τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 11. November 2020

In der Metaphysik lesen (1066a 35 – 1067a 8)

  Eben hat Aristoteles die Bewegung, ein zentrales Thema der Physik und damit seiner Philosophie, am äußersten Rand des Möglichen (und Unmöglichen) angesiedelt, indem er sie in eklatantem Widerspruch zum Satz vom ausgeschlossenen Selbstwiderspruch, d. h. zum Sichersten Prinzip (laut Buch IV, 1005a 19ff.) als „Verwirklichung und Nicht-Verwirklichung“ bezeichnet hat, und nun geht er zu einem Begriff über, der auf unseren ersten Blick mit der Bewegung wenig zu tun hat.

In der Übersetzung von Hermann Bonitz lautet er: das „Unendliche“ – welches Wort sehr weite Konnotationen nahelegt, die ins Mathematische und sogar bis zum Theologischen reichen; in derjenigen von Franz Schwarz hingegen das „Unbegrenzte“ – das sich eher auf Physikalisches bezieht; der Abschnitt fasst denn auch einige Passagen aus der Physik zusammen. 

Zuerst einige Definitionen des Unbegrenzten, die durchaus „physikalisch“ vorgenommen werden. Unbegrenzt ist eine Ausdehnung oder ein Abstand, der von einem bewegten Körper nicht durchlaufen, nicht vollständig durchquert werden kann, nicht begrenzt werden kann oder aber faktisch nicht durchlaufen, durchquert, begrenzt wird. Oder unbegrenzt ist eine Ausdehnung, die ständig erweitert oder nach innen geteilt wird.

In der ersten Definition wird das Unbegrenzte gewissermaßen vorausgesetzt und dann als solches negiert; in der zweiten wird etwas Begrenztes vorausgesetzt und seine Entgrenzung negiert.

 

Sodann wird die in Frage stehende Unbegrenztheit entschieden in den Bereich der Sinnesdinge verwiesen und dort auf die Ebene von Größe und Menge und folglich von Akzidens gestellt, womit ihre selbständige Existenz ausgeschlossen wird. Das Unbegrenzte wird sogar als „Affektion der Größe“ bezeichnet, womit es als Akzidens an einem Akzidens eingestuft, herabgestuft wird – obwohl dies laut Buch IV (1007a 20ff.) gar nicht möglich sein soll. Als Akzidens hoch zwei – man möchte eher sagen Akzidens niedrig zwei und außerdem nur potenziell seiend und schließlich auch von Wesen und Prinzip ausgeschlossen wird das Unbegrenzte auf der nun ausführlich besprochenen Skala der Seinsgrade ordentlich nach unten degradiert, minimalontologisch diagnostiziert, beinahe schon meontologisch disqualifiziert. 

 

Das Unbegrenzte muß zwar in gewisser Weise vorausgesetzt werden – aber nur als Möglichkeit, nicht als Wirklichkeit. Es kann nicht Wesen sein und nicht Prinzip. Während das Gegenteil, nämlich die Grenze, fallweise als Prinzip auftreten kann. Im Begriffslexikon des Buches V wird denn auch das Unbegrenzte unter einem „positiven“ Stichwort – und das ist die Grenze! – besprochen. (1022a 4ff.)

 

Die eben referierten Qualifizierungen oder vielmehr Disqualifizierungen bestimmen das Unbegrenzte laut Aristoteles „allgemein“, das ist sein nicht sehr deutliches Wort für „ontologisch“. Aber auch da spielt er bereits auf Physik und Mathematik an: das Unbegrenzte ist etwa Akzidens der Luft oder der Geraden. (1066b 21)

 

Sodann bezieht er die Problematik direkter auf die Physik und deren Hauptbegriff, das ist der Körper (was sich noch nicht überall herumgesprochen hat). Ein Körper ist etwas von Flächen Begrenztes. Also kann kein Körper – nicht einmal ein bloß gedachter – unbegrenzt sein. Dazu wird argumentiert, dass das Unbegrenzte weder zusammengesetzt noch einfach sein kann. Ein zusammengesetzter Körper muß aus endlich vielen Elementen bestehen. Und diese müssen einander ebenbürtig sein; wenn das Vermögen, d. h. die Kraft eines Elements zurückbliebe, so würde dieses „unter dem Unbegrenzten“ erdrückt, zermalmt, vernichtet werden. (1066b 31) Ein unbegrenzter Körper kann aber auch nicht einer und einfach sein. Das Eine ist zwar zusammen mit dem Vielen eine durchgängige Bestimmung des Seinden als solchen - aber kein Wesen (wie im Buch X ausführlich dargestellt). 

 

Die Drohung der sozusagen endgültigen Vernichtung irgendeines Elementes oder Teiles, die Vision der definitiven Übermacht oder vielmehr Allmacht eines Elementes oder Teiles, diese eigentlich politische „Utopie“ scheint mir ein bemerkenswertes Argument für die ontologische und eben auch physikalische Degradierung des Unbegrenzten zu sein. 

 

Mit ihr setzt sich Aristoteles auf unterschiedliche Weise von vielen prominenten Vorgängern wie Anaximander, Heraklit, Anaxagoras, Pythagoras, Platon ab. Beinahe isoliert er sich unter den Philosophen und er nimmt das auch bewusst in Kauf, wenn er ironisch von der Verehrung spricht, die dem Unbegrenztheitsbegriff entgegengebracht wird – siehe Phys. III, 207a 15. 

 

Da ich davon im November 2020 lese und schreibe, überspringe ich immer schon mehr als zweitausend Jahre und würde nun sagen, dass sich der hier gelesene und wiedergelesene Text – Physik und Metaphysik - heute nicht nur gegen Anaximander und so weiter richtet, sondern anders auch gegen die christlich-mittelalterliche sowie gegen die modern-idealistische Unendlichkeitsschwärmerei. 

 

Da ist nun Emmanuel Levinas zu nennen, dessen Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität (Freiburg-München 2002) das aristotelische Diktum aufgreift und wendet. Daß es kein Unendliches aktual gebe, wie die Philosophen sagten, sei zunächst einmal ein Defekt des Unendlichen. Oder aber gerade seine positive Charakteristik – nämlich seine Unendlichkeit.[1] Damit ist wohl nicht ein physikalisch Unbegrenztes gemeint, welches von der neueren Physik ohnehin in Frage gestellt wird. 

 

 

 Walter Seitter

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