τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 21. Oktober 2020

In der Metaphysik lesen (1065b 5 – 25)

  Verena Stauffer ist eine Schriftstellerin, die in Wien Philosophie studiert hat und vor kurzem einen Gedichtband herausgegeben hat, der den Titel Ousia trägt. Es ist anzunehmen, dass mit dem Wort der Begriff gemeint ist, der vor allem bei Aristoteles zu einem Hauptbegriff geworden ist und der, wiewohl er in späteren Jahrhunderten auch in die Formulierung christlicher Dogmen eingegangen ist, keineswegs als ein „durchschlagender theologischer Begriff“ gelten kann (auch wenn ein Rezensent in der FAZ das gemeint hat).

 

Aber Unkenntnis oder Erkenntnisverweigerung findet sich sogar bei ausgewiesenen Fachleuten. So bei Christof Rapp, dem Mitherausgeber des umfangreichen Werks Aristoteles-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung (Stuttgart-Weimar 2011). Darin hat er den Artikel zur Metaphysik, also zu dem so genannten Buch verfasst. In der Kommentierung der Einzelbücher I bis XIV hat das Buch XI das Pech, mit folgender Inhaltsangabe abgespeist zu werden. Ich zitiere vollständig: „Buch K (Kappa bzw. Buch XI) enthält lediglich Dubletten, Nachschriften, Zusammenfassungen (s.o)“ (S. 130). 

 

Kein anderes Einzelbuch wird so abgefertigt bzw. dem Interessenten madig gemacht. Ich kann natürlich nicht behaupten, dass Rapp das Buch gar nicht gelesen hat und dass er diese Auskunft nur überall abgeschrieben hat, denn die kann man überall abschreiben. Ein solches Handbuch ist ja auch dazu da, Leuten, die vielleicht Aristoteles lesen wollen, Hinweise zu geben. So aber wird nur das Nicht-Lesen von Buch XI propagiert und weiterverbreitet. Wiederholung des Nicht-Lesens. Eine pädagogische Katastrophe. 

 

Noch eine andere ähnlich gravierende Fehlleistung von Rapp ist mir aufgefallen. Beim Buch IX macht er kurze Angaben zu jedem Kapitel: von 1 bis 9. Das Kapitel 10 fällt einfach weg. Vielleicht weil dieses Kapitel einen Themenwechsel vollzieht: es handelt nicht mehr von Vermögen-Verwirklichung – sondern nach einer kurzen und originellen Zusammenfassung des ontologischen Erkenntnisprogramms – handelt es von einer neuen Dimension innerhalb der Ontologie, nämlich von der Polarität wahr-falsch. Damit gibt Rapp zu erkennen, dass er, obwohl er das aristotelische Schwanken zwischen Ontologie und Theologie einigermaßen richtig einschätzt, die komplexe Durchführung der Ontologie mit ihren verschiedenen vier oder fünf Polaritätsachsen überhaupt nicht genau erfasst. Auch eine Art Offenbarungseid.

 

Aus seiner pauschalen Fehlleistung in bezug auf Buch XI können wir aber, wenn wir schlau sind (oder François Jullien folgen), profitieren, indem wir als Leser ein zusätzliches Erkenntnisinteresse entwickeln und diese so genannte Metaphysik als Text betrachten, als Textoperation, als mehr oder weniger, vor allem weniger geordnete Textmasse - die tatsächlich mit „Dubletten, Nachschriften, Zusammenfassungen“ arbeitet, den Text ausbaut, in die Länge zieht, speziell die in Aussicht gestellte Theologie hinausschiebt und hinausschiebt, obwohl doch wie es scheint das ganze riesige Gesamtwerk so genannt wird. Die Ontologie, die von ihm nicht, noch nicht titulierte, ist offensichtlich auch noch gar nicht halbwegs vollständig entfaltet worden und darum zieht sie als Erkenntnisaufgabe oder -problem den Text hinaus, damit vielleicht noch die eine oder andere Wiederholung oder Abwandlung, Variation oder Modulation einen Wörterfunken oder Geistesblitz erzeugt, der vielleicht sogar die Ontologie aus dem Prokrustesbett einer sogenannten theoretischen Wissenschaft herausreißt und ihr noch andere, noch anderere Dimensionen eröffnet. Aristoteles weiterschreiben durch langsames, diskussives und notfalls polemisches Weiterlesen.

 

Das Buch XI, das von Christof Rapp dermaßen auf Null reduziert worden ist, wird hier seit dem 27. Mai 2020 in bisher elf Sitzungen gelesen und zum Nachlesen dokumentiert und zuletzt dürfte sich gezeigt haben, dass der Text, obwohl er nein weil er altbekannte Begriffe und Fragestellungen wieder und wieder hin und her wendet, sehr wohl neue Klarstellungen, auch neue Begriffsbildungen erzeugt.

 

In Abschnitt 7 ist ausgehend von der Gesamtklassifikation der Wissenschaften die Frage ventiliert worden, wie die „dritte“ theoretische Wissenschaft zusätzlich zu Physik und Mathematik zu bestimmen sei. Offenbar reichen Physik und Mathematik nicht aus, um die ersten Prinzipien und Ursachen aller Seienden zu erkennen, und da entstand bei Aristoteles der Eindruck, es müsse eine Wissenschaft von einem Göttlichen produziert werden, um dem Streben nach Wissen auf die Sprünge zu helfen. So ist schon im Buch I das Projekt einer „gesuchten Wissenschaft“ skizziert worden, die später als „Theologie“ bezeichnet wird. 

 

Aber seine Fragestellung ist so weit gespannt, dass sie mit einer Wissenschaft von einem noch so hohen Gegenstand keine befriedigende Antwort finden kann. Daher baut Aristoteles das Projekt der neuen, der zusätzlichen Wissenschaft so um, dass sie näher an die schon bestehenden Wissenschaften angeschlossen wird und da gibt es ja nicht nur Physik und Mathematik sondern auch völlig andere Wissenschaftsgattungen, die nicht auf die Betrachtung von Gegenständen festgelegt sind, sondern sich mit der Problematisierung, womöglich mit der Steigerung menschlicher Tätigkeiten beschäftigen. Mit dem  Denken beschäftigen sich die logischen Wissenschaften, die von Aristoteles auch die analytischen oder topischen genannt werden (dazu gehört die Kategorienlehre); mit dem Hervorbringen schöner und nützlicher Dinge, zum Beispiel guter Reden und Dichtungen und Häuser und Gesundheit beschäftigen sich die verschiedenen poietischen Wissenschaften; mit Überlegungen und Entscheidungen, die zu erträglichem oder gar erfreulichem Menschenverhalten führen, beschäftigen sich die praktischen Wissenschaften Ethik, Politik, Ökonomik.

 

Zwischen allen diesen Wissenschaften, die zu einem erheblichen Teil von Aristoteles selber begründet worden sind, irgendwo zwischen und unter und über ihnen schwebt ihm das Desiderat einer zusätzlichen Wissenschaft von den ersten Prinzipien vor. Eine neuen Wissenschaft, die allerdings auch an viel ältere Wissensbestände wie Göttergeschichten, Mythen und Weisheit anknüpfen soll, jedenfalls deren Wissensleistungen nicht einfach vergessen und verwerfen sondern womöglich erneuern und bewahren soll.

 

Diese Wissenschaft ist so neu, dass sie gerade erst jetzt, im Verlauf dieser jetzt von uns gelesenen Textmasse entsteht und in deren Buch XI anscheinend noch nicht abgeschlossen ist. Denn wir sehen ja, aber nur wenn wir lesen und sehen, dass hier wieder einmal, wie schon im Buch VI, der Name „Theologie“ für diese Wissenschaft vorgeschlagen wird. Aber es ist offensichtlich, dass dieser Name kaum passt, da die umfangreichsten Ausführungen des Gesamtwerks keineswegs in die Richtung eines höchsten und stärksten Wesens gehen sondern eher in die gegenteilige Richtung vielfältigster Seinsmodalitäten, die insgesamt so allgemein sind, dass sie bis zum Niedrigsten, zum Gemeinen, zum Nichtigen gehen. 

 

Diese Erkenntnisrichtung, die später den Namen „Ontologie“ bekommen hat, nimmt es auf sich, auch die schwächsten Seinsmodalitäten, und zu denen gehören die Akzidenzien, die sogar von Aristoteles dem Nicht-Seienden zugerechnet und aus der Wissenschaft ausgeschlossen worden sind, in eine neuartige Wissenschaft zu integrieren. Die Ontologie lässt sich zur Meontologie herab, verwandelt sich partiell in sie. Diese revisionäre Wissenschaft mutet Aristoteles sich selber zu, wenn er sich vornimmt, „zu versuchen zu sehen, was eigentlich das Akzidens ist“ – von dem es gar keine Wissenschaft geben kann. (1964b 30f.) Das Wissensstreben muß so einen paradoxen Sehversuch auf sich nehmen, damit so eine komplexe Wissenschaft realisiert werden kann, für die der Titel „Theologie“ bestimmt nicht ausreicht.

 

 

Auch in dem oben erwähnten weil von Rapp ignorierten Kapitel 10 von Buch IX bekommt die Programmatik der Ontologie eine deutliche Schlagseite zur Meontologie – denn da heißt es, dass „das Seiende und das Nicht-Seiende teils nach den Formen der Kategorien, teils nach deren Vermögen oder Verwirklichung oder deren Gegenteil, teils aber das Seiende im eigentlichsten Sinne das Wahre oder Falsche ist ...“ (1051b 34ff.)

 

Die Wissenschaft vom Seienden als seienden ist so großzügig und subtil, dass sie diverse Formen des Nicht-Seienden ebenso einbezieht wie das Falsche (was immer das sein mag, siehe dazu das Stichwort im Begriffslexikon im Buch V).

 

Im Abschnitt 9 kommt Aristoteles auf eine andere Dimension der Ontologie zurück, nämlich auf die im Buch IX ausführlich entfaltete Polarität von Wirklichkeit und Möglichkeit, wobei diese im Kontrast zu jener ebenfalls in die Nähe oder den Anschein von Nicht-Seiendem gerät. Daß Aristoteles diese Modalität extra ins Auge fasst und mit einem positiven Begriff, nämlich Möglichkeit, bezeichnet, darin sehen viele – so auch Rémi Brague (wie Gerhard Weinberger bemerkt) – eine der entscheidendsten Leistungen von Aristoteles, der gerade nicht wie Parmenides oder Platon oder wohl auch manche Moderne bloß einen bloß negativen Begriff eingesetzt hat, womit jedenfalls in der Moderne ein Faszinationseffekt erreicht werden könnte.

 

Hier geht es allerdings um Wirklichkeit und Möglichkeit als Bedingung für Bewegungen, d. h. für Veränderungen, die immer an Dingen stattfinden und somit in den Formen der Kategorien des Seienden. Hier werden also zwei Dimensionen der Ontologie zusammengeführt, was der Struktur dieser mehrdimensionalen Wissenschaft vollkommen entspricht.

 

Das Beispiel, das Aristoteles jetzt wählt, ist das des Hausbauens, das sich auffallend häufig durch die Metaphysik zieht, womit er die bei uns verbreitete Vorstellung von antiker Architektur eher enttäuscht. Daß es nur ein Beispiel ist, unterstreicht er sofort mit der Bemerkung, er könnte ebenso gut vom Lernen, vom Heilen, vom Gehen, vom Springen, vom Altern, vom Reifen sprechen. Alles dies läuft bei ihm unter „Bewegung“, womit keineswegs nur Ortsveränderung gemeint ist, sondern auch Quantitäts-, Qualitäts-, Wesensveränderung. Wenn das Erbaubare, das ein Mögliches ist, einen Verwirklichungs-, oft sagt Aristoteles auch einen Vollendungsanstoß bekommt, setzt die Bautätigkeit ein, die eine Bewegung, eine Veränderung ist. Dann ist die Bewegung selber eine Vollendung. Eine vorherige Vollendung liegt aber bereits in der Existenz der Baumaterialien, welche die Möglichkeit zur Bautätigkeit enthält. Werden die Baumaterialien, sofern sie bewegbar sind, der Vollendung nach verwirklicht, kommt es zum Bauen. 

 

Dieses „sofern“, das in anderen syntaktischen Konstruktionen durch „als“ ausgedrückt wird, bezeichnet eine wichtige Analyse-Funktion im aristotelischen Denken, heute wird sie auch „qua-operator“ genannt.

 

Was dieser qua-operator in der Formel das „Seiende als seiendes“ bedeutet, lässt sich vielleicht mit der Ersetzung durch die Formel das „Seiende und Nicht-Seiende“ klären.

 

 

Walter Seitter

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