τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 28. Oktober 2020

In der Metaphysik lesen (1065b 17 – 27)

In der Sitzung vom 28. Oktober 2020 kommen wir auf den qua-operator zurück, den Aristoteles in seiner Formel für den Gegenstand der Ontologie immer wieder einsetzt: „das Seiende als seiendes“. Eine Art Potenzierung des „Seienden“, das sein Grundwort bildet, welches er von vielen Vorgängern übernommen hat. Die als-Potenzierung oder –Zuspitzung scheint seine Erfindung zu sein und sie zeigt an, dass die aristotelische Ontologie eine ganz eigenwillige Unternehmung ist, die nicht einmal von der Definition der Metaphysik genau getroffen wird, welche nach „Prinzipien“ sucht, während der „Wissenschaft vom Seienden als seienden“ ein bestimmtes wenngleich abstraktes Objekt zugewiesen wird, das allerdings so eine als-Verdoppelung erfährt. 

 

In dem zuletzt öfter herbeizitierten Anfang von Kap. 10 von Buch IX setzt Aristoteles statt „Seiendes als seiendes“ ein: „das Seiende und das Nicht-Seiende“. Die Einsetzung erfolgt so, dass man in dieser Formel ein Synonym für die viel häufiger gebrauchte als-Formel sehen darf.

 

Schematisch angeschrieben schaut das so aus:

 

Seiendes als seiendes  =  Seiendes und Nicht-Seiendes

 

Ist diese Gleichsetzung irgendwie plausibel oder gar einsichtig?

 

Bernd Schmeikal stellt eindringlich die Frage nach der Qualität unseres Redens, Fragens, Wahrnehmens bei all diesem Reden von Ontologie. Wenn dieses mehr sein soll als eitles Getue, wenn es mit Erkenntnis irgendetwas zu tun haben soll, dann ist diese Frage ganz ernst zu nehmen.

 

Ich schreibe obige Gleichsetzung jetzt noch einmal und etwas anders an:

 

Seiendes als seiendes    Seiendes und Nicht-Seiendes

 

Der Pfeil in der Mitte, der von rechts nach links zeigt, sollte viel größer sein, wozu mein Computer anscheinend nicht in der Lage ist. 

 

Meine Behauptung ist, dass die rechte Formel, die das Seiende mit dem Nicht-Seienden konfrontiert, die linke Formel mit dem „als“ verständlich machen kann.

 

Als seiendes profiliert sich das Seiende durch die Absetzung vom Nicht-Seienden. In dieser Absetzung muß sich das Seiende behaupten, bewähren – eben seine Seiendheit unter Beweis stellen. 

 

Heidegger hat dafür die schon zitierte Formulierung „Ens qua ens ex nihilo fit“ gefunden.[1]

 

Meine zweite Formel verweist auf die „meontologische“ Richtung der Ontologie, welche sich auf die schwächeren Seinsmodalitäten wie Akzidenzien, Möglichkeit, falsch, vielheitlich, Vergehen einlässt bzw. sie immer noch auf die Seite des Seienden herüberzieht. Ich nenne diese Richtung auch die „minimalontologische“ und habe so etwas auch schon lange vor meiner Auseinandersetzung mit Aristoteles ins Auge gefasst. Hauptsächlich in meiner Beschäftigung mit Michel Foucault und Paul Cézanne und unter dem Titel der Erscheinungen, denen wir es ja überhaupt verdanken, dass wir zu Wirklichem Zugang haben, dass wir von Wirklichem sprechen können, ohne purer Einbildung ausgeliefert zu sein. Aber natürlich haben die Erscheinungen ihre Tücken.[2]

 

Die verblüffendste Geste in Richtung Minimalontologie, die uns bisher bei Aristoteles auffallen musste, die wir lesend sehen durften, weil wir versuchen, sehend zu lesen, ist wohl seine Aufnahme des Kaum-Begriffs „verstümmelt“ in das Begriffslexikon von Buch V.[3] Ein Begriff, der kaum einer ist und somit begriffspolitisch selber auf die Seite des Minimalismus gehört. Und ein Wort, das in jeder Nachkriegsgesellschaft ein normales ist. 

 

Haben wir von dieser Erkenntnisproblematik und –schwierigkeit im Zuge unserer bisherigen Ontologie-Lektüre schon gehört? Ja ganz massiv im Kapitel 5 und 6 von Buch IV, wo sich Aristoteles mit dem Phänomenalismus des Protagoras auseinandersetzt, der alle Erscheinungen für wahr halten möchte, und dann im oben erwähnten Kapitel 10 von Buch IX, wo erklärt wird, dass das Seiende und das Nicht-Seiende als das Wahre und das Falsche ausgesagt wird, wo also die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Erscheinungen thematisiert wird. Da wird die phänomenische oder kognitive Dimension der Ontologie angedeutet: auch sie keine einfache Linie, sondern eine Polarität oder Verzweigung, in der Minimal- und Maximalontologie sich voneinander abheben.

 

Die maximalontologische Richtung zielt auf Wesen, Verwirklichung, Werden, ein und wahr – und letzten Endes auf die „Theologie“, nach der Aristoteles die Metaphysik, also auch die gesamte Ontologie benennen möchte – obwohl das gar nicht stimmt, weil ja die Theologie auf ein „abgetrenntes“ Wesen zielt. 

 

Aristoteles lesen, besser gesagt, den Text lesen und weiterlesen, obwohl er angeblich ständig irgendetwas wiederholt, heißt auch ihn zurechtrücken und weiterschreiben und umschreiben. So wie er selber mit seinem Weiterschreiben seine „Wissenschaft“ umschreibt.

 

Es stellt sich die Frage, ob die meontologische Minimalstufe der Ontologie die einzige Basis zur Verdeutlichung des Seienden als seienden darstellt, oder ob dieses auch aus sich selber, also positiv, einsichtig ist und formuliert werden kann. Minimum und Maximum klingen ja sehr quantitativ – aber was wird auf diese Weise quantitativ eingestuft? Die aristotelische Antwort wäre wohl: das seiend Sein, eine moderne Formulierung würde sagen: die Intensität, die Wirklichkeitsintensität.

 

Sagen wir also: die Seinsintensität. Und die wird zwischen dem maximalen Grad des Wesens, der Verwirklichung, des Wahren und dem minimalen Grad diverser angeblicher Nicht-Seiender wie Akzidens, bloß Mögliches, Falsches ... eingestuft.

 

Sophia Panteliadou betont, dass beim sogenannten Vermögen zwei Bedeutungen zu unterscheiden sind: das der Möglichkeit nach Seiende, das nenne ich das bloß Mögliche; und das Vermögen zu einer Tätigkeit, das der vorphilosophischen Bedeutung von Kraft oder Fähigkeit näherbleibt. 

 

Indem er für die Dimension Vermögen-Verwirklichung das Hausbauen als Beispiel einführt, rückt Aristoteles selber von der rein theoretischen Wissenschaftslinie ab, auf die er doch die gesuchte und ganz neue Wissenschaft bringen will.  

 

Das Hausbauen ist eine Kunstfertigkeit, deren Resultate so oder so, besser oder schlechter ausfallen, und die an sie anschließende Wissenschaft, die Baukunstlehre ist eine technische oder poietische Wissenschaft, die auch andere Fragen stellt als rein theoretische.

 

So stellt Bernd Schmeikal die „unmögliche“ Frage, ob man erdbebensichere Häuser bauen kann. Diese Frage kann eine ordentliche Baukunstlehre gar nicht vermeiden, wenn sie ihrem Anspruch gerecht werden will; und sie geht sogar über das Technische hinaus, sie reicht in die praktischen Wissenschaften hinein, denn es geht um das Wohl und Weh von Bewohnern. Wie ja schon die ausführliche Behandlung des Komplexes Vermögen-Verwirklichung im Buch IX Grundbegriffe der Ethik berührt hat, nämlich die Unterscheidung zwischen zielorientiertem und selbstzweckhaftem Tun (siehe 1050a 30ff.).  

 

In unserer Stelle vermehrt der Text die Grade der Seiendheit, indem er über dem Vermögen nicht bloß die Verwirklichung sondern auch die Vollendung platziert. 

 

Zwischen Minimum und Maximum erstreckt sich die Ontologie gewissermaßen vertikal: von unten nach oben. Aber ihre unterschiedlichen Dimensionen bilden mehr oder weniger parallele Stränge und zeichnen – metaphorisch – eine Struktur aus schwächeren und stärkeren sowie verschiedenartigen Seinsmodalitäten. Diese Stränge sind insofern parallel, als sie verschiedenartig sind; aber insofern auch weniger parallel, als sie ineinandergreifen – wie etwa die Veränderung und die Kategorien. 

 

Wenn mit den Veränderungen menschliche Tätigkeiten gemeint sind, und das dürfte zumeist der Fall sein, siehe die obige Aufzählung, die mit Lernen, Heilen ... (1065b 19) beginnt, dann dürfte die rein theoretische Richtung ins Wanken kommen und die gesuchte Wissenschaft müsste einen anderen Charakter annehmen. 

 

Walter Seitter

 


[1] Siehe Walter Seitter: Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I-VI) (Freiburg-München 2018): 80.

[2] Siehe Walter Seitter: Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen (Wien 1997)

[3] Siehe Walter Seitter: Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I-VI) (Freiburg-München 2018): 210ff.

1 Kommentar:

  1. Einwände zum Protokoll der Sitzung vom 28. Oktober 2020

    Zitat:
    In dem zuletzt öfter herbeizitierten Anfang von Kap. 10 von Buch IX setzt Aristoteles statt Seiendes als seiendes“ ein: das Seiende und das Nicht-Seiende“. Die Einsetzung erfolgt so, dass man in dieser Formel ein Synonym für die viel häufiger gebrauchte als-Formel sehen darf.

    1. Formaler Einwand: »das Seiende und das Nicht-Seiende« ist eine Aufzählung und keine Formel.

    2. Formaler Einwand: Eine Formel ist eine prägnante Art, Informationen symbolisch auszudrücken. Keiner der beiden Ausdrücke gibt etwas symbolisch wieder. Beide fassen den Erkenntnisinhalt in nichtrepräsentative Begriffe.

    3. Formaler Einwand: »Das Seiende und das Nicht-Seiende« hat keinen Wiederholungscharakter im Text. Es kommt im zitierten Abschnitt genau einmal vor.

    4. Textorganisatorischer Einwand: A° leitet in Kap. 10 von IX ein neues Thema ein, in welchem er das Seiende und das Nicht-Seiende hinsichtlich der Wahrheitsfrage prüft. Es gibt keinen besonderen inhaltlichen Zusammenhang zu Abschnitt 4 in Buch VI.

    5. Gnoseologischer Einwand: Die Aussage, das »Seiende als seiendes« umfasse »das Seiende und das Nicht-Seiende« setzte A°s im selben Werk dargelegten »Satz vom Widerspruch« (1005b) ausser Kraft, wonach es ist unmöglich ist, dass etwas zugleich sei und nicht sei.

    6. Lesestrategischer Einwand: Der Oberbegriff des Seienden und des Nicht-Seienden lässt sich Sein, oder besser: mit Evidenz im philosophischen Sinn angeben, also Ersichtlichkeit, Gewissheit; ihre Unterbegriffe gibt A° in der Wahrheitsuntersuchung als Zusammenhang und Gestalt an. Wir haben es also nicht allein mit dem im Denken und Urteilen liegenden Wahren zu tun, die ontologische Wahrheit der Dinge (oder die ontische Dimension nach Heidegger) ist die Grundlage für die gnoseologische und logische Wahrheit des Verstehens. Eine exzessiver Ausweitung des Seinsbegriffs, wie sie Seitter in der Seinsphilosophie von Hermann Nitsch noch vor zwei Jahren abgelehnt hat, führt nur zum bekannten Salzburger Schnürlregen (»mehr oder weniger parallele Stränge aus schwächeren und stärkeren sowie verschiedenartigen Seinsmodalitäten«).

    Wolfgang Koch

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