τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 2. Dezember 2023

In der Metaphysik lesen (1092a 18 - 1092b 29)

30. November 2023

 

Im letzten Protokoll habe ich die Vermutung geäußert, daß die zuletzt gelesenen Aussagen in 1091b 15ff. sich auf dasselbe „Prinzip“ beziehen wie die Aussagen in Buch XII (1072b 14ff.). Wenn das stimmt, würden diese Passagen zusammengenommen nicht nur eine recht klare Definition des „ersten Prinzips“ liefern sondern sogar eine reiche und dichte Beschreibung desselben - eine „Theographie“. 

 

Damit, daß Aristoteles dieses Prinzip auch mit dem religiösen Wort „Gott“ benennt, muß man sich abfinden, auch wenn man mit dem Wort Schwierigkeiten hat.

 

Dazu kommt die überraschende Tatsache, daß auf dem Handy das von mir eingefügte Foto (zur eigentlich unmöglichen Illustrierung des Prinzips) nicht erschienen ist sondern nur durch eine Leerstelle anstelle des Fotos nicht-markiert ist. Sophia Panteliadou vermutet dazu, die Computertechnik - KI ? - habe da als Zensurinstanz eingegriffen. Eine Vermutung, die dem Sujet des Fotos recht nahekommt, denn es zeigt ein Schattenbild einer fragmentarischen Körperkontur und es stammt aus der selben Motivreihe wie schon einige früher eingeschaltete Fotografien.

 

Der Ausfall des eigentlich ohnehin unmöglichen Bildes bestätigt die Eigenart dieses Bildes und rückt es in die Nähe des sogenannten „Realen“ im Sinne von Jacques Lacan, welches wiederum am vorletzten Montag im Vortrag von Claude Duprat (Paris) thematisiert worden ist, der es in einen Zusammenhang mit „einem Neuen Signifikanten“ gerückt hat, das heißt mit diversen konkreten Zeichen, denen allerdings kein Sinn entspricht. Zu diesen konkreten Zeichen werden auch die Kalligramme der chinesischen Poesie gezählt, die immer visuell sind. Insofern könnte da auch „mein“ Foto so ein Signifikant sein - ein unmöglicher aber wirklicher.

 

Jacques Lacan hat übrigens den gesamten Roman Ulysses von James Joyce einem solchen „neuen Signifikanten“ angenähert . Und seine Äußerungen zur aristotelischen Metaphysik, wohlgemerkt zu dem Buch Metaphysik, das ich jetzt seit dem Jänner 2011 hartnäckig lese, und die ich in meinem Aristoteles-Buch zitiere, sie stammen vom 15. Dezember 1971, gehen in eine ähnliche Richtung. Er empfiehlt die Lektüre der Metaphysik, betont aber, daß sie - die Lektüre - nicht leicht ist, weil sie - die Metaphysik - ziemlich verrückt ist.[1]

 

 

Ich aber empfehle die Lektüre meines Aristoteles-Buches, das aus den Mittwoch-Protokollen der Jahre 2011 bis 2018 zusammengesetzt ist und somit eine Aristotelographie neuer Machart darstellt.

 

Was nun meine konkrete Frage betrifft, ob die beiden genannten Passagen in Buch XII und in Buch XIV sich auf dasselbe Objekt, nämlich Prinzip beziehen, so setzt sie voraus, daß es einen Fragesteller bzw. Leser gibt, der beim Lesen im Buch XIV sein eigenes Lesen im Buch XII noch nicht vergessen hat sondern sich zurückerinnert - also die beiden Stellen zusammenliest, zusammenschaut, zusammenversteht. Dieses Zusammenlesen unterstütze ich durch die Anfertigung der Protokolle und bis zum Buch VI sind die Protokolle schon im Buch erschienen, im eben genannten.

Warum hat Aristoteles die beiden Stellen nicht selber aufeinander bezogen und gesagt - "wie ich neulich schon ausgeführt habe" oder so ähnlich? 

Vielleicht weil er den Text nicht wirklich zu Ende redigiert hat, weshalb wir ihn - vermutend, fragend - zu Ende lesen sollten, ich meine: müssen. Natürlich nur, wenn wir wollen und können. Wenn nicht, dann eben nicht.

 

Ein Buch zu Ende lesen - das nicht oder nicht sicher zu Ende geschrieben worden ist. Ist das möglich und wenn ja - wie?

 

Wir könnten die obige Frage auch negativ beantworten - weil die beiden Stellen eben unterschiedlichen Kontexten angehören oder dergleichen.

 

Einen Text zu Ende lesen, der nicht zu Ende geschrieben worden ist - im 4. Jahrhundert, nachdem er im selben 4. Jahrhundert wohl doch irgendwie zu Ende gesprochen worden sein dürfte. Einen Text, der im 1. Jahrhundert redigiert worden ist, aber offensichtlich so unvollendet.

 

Der Text hat irgendwie drei Jahrhunderte zu seiner „Entstehung“ gebraucht. Dazu sind dann noch ungefähr zweiundzwanzig Jahrhunderte mit Lesen,Kommentieren, Übersetzen, Bewundern, Vergessen, Verabscheuen und und und dazugekommen.

 

In seinem Text äußert sich Aristoteles nur selten zu den Umständen oder Modalitäten seiner Textproduktion, die zunächst wohl als mündlicher Vortrag vor Zuhörern stattgefunden hat. Im Buch II erklärt er dazu, der Vortragende sollte sich überlegen, ob er seinen Stoff so oder so darbieten soll. Er deutet an, daß der Vortrag besser oder schlechter ausfallen kann - womit er seine eigene Kritisierbarkeit in den Raum stellt. 

 

Nach der erwähnten Passage im Buch XIV geht er zur Diskussion seiner These und zur Kritik gegenteiliger Ansichten über - die hauptsächlich pythagoreischer und platonischer Herkunft zu sein scheinen und die, wie er behauptet, zu so absurden Folgerungen führen, daß das Schlechte mit dem Guten letzten Endes in eins fallen muß.

Der theoretische Faden seiner Polemik besteht - wie schon seit dem Beginn des Buch XIII! - in der Frage nach dem ontologischen Status der mathematischen Gegenstände - Zahlen und geometrische Größen. 

 

Zuletzt die Frage, wie die Zahl „aus“ den Prinzipien hervorgehe. Etwa durch Mischung?

 

Nein, nicht durch Mischung. Es gibt auch andere Weisen der Zusammensetzung. Das Wort „ja“ ist aus den beiden Buchstaben

 

 

          J               A

 

zusammengesetzt. Wäre es eine Mischung aus den beiden Buchstaben, dann wäre es egal, welcher Buchstabe am Anfang steht oder ob die beiden über- und untereinander stehen oder liegen oder schräg lehnen oder ineinander verkrallt sind. Das Wort „ja“, so klein es ist und anscheinend fast bedeutungslos, so muß es doch seine beiden Elemente als unterschiedene bewahren und richtig positionieren.

   

Auf die richtige thesis, Position der beiden kommt es an.

 

Das ist jetzt nur eine Analogie, aber eine gute, weil anschauliche, für das Zustandekommen der Zahl aus dem Einen und der Menge, die als unterschiedene Größen gedacht werden - von dem „Denkenden“.

 

Damit benennt Aristoteles nicht nur sich selber, sondern jedwede(n), der oder die wirklich denkt (nicht unbedingt wahrsprechend aber immerhin ernsthaft) - im Unterschied zu denjenigen, die leichtfertig oder hartnäckig unsinnige Behauptungen aufstellen oder absurde Schlussfolgerungen nahelegen, die sie dann nicht einmal auszusprechen wagen. Die erwähnt oder referiert oder beschimpft er öfter mit oder ohne deutliche Zuordnungen.

 

Mit „dem Denkenden“ meint er auch den Hörer (oder Leser), den er sich wünscht, nämlich denjenigen, der mitdenkt. Das heißt auch: Aristoteles „wertet“!  

 

Der Leser, den Aristoteles sich wünscht, ist nicht derjenige, der, wenn er im Buch XIV liest, schon wieder alles vergessen hat, was er im Buch XII - womöglich auch im Buch IV - gelesen hat.

 

Alles sorgfältig vergessen - das mag irgendeiner Weisheitslehre entsprechen. Ich weiß nicht genau, welcher.

 

Der Ausdruck „der Denkende“ ist mir hier aufgefallen, weil er ungefähr zum ersten Mal hier vorkommt. Aber eigentlich jederzeit vorausgesetzt, aufgerufen, eingeladen, angefragt ist. 

 

Zum denkenden Lesen gehört, daß man aufmerksamer wird, wenn im Text etwas auffällt.

Und weil mir das aufgefallen ist, rede ich davon. Wovon soll ich sonst reden - als Aristoteles-Leser?

 

Als Leser sollte man zum Gelesenen auch etwas sagen können, vielleicht schreiben können. Und zwar in der eigenen Muttersprache - und nicht etwa bloß die griechischen Wörter griechisch nachsprechen.

Der „Denkende", der noon (mit weichem Akzent auf dem zweiten, dem langen o), ist mit einigen Wörtern, die wir hoffentlich noch nicht vergessen haben, etymologisch und semantisch ganz eng verwandt: mit dem nous, das ist der spezifisch menschliche Seelenteil, und mit der noesis noeseos, das ist ein Attribut des „Prinzips“, desselben (Buch XII).

 

Denkend wird der Mensch genannt, der den noetischen Seelenteil nicht vergißt und vernachlässigt, sondern aktiviert.

 

Weil wir uns dem Ende des Buches Metaphysik nähern, müssen wir auf den letzten Leseseiten die Aufmerksamkeit erhöhen, die Erinnerungen wachrufen, das Wissen aktivieren – jetzt fällt die Entscheidung, ob die dreizehn oder wieviele Lesejahre nur ein komischer Zeitvertreib gewesen sind oder eine langwierige philosophische Tätigkeit, eine Leistung.

 

Wer jetzt diese Anspannung verweigert, der bekommt von Aristoteles den Titel νοων nicht zugesprochen. Ein schöner kleiner Titel, wenn man ihn mit griechischen Buchstaben schreibt- womöglich auch mit Zirkumflex auf dem Omega. 

 

 

Walter Seitter



[1] Siehe Walter Seitter: Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I-VI) (Freiburg-München 2018): 43.

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