τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 14. Oktober 2020

In der Metaphysik lesen (1063b 35 – 1065b 4)

   Der momentane amerikanische Wahlkampf hat auch ein erfreuliches Detail zustandegebracht, indem der amtierende Vizepräsident in Anspielung auf Hautfarbengeschichten der demokratischen Gegenkandidatin zur „historischen Natur“ ihrer Kandidatur gratuliert hat. Ein hohes Maß an Höflichkeit und scholastischer Eleganz.

 

Am vergangenen Montag hat Gerhard Weinberger in der Montag-Reihe der Neuen Wiener Gruppe/Lacan-Schule einen Vortrag unter dem Titel „Emmanuel Levinas und François Jullien: Das Genießen (jouissance) als Durchgang zur Ethik oder als Inbegriff des Metaphysischen“ gehalten. Beide französischen Philosophen setzen den Begriff „metaphysisch“, der seit dem 19. Jahrhundert eher in Verruf geraten ist, für ihre Überlegungen ein. 

 

Das neue Buch des Wiener Philosophen Alfred Dunshirn heißt zwar Aristoteles. Wegbereiter der Metaphysik (Halle 2020), aber er vermeidet es, aus der Tatsache, dass dieses aristotelische Hauptwerk 300 Jahre nach seinem Tod den Titel „Metaphysik“ bekommen hat, den Schluss zu ziehen, dem Autor die Bedeutungslast des Begriffs zuzuschieben. Der Ausdruck betreffe Probleme, die „nach der Physik“ kommen; Fragen der Physik und der Metaphysik seien aufs Engste miteinander verwoben; terminologisch gesehen sei Aristoteles jedenfalls kein Metaphysiker gewesen. 

 

Es trifft sich, dass die hiesige Lektüre im Juli 2020 bis zu den Abschnitten 7 und 8 von Buch XI gelangt ist, in denen Aristoteles auf seine Gesamtklassifikation der Wissenschaften zurückkommt und endlich klarstellen will, was nun eigentlich der Gegenstand dieses Buches, nämlich des Gesamtbuches namens Metaphysik, gewesen ist und sein soll.[1]

 

Die Aufzählung der unterschiedlichen Wissenschaften wird recht locker in Angriff genommen. Es werden die poietischen Wissenschaften wie die Heilkunde oder Gymnastik genannt, sowie die mathematischen. Jede dieser Wissenschaften umschreibt eine Sorte von Seiendem – aber da erinnert sich Aristoteles daran, dass er schon ziemlich oft irgendwo in früheren Büchern einen ganz anderen  Wissenschaftstyp  genannt und entfaltet und einmal sogar formell gegründet hat; einen Wissenschaftstyp, der mit einem enzyklopädischen Überblick gar nicht zu erfassen ist, weil er nicht auf irgendein weiteres Seiendes abhebt, sondern auf das Seiende als seiendes. Diese Wissenschaft, die das Seiende „objekt-reflexiv“ auf seine Seiendheit hin untersucht, wird hier nur kurz erwähnt und wie eine rätselhafte Angelegenheit gleich wieder verabschiedet.

 

Aristoteles setzt die lockere Aufzählung der vergleichsweise normalen Wissenschaften wieder fort – aber auch innerhalb dieser sind gewaltige Unterschiede zu konstatieren: eine Wissenschaft von der Natur ist eine theoretische Wissenschaft und sie hebt sich scharf ab von den praktischen und den poietischen Wissenschaften, bei denen das Bewegungsprinzip ganz woanders anzusetzen ist. (1063b 35ff.)

 

Aristoteles treibt seine Überlegung weiter, indem er die obige Reminiszenz an die Wissenschaft vom Seienden als seienden aufgreift aber gleich wieder modifiziert und nun eine „Wissenschaft vom Seienden, insoferne es ist und abgetrennt ist“, behauptet. Die Abgetrenntheit der Gegenstände war ja das Kennzeichen der Naturwissenschaft, also der Wissenschaft von den „objektiven“ Dingen. Jetzt wird mühselig eine andere Wissenschaft ins Auge gefasst, deren Gegenstand ebenfalls abgetrennt, andererseits „objektiv-reflexiv“ sein soll. Ist sie mit der Naturwissenschaft identisch oder nicht?

 

Und wie verhält sie sich zur Mathematik, die bleibende aber nicht abgetrennte Dinge betrachtet?

 

Sie unterscheidet sich von beiden, da sie vom abgetrennten und unbewegten Seienden handelt – aber nur wenn ein solches Wesen überhaupt existiert – „was aufzuzeigen wir noch versuchen werden“. Und wenn es eine derartige Natur in den Dingen gibt, dann dürfte es wohl auch das Göttliche geben, und sie wäre wohl das erste und herrschendste Prinzip. Also gibt es drei Sorten von theoretischen Wissenschaften: die Physik, die Mathematik und die Theologie. 

 

Demnach ist die Gattung der betrachtenden Wissenschaften die beste, von diesen aber wiederum die zuletzt genannte; denn sie befasst sich mit dem Ehrwürdigsten aller Dinge. Besser oder schlechter aber nennt man eine Wissenschaft ja nach ihrem eigentümlichen Gegenstand. (1064a 3ff.)

 

Man sieht, dass Aristoteles die Existenz eines solchen Höchsten nur vorsichtig behauptet und zum anderen eröffnet er nun die Frage, ob die Wissenschaft vom Seienden als seienden als allgemeine anzusetzen ist. Er beantwortet sie keineswegs direkt, sondern er weicht auf die Naturwissenschaft aus, die die erste unter den Wissenschaften ist, insofern die naturhaften Wesen die ersten unter den Dingen sind. Falls es aber noch eine andere, eine andersartige Natur und ein abgetrenntes unbewegtes Wesen gibt, muss die Wissenschaft davon eine von der Naturwissenschaft verschiedene Wissenschaft sein und eine vorrangige und deswegen auch eine allgemeine. (1064b 6ff.)

 

Karl Bruckschwaiger stellt fest, dass die hier von Aristoteles gesuchte „dritte“ betrachtende Wissenschaft aufgrund ihres Gegenstandes, nämlich der „anderen Natur“, auch „Heterophysik“ heißen könnte. Damit wäre ihr enges aber paradoxes Verhältnis zur Physik direkt aus dem Text abgeleitet. Aber die Suche nach dieser Wissenschaft verläuft aporetisch oder zickzackwegig. Einmal wird sie auf das Seiende als seiendes ausgerichtet – so würde sie von vornherein als allgemeine Wissenschaft bestimmt, dann wieder wird sie auf eine höchste Natur ausgerichtet - so wäre nur durch deren Primat ihre Allgemeinheit begründet.

 

Auf diese Weise verdient sie den Titel „Theologie“ – natürlich im Sinne einer natürlichen oder philosophischen Theologie. 

 

Die Reminiszenz an die „Wissenschaft vom Seienden als seienden“ setzt sich nicht so richtig durch. Obwohl diese eigentümliche Untersuchungsrichtung die Bücher IV und VII und VIII und IX und X vollkommen ausgefüllt hat, weitgehend auch die Bücher III und V. Und zwar ohne jeden theologischen Bezug. Der Formalismus der Seinsmodalitäten, der unter dem Vorzeichen des „Seienden als seienden“ hartnäckig und geduldig am Werk gewesen ist, wird in der Nomenklatur durch das „Göttliche“ verdrängt. Politische Korrektheit?  

 

Der Abschnitt 8 bringt die momentan halb vergessene Untersuchungsrichtung doch wieder an die Oberfläche. Und zwar nicht mit der genau passenden Bezeichnung, die noch viel später als der 300 Jahre nach Aristoteles erfundene Buchtitel Metaphysik (welcher das bruckschwaigerische Komplement antizipiert), also nicht mit der 1900 Jahre nach Aristoteles konstruierten Untersuchungsbezeichnung, die ich jetzt einmal nicht nenne, um die aporetische Situation spürbar zu machen.

 

Die formalistische Untersuchungsrichtung wird mit der typischen aristotelischen Themenangabe angedeutet und sogleich extrem unvollständig durch ihren schwächsten Punkt vorgestellt, wobei dieser schwächste Punkt, tatsächlich ihr stärkster, ausdrücklich und mithilfe des Sophistenfeindes Platon noch schwächer gemacht wird, lächerlich schwach gemacht und ganz und gar auf nichts reduziert.

 

Da ich diese Passage bereits am 22. Juli hier zitiert habe, komme ich gleich zu der von Aristoteles produzierten Selbstwidersprüchlichkeit oder zusätzlichen Aporie, die darin besteht, dass er die Akzidenzien aus den überkommenen Wissenschaften und sogar aus jedweder Wissenschaft ausschließt – er aber gerade zur Erklärung dieses Ausschlusses versuchen will, „zu sehen, was eigentlich ein Akzidens ist.“ (1064b 34).

 

Sehen wollen, was ein Akzidens eigentlich ist. Klarer kann man nicht ausdrücken, dass hier, genau hier, versucht wird, Wissenschaft zu machen genau darüber, dass da sich etwas der Wissenschaft entzieht. Ein solcher Versuch von Wissenschaft über eine bestimmte Unmöglichkeit von Wissenschaft begibt sich einerseits auf die Meta-Ebene und andererseits eröffnet er neuerlich und auf eigenwillige Weise die erwähnte Untersuchungsrichtung, die im Buch IV formell begründet und um 1600 nach Christus als „Ontologie“ bezeichnet worden ist. Aber jetzt wird diese Untersuchung nicht wie üblich von der Seite des Wesens her, sondern von der Seite der Akzidenzien her in Angriff genommen.

 

Dass die Akzidenzien sehr wohl wissenschaftlich behandelt werden können, hat Aristoteles selber tätig bewiesen, als er sie in seiner Frühschrift Die Kategorien ausführlich abgehandelt hat. Dort in der Gegenüberstellung zur Hauptkategorie des Wesens.

 

Hier wird das Akzidens eher im Singular dem an sich oder wahrhaft Seienden entgegengestellt und als Sonderfall einer Grundkategorie behandelt, die als Vorkommnis, Geschehnis, Ereignis widergegeben werden kann. Die griechischen Ausdrücke sind verbaler Natur und lauten gignesthai, symbainein. Wenn man unbedingt will, könnte man sagen, dass die modernen Ereignis-Ontologen hier abschreiben haben können. Oder hat Aristoteles abgeschrieben? Abschreiben ist erlaubt.

 

Was geschieht, geschieht entweder immerzu und notwendig oder zumeist oder aber selten und ausnahmsweise. Also in einer Skala zwischen Regularität und Rarität. Akzidenziell wird genannt, was sich rar macht. Dabei kann es sich um Wetterkapriolen handeln oder aber um menschliche Außerordentlichkeiten – weshalb die von Aristoteles in der Poetik behandelte Tragödie ihre Höhepunkte erreicht, wenn das Geschehen ins Unwahrscheinliche oder gar Unmögliche kippt.[2] . 

 

Die irregulären oder akzidenziellen Ereignisse sind nicht etwa ursachenlos. Sie zeichnen sich vielmehr dadurch aus, dass sie „zu viele“ Ursachen haben: nicht bloß die ordentlichen wie Natur oder Vernunft, sondern auch die unordentlichen wie den tychischen oder den spontanen Zufall.

 

Das geht so weit, dass Aristoteles tyche und automaton sogar für den kosmischen Gesamtzusammenhang als mögliche Ursachen in Betracht zieht: aber doch nur als supplementäre Ursachen, denen Vernunft und Natur vorausgehen müssen. (1065b 4)




[1] Die Anfänge der hiesigen Metaphysik-Lektüre sind niedergelegt in Walter Seitter: Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I-VI) (Freiburg-München 2018).

[2] Siehe Walter Seitter: Poetik lesen (Berlin 2010 und 2014); ders.: Accidentalism in Aristotle? Poetics and Ontology, in: Archiwum Historii Filozofii. 61/2016. Während in dem jetzt gelesenen Abschnitt der Metaphysik ein epistemologischer Akzdenzialismus zutagetritt, tendiert Aristoteles in der Poetik dazu, die Akzdenzien als Realfaktoren den Wesen vorzuziehen (aber nur in den plots der Tragödien).

 

 

Walter Seitter

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