Die
zuletzt gelesenen Zeilen (1056b 4-9) haben nicht so viele Kommentare, Repliken
oder Anfragen bekommen, wie sie verdient haben.
Das
Eine, das das offizielle Thema des Buches X zu sein scheint, ist ja das
ontologisch Eine, also das Einheitliche und womöglich Unzerlegbare
(Individuum). Wenn Aristoteles ihm das Viele oder die vielen als Gegenteil
gegenüberstellt, dann tauscht er unter Hand das ontologisch Eine gegen das
numerisch Eine aus. Denn das Gegenteil des ontologisch Einen ist nicht das
Viele, sondern das Vielheitliche, das Uneinheitliche, das Zerlegbare (Dividuum), jedenfalls Un-Eine. Doch davon
ist hier keine Rede.
Vielmehr
macht Aristoteles, wenn er bei den Vielen angekommen ist, auf dem Absatz kehrt,
schaut zurück zum Einen, identifiziert es als Zahlwort und macht ihm das
zweifelhafte Kompliment, ihm das unbestimmte Zahlwort „wenig“ an den Kopf zu
werfen.
Die
Einführung der unbestimmten Zahlwörter „viel“ und „wenig“ ist der sprachliche
Trick, mit dem Aristoteles die Zahlen, die ja diskrete Quantenangaben leisten,
durch stetige Quantitätsangaben zu ersetzen, jedenfalls supplementär zu
begleiten.
Wenig,
manch, viel, endlich oder unendlich viel, all – das sind unbestimmte Zahlwörter,
die man parallel zu bestimmten Zahlwörtern einsetzen kann – etwa um solche zu
kommentieren, einzuschätzen oder abzuschätzen. Je nachdem, worum es sich
handelt, sind zwei ganz schön viele (1056b 7f.). Zehn oder zwanzig können, wenn
es sich um Preisangaben für bestimmte Dinge handelt, als wenig wahrgenommen
werden.
Aristoteles
erlaubt sich nun die Frechheit, das Eine, das ursprünglich, zum Beispiel
pythagoreisch, als etwas sehr Erhabenes galt, und bei ihm selber, nämlich
ontologisch, eine ansehnliche Qualität verkörperte, als weniges zu
deklassieren.
Noch
dazu mit einer Formulierung, die achtloser, auch elliptischer, nicht sein
könnte: nichts ist weniger als ..... Gemeint war: als eines .... also das Eine
ist das Wenigste.
Aber
diese Formulierung könnte streng genommen auch etwas anderes meinen: nichts ist
noch weniger als ... eines. Was natürlich stimmt.
Das
würde heißen, dass durch diese doppeldeutige Formel das Eine und das Nichts in
eine Konkurrenz hineingezwungen werden, in der sie darum kämpfen müssen, wer
von den beiden das Wenigste sein muß oder kann oder darf.
Zwar
behauptet Aristoteles, dass eins keine Zahl ist und dass zwei die kleinste Zahl
ist, womit er sozusagen in der altgriechischen Tradition verbleibt. Aber hier
geht seine Rede doch in die Richtung, dass eins die kleinste Zahl ist. Sodaß
insgesamt die Frage auftaucht, ob die Zahlenreihe mit eins oder mit zwei
anfängt. Doch drückt er sich so aus, als würde er schon auf die moderne Ansicht
vorgreifen, derzufolge es eine bloße Konventionsfrage ist, ob die Zahlenreihe
mit ein oder mit kein sprich null anfängt – ohne Konsequenzen für diese
Zahlenreihe. Beziehungsweise so, dass das Eine in eine Art Mitte zwischen
nichts und vielen gerät.
Die
Ontologie-Achse, deren Grundwort das „seiend“ ist, inkludiert ja auch das
„nicht-seiend“. (1051b 34) Wenn das Seiende und das Eine konvertibel sind,
könnte dann nicht auch das Eine, jedenfalls das Numerische, irgendwie das Keine
inkludieren? Jedenfalls supponiert es es.
Oder
aber man bleibt hartnäckiger als Aristoteles selber beim ontologisch Einen,
dann würde das Eine bis zum Un-Einen reichen, was eher plausibel sein könnte
als seine Annäherung an das Keine.
Nun
wird man aus den hier zusammengestellten aristotelischen Aussagen nicht den
Schluß ziehen können, Aristoteles vertrete irgendeine geheimnisvolle Lehre von
der Koinzidenz von Sein und Nicht-Sein oder von Einem und Nicht-Einem. Wohl
aber die schon öfter ausgesprochene Vermutung, in seiner Ontologie sei eine
ausgeprägte Aufmerksameit, ja eine Stoßrichtung zum Minimalen am Werk (wofür
„verstümmelt“ als ein andersartges Symptom schon aufgefallen ist). Was
voraussetzt, dass seine Ontologie eine Unternehmung, eine Aktion ist – und zwar
eine künstliche, eine kontingente. Was wiederum nicht ausschließt, dass in
seiner Ontologie auch die Stoßrichtung zum Maximalen, jedenfalls zum
Vollständigen und Vollkommenen ebenfalls am Werk ist (die er von Vorgängern wie
Parmenides und Platon übernommen haben wird).
Aristoteles
hat das Eine immer sozusagen von außen besprochen – anhand von Unterscheidungen,
Gegenüberstellungen, die so weit gehen, dass er zwei ganz verschiedene Wörter
für das Eine verwendet, nämlich das Eine und die Monade, und beide Wörter setzt
er auch in den Plural.
In
den folgenden Abschnitten wendet sich Aristoteles den logischen
Ordnungsbegriffen Art und Gattung zu, die er im Abschnitt 7 nicht auf bestimmte
Wesen bezieht, sondern auf die Palette der Farben, die, wie er im Anschluß an
Platon behauptet, sich als Mittlere zwischen Weiß und Schwarz ergeben – mit
unterschiedlichen Verteilunen von Mehr und Weniger. Alle Farben gehören zur
Gattung „Farbe“ und innerhalb dieser Gattung spielen sich die farblichen
Veränderungen ab. (1057a 18 – 1057b 33). [1]
Im
Abschnitt 8 geht Aristoteles auf den Gattungsbegriff ein, der für ihn sozusagen
Standard ist – nämlich auf die Gattung der Lebewesen. Innerhalb dieser Gattung
unterscheidet er wie schon öfter zwei Arten, nämlich Pferd und Mensch. Das
Gemeinsame zwischen den beiden ist die Gattung Lebewesen (zoon).
Und
man kann sich fragen, warum Aristoteles diese These, die er schon x mal (z. B.
im Buch VII) ausgeführt hat, hier im Buch X, dessen Hauptthema eigentlich nicht
die Logik des Wesens ist, noch einmal vorträgt.
Damit
berühren wir eine Eigentümlichkeit des aristotelischen Stils, die besonders in
diesem Buch auffällt und entweder für Verwirrung oder für Langweiligkeit oder
für beides sorgen kann. Aristotels wiederholt, rekurriert wieder und wieder. Er
variiert oder aber er kontradiziert sich selber.
Hier
tut er das, indem er behauptet, der Unterschied zwischen dem Pferd und dem
Menschen sei ein Unterschied im Gemeinsamen, also in der Gattung. Der
Unterschied sei ein „Gattungsunterschied“, der die Gattung selber verschieden
macht. (1058a 8)
Was
sonst „spezifische Differenz“ heißt, wird merkwürdigerweise nun
„Gattungsdifferenz“ genannt und damit wird eine Aussagerichtung eingeschlagen,
die das Verhältnis zwischen Gattung und Art(en) modifiziert. Es wird der Differenz zwischen den Arten eine größere
Wirkmächtigkeit zugeschrieben: sie fügt nicht bloß der Gattungsgemeinsamkeit
ein paar zusätzliche Differenzierungen hinzu, sondern sie greift tief in sie
ein, hier in die Animalität, die damit von Grund auf geteilt wird, die in sich
selber konträr polarisiert wird: zwischen dem Pferdhaften und dem
Menschenhaften. Dies nicht etwa aufgrund einer Sonderstellung des Menschen (so
etwas wie eine „Krone der Schöpfung“ kennt Aristoteles nicht).
Man
könnte sich sogar fragen, ob damit die Univozität des Begriffs „Lebewesen“ in
Frage gestellt wird, da er als bloßer Gattungsbegriff notwendigerweise in
diverse Arten zerfallen müsse. Andererseits würde damit die innere Einheit
einer jeden Spezies gefestigt, da sie nicht aus „genus proximum“ und „differentia
specifica“ zusammengestückelt wäre (wie es die Definitionslehre seit
Aristoteles verlangt).
Walter
Seitter
[1]
Timaios 67e ff.. Platon erklärt hier den interessanten Sonderfall des Durchsichtig-Unsichtbaren,
in dem die Farbe ausfällt. Diesen Sonderfall, der in der Schwärmerei von der
„Transparenz“ ignoriert wird, habe ich gewürdigt in Walter : Physik des Daseins. Bausteine zu einer
Philosophie der Erscheinungen (Wien 1997): 62ff,
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