Der Abschnitt
18 wirft bereits mit seiner Themenangabe einige Rätsel auf. Während alle
übrigen Abschnitte des „Wörterbuchs“ mit Substantiven tituliert werden, einige
wenige mit irgendwie adjektivischen Wörtern, stehen hier zwei von einer
Präposition deklinierten Pronomina, ein relatives oder interrogatives und ein
reflexives, obenan: „wonach, an sich“, oder: „woran, an ihm selber“. Die
beiden Ausdrücken gemeinsame Präposition lautet: kata – im Sinn
von „gemäß“, „aufgrund“, „an“, „nach“.
Es handelt
sich also um Präpositionalpronominalausdrücke, die mit dem Artikel to
substantiviert werden. Derartige Substantivierungen sind allerdings relativ
häufig eingeführt worden – und haben die spezifisch philosophische Sprache
hervorgebracht. Aristoteles etwa hat mit „to metaxy – das Zwischen“ den
Begriff „Medium“ geschaffen.[1]
Die beiden
Ausdrücke werden mit der Standardformel von Buch IV und V eingeführt: dass sie
„mannigfaltig ausgesagt werden“, also mit vielen Bedeutungen, flexibel
eingesetzt. Diese Flexibilität ist ein Kennzeichen des aristotelischen Denkens.
Es gibt nicht nur A – und alle anderen, z. B. B oder M oder X gibt es nicht.
Sondern es gibt A auf seine Weise, sozusagen A-artig, B gibt es wiederum anders
... Nicht nur dass B etwas anderes ist, sondern auch seine formale
Existenzweise ist eine andere: z. B. eine schwächere oder stärkere, eine
selbständige oder abhängige, eine nur abstrakte oder so.
Das „wonach“
und das „an sich“ nehmen überhaupt irgendwie schwache Positionen ein, nur
„formale“ – vergleichbar dem „als“ aus der berühmten Formel „das Seiende als
Seiendes“. Stehen sie dem „etwas“ oder dem „nichts“ näher? Valerie Deifel
erwähnt die Seinsart des „Virtuellen“. Bernd Schmeikal zitiert den Satz des
Parmenides (Fragment 8), wonach alles real ist, wovon eine Aussage gemacht
wird, alles Kognitive. Ein radikal konstruktivistischer Satz, da er der Aussage
eine unbeschränkte Realitätsschöpfung zugesteht? Die beiden Ausdrücke unseres
Abschnittes scheinen nicht echte Realitäten zu bezeichnen sondern nur als
Schlüssel zu fungieren, die man braucht, um den Zugang zu Realitätsaspekten zu
öffnen.
Folglich
„bezeichnen“ sie dann doch irgendwie alle Realitätsaspekte als da sind das
Wesen, das Gute, die Form, der Stoff, die Ursache – wie etwa die Seele. Die
Seele ist „Ursache“ des Menschen im Sinne von konstituierendem Bestandteil;
Aristoteles spricht hier ausdrücklich von „Teil“; was wiederum missverständlich
ist, denn sie ist kein Extrateil, der etwa irgendwo im Körper steckt oder gar
außerhalb des Körpers herumschwebt. Sie ist die mit dem Körper koextensive, ihn
gerade zu diesem Körper qualifizierende Formkraft. Dabei wirkt sie mehrstufig:
sie „bildet“ sozusagen plastisch die Körperteile aus, lässt sie wachsen, belebt
sie zu den jeweiligen Körperfunktionen, sie treibt einige Körperteile zu den
Strebungs- und Wahrnehmungsleistungen an, die sich zu Gefühls- und
Erkenntnisprozessen steigern.
Nach der
Sitzung höre ich – genau zu diesem Thema - in der Universität einen Vortrag von
Dory Scaltsas (Edinburgh): „Mind and Matter in Aristotle's Hylomorphic Soul“.
Er behandelt
das Thema anhand von zwei weit auseinander liegenden Beispielen: Haus und Zorn.
Dabei folgt er De anima, I, 403a. Schon die Tatsache, dass der Zorn,
eine Affektion der menschlichen Seele, parallel zum Haus, einem nach
prosaischer Auffassung seelenlosen, leblosen Gebilde, behandelt wird, sollte
uns verblüffen. Sie weist darauf hin, dass die für Lebewesen konstitutive Seele
bei den Lebewesen genau die ontologische Stelle einnimmt, die bei allen
irgendwie substanziellen Entitäten das Wesen, die Wesenheit, die Washeit, die
Form ausfüllt.
Sowohl der
Zorn wie das Haus werden nach Aristoteles von zwei unterschiedlichen
Wissenschaftlern betrachtet und definiert: vom Physiker und vom Dialektiker.
Der Physiker definiert den Zorn über körperliche Vorgänge: Sieden und Kreisen
des Blutes ums Herz; der Dialektiker bestimmt den Zorn als Streben nach
Wiedergutmachung eines Leides. Wieso „Dialektiker“? Das ist wohl eine
platonische Redensart, Dialektik als höchste und vollständigste Wissensart.
Wenige Zeilen davor hatte übrigens Aristoteles die „dialektische“ Redeweise als
unzureichend und leer abgetan.[2] Ich
würde die zweite Definition des Zornes als „ethische“ bezeichnen.
Und das Haus?
Das wird vom einen durch Steine, Ziegel, Hölzer definiert – wohl vom Physiker.
Vom anderen als schützender Ort, der Wind, Regen und Hitze abhält. Diese zweite
Definition erfasst den „Begriff“ des Hauses – und als Spezialist für den
Begriff gilt der Dialektiker. Aber jetzt wird nicht mehr so einer genannt,
sondern meines Erachtens viel plausibler der Kunstfertige, der Architekt. Und
Sokrates würde sehr plausibel sogar den Hausbewohner an die erste Stelle
setzen.
An dieser Stelle
möchte ich nicht ohne Sentimentalität anführen, dass meine Aristoteles-Lektüre
im Jahre 2000 eingesetzt hat: damals habe ich eine ganze „Physik des Hauses“
sozusagen in den Fußnoten der Metaphysik gefunden und zusammengetragen.
Hier aber im
Buch über die Seele stellt Aristoteles das Haus neben die menschliche Seele und
deren Affektionen. Und deutet damit das an, was ich im Aufsatz „Morphismus,
Energismus, Krypto-Animismus .... Eine postaristotelische Glosse“ ausgeführt
habe.[3] Alle
Wesen haben eine Wesenheit – das heißt so etwas Ähnliches wie eine Seele.[4]
Wie sieht nun
die Haus-Definition des Nicht-Physikers aus? Ist sie etwa möglichst
„immateriell“ – wie sie nach der heutigen Mode sein sollte?
Nein – sie ist
genauso „physikalisch“ wie die des Physikers: „Ort, der Wind, Regen und Hitze
abhält“. Lauter physikalische Begriffe, einige davon noch „kosmologischer“
(wenn überhaupt möglich) als die „Steine“ und „Hölzer“ der anderen Definition.
Auch „abhalten“ ist ein physikalischer Begriff, wie ich hoffentlich weiß.
Allerdings wird in dieser Definition auch die Zwecksetzung, die
menschenbezogene, immerhin leise angedeutet.
Ich bin jetzt
aufs Haus intensiver eingegangen als gestern Dory Scaltsas in seinem Vortrag.
Weil der große Komplex aus Bahnhof, Eisenbahn, Straße, Mauer, Haus, Wohnung
meine Philosophische Physik motiviert hat – und zwar bereits vor der
Aristoteles-Lektüre.[5] Eine
solche Lektüre ist ja nicht hauptsächlich dazu da, dass man Aristoteles
kennenlernt, sondern dazu, einen Kollegen zu finden, mit dem man, neben dem
man, sich für bestimmte Sachen interessiert. Die Kollegialität entspringt aus
oder führt hin zu: Sachlichkeit.
Aristoteles
nennt die Affekte wie den Zorn logoi enhyloi – in den Stoff eingelassene
Begriffe. Scaltsas verbalisiert das zu enmattering – ein Ausdruck, der
den Anklang an die christliche Formel von der „Inkarnation“ nicht vermeidet.
Er unterstellt
Aristoteles eine „psychosomatische Beschreibung“, womit die traditionelle
Bezeichnung „Hylomorphismus“ modernisiert wird. Und er unterstellt ihm
„Funktionalismus“, womit der traditionelle Begriff der „Teleologie“ in eine
neuere Sprache übersetzt wird.
Literatur:
David Charles:
Aristotle on Meaning and Essence (Oxford 2003)
Anna Marmdoro:
The Metaphysics of the Incarnation (Oxford 2011)
Dory Scaltsas:
Substances and Universals in Aristotle's
Metaphysics (Ithaca 1994)
PS.: Erstes
Wiener Philosophen-Café im Café Korb am Samstag, 12. Dezember 2015, um 16
Uhr : „Wer ist Person?“
Nächste
Sitzung am 13. Jänner 2016
Walter Seitter
Sitzung vom 9. Dezember 2015
[1]
Siehe
Walter Seitter: Die Geburt der Philosophie aus einem bestimmten Artikel, in: skug.
Journal für Musik 7-9 (2012)
[2]
Im Buch
IV haben wir gesehen, dass Aristoteles sowohl die Dialektiker wie auch die
davon unterschiedenen Platoniker geradezu als Todfeinde des Philosophen
stigmatisiert.
[4]
Explizit
hat Aristoteles einem Artefakt wie der Tragödie gleichsam eine Seele zugesprochen
und ihm abverlangt, wie ein Tier wirken zu sollen. Siehe Walter Seitter: Poetik
lesen 2 (Berlin 2014): 94ff., 100ff.
[5]
Siehe
Walter Seitter: Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der
Erscheinungen (Wien 1997); Physik der Medien. Materialien, Apparate,
Präsentierungen (Weimar 2002)
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