Formel bezeichne. Ich tue das, sofern diese Wörterverbindung in 1051a 34ff. als Subjekt eines Satzes fungiert, der nicht irgendein Satz ist, sondern genau dem Schema des bekannten Standardsatzes  der Ontologie folgt, welcher in 1003a 21ff. vorgeschlagen wird; nämlich: das Seiende wird als x, als y ausgesagt. Daraus ergibt sich eine syntaktische Äquivalenz der beiden Ausdrücke „das Seiende als seiendes“ und „das Seiende und das Nicht-Seiende“. Dazu kommt, dass in 1003b 10 auf der Prädikatseite nach dem Wesen und diversen Akzidenzien ausdrücklich auch die Negation des Wesens eingesetzt wird und dann auch noch der linguistische Befund, das Nicht-Seiende sei das Nicht-Seiende, unterstrichen und damit ontologisiert wird. Zur Erläuterung habe ich für diejenigen, die mit dem Latein besser zurechtkommen, gelegentlich den Heidegger-Satz „Ens qua ens ex nihilo fit.“ zitiert.

 

Die einerseits explikative, andererseits paradoxe Zusammenschiebung von Seiendem und Nicht-Seiendem wird von Aristoteles also bereits im Buch IV, bei der offiziellen Gründung der Ontologie, angestoßen. Im Abschnitt 10 von Buch IX wird sie zur Frage vorangetrieben, wie das Seiende und das Nicht-Seiende wahr oder falsch sein können – ohne dass diese Frage in einer Seinsmystik ihren Abschluß findet. (Da ich die von Wolfgang Koch genannte Hermann-Nitsch-Schrift gar nicht gelesen habe, kann ich dazu überhaupt nichts sagen.) 

 

Mit dem Wahren und dem Falschen wird dem Seienden als  seienden eine weitere polare Dimension eingeschrieben und man muß die Vorstellung aufgeben, die Ontologie beschränke sich auf eine Lehre von den Kategorien oder gar auf eine von den Substanzen. Es handelt sich – jedenfalls bis Buch XI - um eine hinzufügende, eine gliedernde, eine analytische – man könnte sagen: eine prosaische Untersuchung.

 

 

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Spätestens dann, wenn man das Buch XI überhaupt liest und nicht gleich zuschlägt, weil es offensichtlich oder anscheinend nichts Neues enthält (meine Reclam-Ausgabe gibt zu den 12 Abschnitten des Buches mindestens ebenso viele Abschnitte aus früheren Büchern der Metaphysik und Physik an, die da wiederholt oder abgewandelt werden), spätestens dann muß man sich und kann man sich einen Überblick über die Themenstränge der Bücher I bis X verschaffen, die ja in Buch XI aufgegriffen und durch neue Zusammenstellungen neu gesichtet und geordnet werden. 

 

 

Insgesamt geht es um die Gründung einer neuen Wissenschaft, die im Klassifikationssystem der bereits bekannten Wissenschaften einen bestimmten Platz einnehmen soll. Nämlich als „dritte“ theoretische Wissenschaft nach Physik und Mathematik. Und neben den logischen, den poietischen und den praktischen Wissenschaften, die in die Neugründung stärker einfließen als Aristoteles kundtut. 

 

Diese „gesuchte“ Wissenschaft wird im Buch XI wieder einmal als „Theologie“ bezeichnet und gleichzeitig merkt Aristoteles, dass er sich damit schon in eine Aporie verstrickt hat, denn diese Wissenschaft soll selber eine allgemeine sein, eine so allgemeine, dass sie nicht nur ein höchstes Seiendes, wenn es ein solches gibt, sondern vor allem die sozusagen mittleren Seinsstufen, die es zweifellos gibt, betrachten soll. Die mittleren bis hinunter zu den niedrigsten, ja sogar bis zu den Nicht-Seienden, sofern sie irgendwie doch sind: Doch-Seiende. Also bis zum Ineinander oder Gegeneinander von Seiendem und Nicht-Seiendem. Bis zur „Meontologie“. Dieser Begriff ist erst am Ende des 19. Jahrhunderts im Gefolge der Brentano-Schule entstanden und er ist seinerseits ein Folgebegriff der Ontologie, die im 17. Jahrhundert als Untersuchungsrichtung so genannt worden ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Aufstufung Vermögen-Verwirklichung-Vollendung bildet eine Dimension, die neben der kategorialen (aus Wesen und Akzidenzien) ihren Platz hat, sozusagen „lateral“ installiert ist, wirft die zusätzliche und schwerwiegende Frage auf, ob die seit dem Buch I „gesuchte Wissenschaft“ tatsächlich auf die Linie einer „theoretischen Wissenschaft“ festgelegt werden kann bzw. muß. Die Ausführungen zum Hausbau entstammen ja einer poietischen Wissenschaft, die ein Wissen formulieren will, das eine menschliche Zielorientierung und –realisierung befördern soll. 

 

Weiter oben, in 1064b 19ff., wurde das Thema Hausbau bereits eingeführt. Und zwar nur zu dem Zweck, um bestimmte Akzidenzien, nämlich die Traurigkeit oder Fröhlichkeit der Bewohner, aus der Wissenschaft auszuschließen, da sie – laut Platon - nur „Nicht-Seiendes“ seien. Allerdings macht Aristoteles, der zunächst dieser Einschätzung zustimmt, da sofort eine scharfe Wendung, und will „versuchen zu sehen, was eigentlich das Akzidens ist“. Zuerst Ausschluß eines Nicht-Seienden aus jeder Wissenschaft und jetzt plötzliche Zuwendung zu eben demselben, das sogar sichtbar sein soll. Offensichtlich wieder eine Ineinanderschiebung von Nicht-Seiendem und – von was? Vielleicht von einem Doch-Seienden? Das „Doch-Seiende“ – das wäre ein Seiendes ganz in der Nähe von Nicht-Seiendem, das sich mit seinem „doch“ aus dem „nicht“ herausreißt.[1]

 

Und ebenso eine plötzliche Wendung von (Nicht)Wissenschaft zu Sehen-Wollen. Eine bedeutsame erkenntnistechnische, ja erkenntnispolitische Wendung. Kaum zu glauben, dass in diesem berühmten Aristoteles-Buch, in dem doch alles längst klar zu sein scheint, so eine Wendung Platz hat und Platz greift.

 

Und was wird da gesehen, wenn gesehen wird, was das Akzidens eigentlich ist? 

 

Es wird gesehen, dass das Akzidens ein Geschehen ist, das nur ausnahmsweise passiert, das sich rar macht – denn seine Ursachen sind unbestimmt, ungeordnet, unbegrenzt. Sie heißen Zufall, entweder tychischer oder spontaner Zufall. 

 

Dazu eine kleine Kalendernotiz des Sylter Künstlers Siegward Sprotte (1913-2004), den ich seit 1980 gekannt habe:

 

„Wo der Zufall abnimmt, nimmt der Abfall zu

 

In einer Welt, in der es zur Ausnahme geworden ist, dass wir dem Zufall zufallen, wo uns der Zufall wie eine Zufälligkeit vorkommt, da ist es zur Regel geworden, dass die Abfälle zunehmend unsterblicher werden, sodass die Unsterblichkeit die Sterblichkeit des bildenden Lebens bedroht und infrage stellt.“

 

(21. 01. 1989)

 

Diese Worte deuten an, dass der Zufall, der auf „niedrigstem“ Niveau der Ordnung des Faktischen angehört, einen direkten Übergang vom Deskriptiven zum Optativen oder gar Normativen impliziert. 

 

Der Abschnitt 8 des Buches IX, der von den Akzidenzien ausgeht, die beim Hausbau anfallen, aus der Wissenschaft jedoch angeblich herausfallen, dann aber doch einem Sehen zugänglich sind, will zeigen, dass diese Akzidenzien dem Bereich angehören, wo von Gutem oder Schlechtem, von Glück oder Unglück die Rede ist. Einem Bereich, für den nicht eigentlich das theoretische Betrachten zuständig ist. 

 

Ein Bereich, für den ebenfalls das theoretische Betrachten nicht allein zuständig sein dürfte, wird von Aristoteles folgendermaßen umrissen: „das Vermögen, gesund zu sein, und das Vermögen, krank zu sein, sind nicht dasselbe, sonst müsste nämlich Gesundsein und Kranksein dasselbe sein; aber das Substrat, das sowohl gesund als auch krank ist, sei es die Feuchtigkeit oder das Blut, ist dasselbe.“ (1065b 28ff.)

 

Dieses Thema wird von Aristoteles zumeist einer poietischen Wissenschaft, der Heilkunde, zugewiesen. Hier wird es sozusagen noch davor, auf der Ebene der eigenen Befindlichkeit, besprochen und da könnte es der praktischen Wissenschaft zugeordnet werden, die erfreuliche von unerfreulichen Zuständen unterscheidet. Den beiden genannten Vermögen entsprechen die Bewegungen zum Gesundsein und zum Kranksein, die wiederum als zwei entgegengesetzte Vollendungen aufzufassen wären – alles das unter der Voraussetzung, dass es „nicht egal ist“, welche Bewegung, welche Vollendung wirklich ist. Diese „Nicht-Egalität“ ist eine „praktische“, die zwischen gut und schlecht unterscheidet und nicht bloß zwischen einer solchen Beschaffenheit und einer anderen.

 

Aristoteles’ Interesse gilt der speziellen Seinsmodalität der Bewegung (Veränderung) überhaupt, die immer eine Verwirklichung ist, aber eine andere Verwirklichung als das Resultat der Bewegung, welches eher als Vollendung zu bezeichnen ist. 

 

Die Bewegung als solche scheint schwierig zu bestimmen, weil sie jeweils zwischen zwei Modalitäten, zwischen Vermögen und Verwirklichung zu liegen scheint, und keines von beiden bewegt sich notwendigerweise. Deshalb haben einige – die Pythagoreer und Platoniker - versucht, sie unter einen anderen Oberbegriff wie Verschiedenheit, Ungleichheit, Nicht-Seiendes zu stellen. Aber keine dieser Gattungen ist notwendigerweise mit Bewegung verbunden. 

 

Bewegung scheint eine Art Zwischenphase zwischen angebbaren Bestimmungen zu sein und so greift Aristoteles zu einer sehr paradoxen, ja unmöglichen Formulierung, die dem Sichersten Prinzip, dem sogenannten Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, direkt widerspricht: „Bewegung ist Verwirklichung und Nicht-Verwirklichung – wie bereits abgehandelt“ (1066a 25).

 

Wie bereits wo abgehandelt? Etwa in den wenigen Ontologie-Programm-Erklärungen, die das Seiende und das Nicht-Seiende zusammen- oder ineinanderschieben, um das „als“ des Seienden als seienden zu explizieren, das keineswegs selbstwidersprüchlich ist – wohl aber „schwer zu sehen, doch imstande zu sein.“ ? (1066a 26) Doch-Seiendes.

 

Eher wohl am Anfang von Abschnitt 9 sowie in Phys. 201a 27 – 202a 3.

 

Und ein neuerlicher Anlauf zum Sehen und Artikulieren. Ein Artikulieren, das genau dieselben Wörter verwendet, wie sie in diesem Abschnitt schon ziemlich oft vorgekommen sind.

 

Aktiv- und Passiv-Bewegung, Aktiv- und Passiv-Fähigkeit, kommen in einer Verwirklichung und in einer Vollendung zusammen. Der Rückweg ist derselbe wie der Hinweg – aber ihr Sein ist nicht eines. 

 

Der Rückgang ist auch ein Weitergang. Das weiß jeder Spaziergänger, dass er, wenn er unfähig wäre, weiterzugehen, den Rückweg nicht durchführen könnte. Wenn Aristoteles nicht die vielen und umfangreichen Rückgriffe auf frühere Bücher machen würde, dann würde dieses Buch XI, so wie es ist, nicht zustande kommen. Es würde ausfallen und die Metaphysik wäre um dieses Buch kürzer. So haben die Rückgriffe dieses Weiterschreiben ermöglicht und den Lesern ein bestimmtes Weiterlesen vorgeschrieben. Das Weiterlesen wird gewissermaßen zu einem Wiederlesen und diese Überlagerung von Wieder und Weiter erzeugt eine Textstruktur, für die die Linguisten vielleicht schon einen Begriff gefunden haben.

  

Walter Seitter


[1] In VI, 1026b 22 heißt es sogar ausdrücklich, dass das Akzidens dem Nicht-Seienden nahe ist.

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