τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 29. April 2020

In der Metaphysik lesen (1056b 15 – 1058a 9)


Die zuletzt gelesenen Zeilen (1056b 4-9) haben nicht so viele Kommentare, Repliken oder Anfragen bekommen, wie sie verdient haben.

Das Eine, das das offizielle Thema des Buches X zu sein scheint, ist ja das ontologisch Eine, also das Einheitliche und womöglich Unzerlegbare (Individuum). Wenn Aristoteles ihm das Viele oder die vielen als Gegenteil gegenüberstellt, dann tauscht er unter Hand das ontologisch Eine gegen das numerisch Eine aus. Denn das Gegenteil des ontologisch Einen ist nicht das Viele, sondern das Vielheitliche, das Uneinheitliche, das Zerlegbare  (Dividuum), jedenfalls Un-Eine. Doch davon ist hier keine Rede.

Vielmehr macht Aristoteles, wenn er bei den Vielen angekommen ist, auf dem Absatz kehrt, schaut zurück zum Einen, identifiziert es als Zahlwort und macht ihm das zweifelhafte Kompliment, ihm das unbestimmte Zahlwort „wenig“ an den Kopf zu werfen.

Die Einführung der unbestimmten Zahlwörter „viel“ und „wenig“ ist der sprachliche Trick, mit dem Aristoteles die Zahlen, die ja diskrete Quantenangaben leisten, durch stetige Quantitätsangaben zu ersetzen, jedenfalls supplementär zu begleiten.

Wenig, manch, viel, endlich oder unendlich viel, all – das sind unbestimmte Zahlwörter, die man parallel zu bestimmten Zahlwörtern einsetzen kann – etwa um solche zu kommentieren, einzuschätzen oder abzuschätzen. Je nachdem, worum es sich handelt, sind zwei ganz schön viele (1056b 7f.). Zehn oder zwanzig können, wenn es sich um Preisangaben für bestimmte Dinge handelt, als wenig wahrgenommen werden. 

Aristoteles erlaubt sich nun die Frechheit, das Eine, das ursprünglich, zum Beispiel pythagoreisch, als etwas sehr Erhabenes galt, und bei ihm selber, nämlich ontologisch, eine ansehnliche Qualität verkörperte, als weniges zu deklassieren.

Noch dazu mit einer Formulierung, die achtloser, auch elliptischer, nicht sein könnte: nichts ist weniger als ..... Gemeint war: als eines .... also das Eine ist das Wenigste.

Aber diese Formulierung könnte streng genommen auch etwas anderes meinen: nichts ist noch weniger als ... eines. Was natürlich stimmt.

Das würde heißen, dass durch diese doppeldeutige Formel das Eine und das Nichts in eine Konkurrenz hineingezwungen werden, in der sie darum kämpfen müssen, wer von den beiden das Wenigste sein muß oder kann oder darf.

Zwar behauptet Aristoteles, dass eins keine Zahl ist und dass zwei die kleinste Zahl ist, womit er sozusagen in der altgriechischen Tradition verbleibt. Aber hier geht seine Rede doch in die Richtung, dass eins die kleinste Zahl ist. Sodaß insgesamt die Frage auftaucht, ob die Zahlenreihe mit eins oder mit zwei anfängt. Doch drückt er sich so aus, als würde er schon auf die moderne Ansicht vorgreifen, derzufolge es eine bloße Konventionsfrage ist, ob die Zahlenreihe mit ein oder mit kein sprich null anfängt – ohne Konsequenzen für diese Zahlenreihe. Beziehungsweise so, dass das Eine in eine Art Mitte zwischen nichts und vielen gerät.

Die Ontologie-Achse, deren Grundwort das „seiend“ ist, inkludiert ja auch das „nicht-seiend“. (1051b 34) Wenn das Seiende und das Eine konvertibel sind, könnte dann nicht auch das Eine, jedenfalls das Numerische, irgendwie das Keine inkludieren? Jedenfalls supponiert es es.

Oder aber man bleibt hartnäckiger als Aristoteles selber beim ontologisch Einen, dann würde das Eine bis zum Un-Einen reichen, was eher plausibel sein könnte als seine Annäherung an das Keine.

Nun wird man aus den hier zusammengestellten aristotelischen Aussagen nicht den Schluß ziehen können, Aristoteles vertrete irgendeine geheimnisvolle Lehre von der Koinzidenz von Sein und Nicht-Sein oder von Einem und Nicht-Einem. Wohl aber die schon öfter ausgesprochene Vermutung, in seiner Ontologie sei eine ausgeprägte Aufmerksameit, ja eine Stoßrichtung zum Minimalen am Werk (wofür „verstümmelt“ als ein andersartges Symptom schon aufgefallen ist). Was voraussetzt, dass seine Ontologie eine Unternehmung, eine Aktion ist – und zwar eine künstliche, eine kontingente. Was wiederum nicht ausschließt, dass in seiner Ontologie auch die Stoßrichtung zum Maximalen, jedenfalls zum Vollständigen und Vollkommenen ebenfalls am Werk ist (die er von Vorgängern wie Parmenides und Platon übernommen haben wird).

Aristoteles hat das Eine immer sozusagen von außen besprochen – anhand von Unterscheidungen, Gegenüberstellungen, die so weit gehen, dass er zwei ganz verschiedene Wörter für das Eine verwendet, nämlich das Eine und die Monade, und beide Wörter setzt er auch in den Plural.

In den folgenden Abschnitten wendet sich Aristoteles den logischen Ordnungsbegriffen Art und Gattung zu, die er im Abschnitt 7 nicht auf bestimmte Wesen bezieht, sondern auf die Palette der Farben, die, wie er im Anschluß an Platon behauptet, sich als Mittlere zwischen Weiß und Schwarz ergeben – mit unterschiedlichen Verteilunen von Mehr und Weniger. Alle Farben gehören zur Gattung „Farbe“ und innerhalb dieser Gattung spielen sich die farblichen Veränderungen ab. (1057a 18 – 1057b 33). [1]

Im Abschnitt 8 geht Aristoteles auf den Gattungsbegriff ein, der für ihn sozusagen Standard ist – nämlich auf die Gattung der Lebewesen. Innerhalb dieser Gattung unterscheidet er wie schon öfter zwei Arten, nämlich Pferd und Mensch. Das Gemeinsame zwischen den beiden ist die Gattung Lebewesen (zoon).

Und man kann sich fragen, warum Aristoteles diese These, die er schon x mal (z. B. im Buch VII) ausgeführt hat, hier im Buch X, dessen Hauptthema eigentlich nicht die Logik des Wesens ist, noch einmal vorträgt.

Damit berühren wir eine Eigentümlichkeit des aristotelischen Stils, die besonders in diesem Buch auffällt und entweder für Verwirrung oder für Langweiligkeit oder für beides sorgen kann. Aristotels wiederholt, rekurriert wieder und wieder. Er variiert oder aber er kontradiziert sich selber.

Hier tut er das, indem er behauptet, der Unterschied zwischen dem Pferd und dem Menschen sei ein Unterschied im Gemeinsamen, also in der Gattung. Der Unterschied sei ein „Gattungsunterschied“, der die Gattung selber verschieden macht. (1058a 8)

Was sonst „spezifische Differenz“ heißt, wird merkwürdigerweise nun „Gattungsdifferenz“ genannt und damit wird eine Aussagerichtung eingeschlagen, die das Verhältnis zwischen Gattung und Art(en) modifiziert. Es wird der  Differenz zwischen den Arten eine größere Wirkmächtigkeit zugeschrieben: sie fügt nicht bloß der Gattungsgemeinsamkeit ein paar zusätzliche Differenzierungen hinzu, sondern sie greift tief in sie ein, hier in die Animalität, die damit von Grund auf geteilt wird, die in sich selber konträr polarisiert wird: zwischen dem Pferdhaften und dem Menschenhaften. Dies nicht etwa aufgrund einer Sonderstellung des Menschen (so etwas wie eine „Krone der Schöpfung“ kennt Aristoteles nicht).

Man könnte sich sogar fragen, ob damit die Univozität des Begriffs „Lebewesen“ in Frage gestellt wird, da er als bloßer Gattungsbegriff notwendigerweise in diverse Arten zerfallen müsse. Andererseits würde damit die innere Einheit einer jeden Spezies gefestigt, da sie nicht aus „genus proximum“ und „differentia specifica“ zusammengestückelt wäre (wie es die Definitionslehre seit Aristoteles verlangt).


Walter Seitter





[1] Timaios 67e ff.. Platon erklärt hier den interessanten Sonderfall des Durchsichtig-Unsichtbaren, in dem die Farbe ausfällt. Diesen Sonderfall, der in der Schwärmerei von der „Transparenz“ ignoriert wird, habe ich gewürdigt in Walter : Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen (Wien 1997): 62ff, 

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