τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 18. November 2020

In der Metaphysik lesen (1067a 8 – 36)

 Bekanntlich kann man am Seminar auch durch einen schriftlichen Beitrag aktiv mitwirken und eine derartige Mitwirkung darf mehr oder weniger akribisch, mehr oder weniger spekulativ, mehr oder weniger polemisch ausfallen. Sogar die Bezeichnung für den gelesenen Autor kann so oder so formuliert werden und da nenne ich als Beispiel den schreibenden Aristoteles-Leser Thomas von Aquin (1225-1274), der statt des Namens den singularisierten Typenbegriff „Philosophus“ verwendet.

 

In der letzten Woche erreichte mich – über das Medium des Buches – eine sehr pointierte Zusammenfassung der aristotelischen Stellungnahme zum Unendlichen von Emmanuel Levinas (1905-1995); er nennt als ihren Urheber „die Philosophen“. Wohl eine allzu grobe Verallgemeinerung, denn selbst in der Antike war Aristoteles mit seiner Destruktion des Unbegrenzten eher eine Ausnahmeerscheinung. Im Jahre 1977 nach Christus hatte dann Leo Strauss allen Grund, die „unerreichte Nüchternheit“ des Aristoteles hervorzuheben. Immerhin waren 1972 die Grenzen des Wachstums erschienen.[1]

 

Schon seit dem Abschnitt 8 besteht das Buch XI aus Rückgriffen auf bestimmte Passagen der Physik. Das heißt: dieser Teil des Textes der Metaphysik besteht „physisch“ aus Teilen der Physik, die wiederholt, wieder hergeholt und abgewandelt eingesetzt werden. Der Text der Metaphysik geht so weiter, wie er weitergeht, indem andere Texte herbeigeholt und eingesetzt, interpoliert werden, interpoliert zwischen die davorliegenden Passagen mit der ziemlich unklaren ja eigentlich fälschlichen Ankündigung von „Theologie“ und der in Buch XII dann wohl doch stattfinden werdenden Durchführung der Theologie. Was jetzt geschieht, ist eine physisch-textuelle Hinausschiebung der aristotelischen Theologie. Eine kleine textimmanente „Katechontik“, die vielleicht auf eine größere katechontische Funktion der aristotelischen Philosophie verweist.[2]

 Und gedanklich, inhaltlich handelt es sich sozusagen um einen „Rückfall“ in die Physik, sodaß man sagen muß, die Metaphysik wird „physikalistisch“, die Metaphysik verzichtet darauf, eine Etage über der Physik zu errichten und auszubauen, sie verzichtet jedenfalls hier darauf, eine „andere Physis“ in Betracht zu ziehen, wie das in Abschnitt 7 in Aussicht genommen worden war. 

 

Die Nivellierung des Gefälles zwischen Metaphysik und Physik, die stellenweise, lokale, „topische“ Reduzierung der sogenannten Metaphysik auf die Physik, die mit der Destruktion des Unbegrenzten, mit der Reduktion des Unbegrenzten auf das Begrenzte konkret durchgeführt worden ist, kann man sie nicht als „Physikalismus“ bezeichnen? Und sogar als „antimetaphysische“ Stoßrichtung, die sich zumindest hier in dieses Metaphysik genannte Buch einschleicht?

In den letzten bereits gelesenen Zeilen sind die Strukturen des Begrenzten auf das größtmögliche Format ausgeweitet worden: auf das „All“, also das Universum, wo das Unbegrenzte denn doch eine Existenzchance haben sollte. Aristoteles erwähnt Heraklit, der die Elementenlehre mithilfe des Begriffs des Einen umzudeuten versucht hat. (Siehe 1067a 3ff.). Der Begriff des Einen, dem das ganze Buch X gewidmet war, ist zwar ein ontologischer Grundbegriff, er liegt aber bei Aristoteles nicht auf der Ebene der Wesen und damit auch nicht auf der Ebene der Elemente.

Der Text kommt wieder auf den maßgeblichen Wesensbegriff der Physik, den sinnlich wahrnehmbaren Körper, zurück, interessiert sich jedoch für ein notwendiges Akzidens desselben: das „(irgend)wo“, das auch mit dem Begriff des Ortes umschrieben werden kann. Hier stoßen wir auf eine andere Definition des Akzidens: nicht als „Ausnahmegeschehen“, wie im Abschnitt 8 eingeführt (und übernommen aus dem Buch VI); sondern im Sinn der Kategorienlehre, wo die Akzidenzien im einzelnen als kontingente Bestimmungen, generell jedoch als notwendige Eigenschaftsdimensionen eingeführt worden sind.  

 

Seit dem Abschnitt 8 geht es jetzt „nur“ noch um Akzidenzien - von denen es angeblich keine Wissenschaft gibt. Wiederum eine ziemlich selbstwidersprüchliche Aussagenkonstellation, über die man sich als Leser wundern darf. Wenn man schon in diesem Buch XI kaum Neues erfährt, so kann man immerhin erfahren, dass sich der Text in Widersprüche verstrickt. Und das ist bei Aristoteles doch einigermaßen neu. Man erfährt es nur, wenn man bereit ist, hinzusehen; anstatt schon alles zu wissen, da er bekanntlich ein antiker Philosoph ist.

 

Das notwendige Akzidens, ohne das es bei den sinnlichen Körpern nicht abgeht, ist also das pou oder der topos, das „wo“ oder der „Ort“ – oder der „Raum“, wie Hermann Bonitz übersetzt hat und damit wiederum in der Falle des 19. Jahrhunderts steckt - wie mit dem „unendlich“. Denn der „Raum“ führt, jedenfalls im Singular, allzu leicht in die Irre des Unendlichen und womöglich Leeren. 

 

Aus dieser großen Irre hat sich das 20. Jahrhundert an mehreren Orten(!) herausgearbeitet. Obwohl ich zu den wenigen gehöre, die die Relativitätstheorie nicht so gut verstanden haben, dass ich sie so leichthin zu zitieren pflege, und da ich so ein ganz weniger bin, der Michel Foucaults Einführung der Heterotopie in die Philosophie 1984 ins Deutsche hineingeschrieben hat, fällt es mir ziemlich leicht, das aristotelische Insistieren auf den Örtern zu verstehen, aber nicht als selbstverständlich abzutun.[3]

 

Ein Ganzes und sein Teil verfügen über denselben Ort, etwa die Erde. Wenn das Ganze gleichartig (homogen) ist, so müsste es unbewegt sein oder in ständiger Bewegung – was unmöglich ist. Wenn aber das All ungleichartig (heterogen) ist, so sind auch die Örter seiner Teile ungleichartig; und erstens ist dann der Körper des Alls nicht einer, außer im Sinn der Berührung; zweitens sind die Teile der Art nach entweder begrenzt oder unbegrenzt. Nun können sie aber nicht begrenzt sein. Wenn aber Teile unbegrenzt und einfach sind, so sind auch die Örter unbegrenzt und ebenso die Elemente. Ist das aber unmöglich und sind die Örter begrenzt, so muß auch das All begrenzt sein. 

Diese Passage (welche die Klammern auslässt), resümiert in extremer Verkürzung eine vollständige Kosmologie, die nur wenige Begriffe bzw. Bestandteile berücksichtigt. Sie rekonstruiert das Weltall als Zusammensetzung aus Unbegrenztem (das nicht ganz ausgelassen werden kann) und Begrenztem, das zuletzt den Sieg davon trägt. 

 

Eine andere ebenso kurze Rekonstruktion des Weltalls operiert mit anderen Bestandteilen, nämlich mit den sechs Bewegungsrichtungen. Denn die wahrnehmbaren Körper sind auch die sich bewegenden. Da wird ebenfalls das Unbegrenzte eingeführt, und zwar wird es differenziert auf Größe, Bewegung, Zeit bezogen. 

Dieser Kosmologie-Abriß wird dann noch erweitert und man wird versuchen zu sehen, welchen Platz er in der Komposition des Textes einnimmt. 

 

Der Hausbau, der oben als Beispiel für zielorientierte Bewegung (Veränderung) eingeführt worden ist, scheint auf mehreren Ebenen metaphorisch bedeutsam zu sein – Textbau, Weltbau. 

 

Walter Seitter

 


[1] Donella und Dennis Meadows, Jørgen Randers, William Behrens: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit  (Stuttgart 1972)

[2] Zur Ausweitung  der vom Apostel Paulus erfundenen katechonischen Funktion siehe  M. Rauchensteiner und W. Seitter (Hg.): Tumult Schriften zur Verkehrswissenschaft 25: Katechonten. Den Untergang aufhalten (2001)

 

[3] Siehe Michel Foucault: Andere Räume, in: Idee Prozeß Ergebnis. Die Reparatur und Rekonstruktion der Stadt  (Berlin 1984)

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