τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 17. September 2021

In der Metaphysik lesen * Ponge – Sonne VI

15. September 2021

 

 

„In unseren Breiten“ bewegt sich die Sonne - geozentrisch gesehen - von links nach rechts und ebenda verläuft unser Schreiben wie unser Lesen von links nach rechts. Ponge bezieht diese beiden Bewegungsverläufe aufeinander und gelangt auf diese Weise zu einer erweiterten Physik, die er dann auch noch in eine Physio- und Psychologie umschlagen läßt. 

 

Zur Sonne: „Doch ihre Kraft, ach, wächst immer mehr, blendet meinen Verstand, und mir bleibt bald nur mehr die Versuchung, sie als die intensive Lichter- und Ideenquelle zu definieren, die vormittags im vorderen linken Lobus meines Kopfes funktioniert. Und jetzt der Taumel. O SONNE, monströse Freundin, rothaarige Hure, indem ich deinen haarsträubenden Kopf in meinem linken Arm halte, will ich meine Füllfeder in dich tauchen und mit meiner Tinte, unter dem langen Schenkel dieses Nachmittags, dich überschwemmen, aufspürend, von der rechten Seite kommend, die Mitte deines Geschlechts.“ (658)

 

Die Sonne rückt, unter dem Blick auf die elliptische Umlaufbahn der Erde, aus der heliozentrischen Perspektive ins Exzentrische. Das (entstehende) Buch kreist um die Sonne, nicht nur wie die Erde, sondern auf dem Erdball….  Das Geheimnis liegt in der Beschreibung der Sonne, im Sonnenwort, im Buch (verkapselt) … Bleibt noch zu sagen, daß die besten Messungen im Hinblick auf die Sonne der kleine Planet EROS geliefert hat, der zu gewissen Zeiten der ERDE ziemlich nahe kommt: bis auf ungefähr 17 Millionen Kilometer.“ (671)

 

„Daß die Sonne unter der Gestalt ihres Namens, der dieser Studie von der ersten Zeile an einverleibt ist, von selber sich am Horizont des Textes zeigt, sodann allmählich aufzusteigen scheint, wie man es hier zum ersten Mal in der Literatur sieht, um alsbald links oben zu erstrahlen.“ (672)

 

Am 4. Januar 1954 bemüht Ponge das Wort für Titel, das im Französischen den Buchstaben l gegen den Buchstaben r ausgetauscht hat und daher Titer lautet, wobei auch das Verb titulieren die Form titrieren angenommen hat, welches wiederum die zusätzliche Bedeutung kontrollieren (nämlich das Titulierte auf seine Berechtigung zur Führung des Titels hin untersuchen – etwa eine Münze auf ihren Feingehalt hin) derart, daß er auch das Papier zweimal schräg in die Schreibmaschine eingespannt hat, um drei Zeilen aus der Horizontalen in Aufstieg und Abstieg aufzubrechen oder aufzuwölben, nämlich die Zeilen, die ich in der Horizontalen hinschreibe:

 

„Die Sonne tituliert (titriert) – den Lauf der Natur

 Sonne als durchlaufender Titel (Titer) der Natur

wie sie sich am Horizont der Natur erhebt und dann niedersinkt zur Signatur …“ (674)

 

 

„im Verhältnis zur Natur 

verfügt die Sonne über alle Qualitäten eines Titels.

Sie ist (in jedem Sinn) ihr Chef und ihr Schlüssel. 

Sie resümiert sie. Sie ist das Wort, das sie verblüfft.

Sie erschafft sie. Sie klärt sie auf.

Sie ist ihr Erinnerungsstichwort. Ihr einsilbiger

Slogan. Sie betäubt sie.“ (676)

 

„Sonne, Radnabe, Kaskade:

                 Kettenpumpe oder Noria.“ (678)

 

„Die Sonne

 

wir anerkennen … 

       vernünftigerweise

 

Da wir keine Chance haben

logisch (oder analogisch) unsere Sonne zu gestalten

da sie in Wahrheit erstens  

eine unmögliche Sache ist, zugleich unförmig und

blendend; zweitens eine  Sache von allerhöchster, 

von exzessiver Wichtigkeit; drittens ist sie das metaphysische Objekt

schlechthin: unser Schöpfer und unsere Bedingung … Man weiß nicht, wo man sie fassen könnte,

                                                      womit man sie vergleichen könnte

 

Mit welchen Bezeichnungen kann man ihr gerecht werden?

Auf welche Temperatur müssten die Wörter gebracht werden, das Wort, das man für sie einsetzt? Welche Blitzgewalt müßte man ihnen geben und im Vergleich womit? (mit welchen anderen weniger blitzenden oder vielmehr überhaupt nicht blitzenden und nur von ihr erhellten). In Wahrheit kann nur ein einziges Wort sie ersetzen - vielleicht: Der Ausruf, die einsilbige Affirmation: ja!

 

Also da wir von vornherein der Chimäre entsagen müssen, von ihr zu sprechen aber uns dennoch nicht versagen, werden wir von ihr unserer zweiten Vorgehensweise nach reden, durch Nachstellung, durch hartnäckiges Weitermachen, durch schräge Teil-Definitionen oder -Deskriptionen vom Scheitern, durch Offenlegung unseres Unvermögens  und unserer Unnachgiebigkeit.

 

Wir können die Sonne nur in die abgründige Mitte setzen - 

 

Die Sonne ist nicht zu gestalten,

sondern aufzuschlitzen.                       Ausgeweidete Poesie, ausgeweidete Formulierung.“ (680)  

 

 

Diese Andeutungen zu seiner Methode klingen nicht sehr vielversprechend, sie laufen wohl darauf hinaus, daß die Annäherung an einen „unmöglichen“ Gegenstand nur chaotisch, turbulent, widersprüchlich sein kann. Als methodische Hauptwidersprüchlichkeit wird die Hartnäckigkeit des Weitermachens beschworen – in eklatantem Gegensatz zur Aussichtslosigkeit, zum unvermeidlichen Scheitern des Unternehmens. 

 

Die Offenlegung des Scheiterns verzichtet jedoch auf eine theoretische Rationalisierung, welche eine sogenannte Dialektik erfindet, die vom Automatismus einer triumphierenden Negativität angetrieben wird. Sofern sich der „Gegenstand“ auf Sprachliches reduziert, tut er es zum Ausruf Ja!. Sofern der Begriff „Gegenstand“ durch andere Begriffe ergänzt oder erweitert werden kann, schlägt Ponge die Neologismen „Gegenspiel“ und „Gegenfreude“ vor – wobei das Präfix „gegen“ genauer als „gegenüber“ zu verstehen ist.

                                                                   

 

Doch werden mit diesen Begriffsspielen auch wohlbekannte Vorstellungsgewohnheiten aufgerufen, die dann abgewiesen werden müssen.

 

„Die Sonne

 

Als Beispiel für den unentbehrlichen Charakter der Sonne genüge die Bemerkung, daß ohne sie (sagt man) keine Chlorophyll-Funktion statthaben könnte, die ihr im übrigen als Nabe (Hebel, Achse, Baum, wie man von einem Baum in der Mechanik spricht) dient, um ihre Energie in verschiedene Aktivitäten (Variationen) zu fächern (ihre Energie in wirksame Variationen zu teilen, zu gliedern, umzusetzen). 

 

Wir könnten sagen, daß sie der eigentliche MATERIELLE GOTT unserer Welt ist. Alles was wir in unseren Anrufungen und Gebeten vom einzigen GOTT sagen, kann von ihr gesagt werden.

 

SCHÖPFER DES HIMMELS UND DER ERDE

VATER UNSER IM HIMMEL

 

Warum wollen unsere Gebete nicht, daß wir die Sonne verehren? Weil sie zu sichtbar ist. Sie ist dermaßen sichtbar, daß sie - die Götter – uns in ihrer Hinsicht nichts Wichtiges beibringen oder sich für uns bei ihr verwenden können.

Wir sollten ihr also, anstatt uns zu beklagen, dankbar sein dafür, daß sie uns erscheint, weil sie dadurch verhindert, daß wir sie verehren. 

 

Im übrigen genügt ein Handrücken, um sie uns zu verbergen.“ (695f.) 

 

Ponge setzt die Niederschrift von gegensätzlichen Empfindungen und Überlegungen, welche die Sonne in Richtung Religion oder aber in Richtung Wissenschaft rücken, hartnäckig und ungerührt fort. Er protokolliert sich und ich protokolliere ihn. Deutero(proto)koll.

 

„Sagen wir, sie rührt uns nicht. Wir sollten davon Abstand nehmen, sie anzurufen, aber auch sie zu beleidigen.

 

Dennoch rührt das intensivste, unleugbarste Gefühl des Wohlseins von ihr. Das körperliche Wohlbefinden und Entzücken. Auch das soll nicht verschwiegen, nicht unterschlagen werden. Es wäre unverzeihlich. Was wir bisher geschrieben haben, hatte einen viel zu leidenschaftlichen Anstrich. Vom Verstand her verabscheuen wir sie, vom Gefühl her verehren wir sie. Das alles macht viel zu viel Aufhebens von ihr (ein gelber Stern der Größe 5). Das alles ist (für meinen Geschmack) etwas übertrieben….  Ist der Begriff der Sonne in die abgründige Mitte (des Wappens) gesetzt, werden wir unaufgeregt Gefallen an den Verwandlungen ihrer einzelnen Eigenschaften finden.“ (696)[1]

 

 

„Die SONNE VORWORT

 

Wir schreiben der Sonne, aus praktischen Gründen, ihrem exzessivem Glanz und dem Irrsinn, den sie provoziert, unsere Abschweifungen, Niederlagen oder Überschwänglichkeiten zu, kurz, jeden einzelnen unserer phantastischen und lächerlichen Irrtümer…  Gleichwohl werden wir versuchen, ein gewisses Verhältnis aufrechtzuerhalten, eine gewisse Proportion, die das Verhältnis zwischen den Protuberanzen oder sichtbaren Flecken an der Peripherie des Gestirns und seiner grandiosen (und dauerhaften) Kugelform … erinnern soll.“ (697)

 

„Die ERDE

 

beschreibt, indem sie um die SONNE kreist, eine elliptische Bahn, von der die Sonne nur den einen Brennpunkt okkupiert. Welcher ist der andere? unsichtbar zwar, doch zumindest gleich gewichtig? Um welchen anderen Brennpunkt also dreht sich die ERDE auch? den Brennpunkt des Begehrens, ihr zu entkommen.

 

Wenn man das verstanden haben wird, wird man zugleich dieses Buch, oder zumindest die ihm waltende ars poetica verstanden haben.“ (698)

 

Ponge schreibt die Schreibtätigkeit nicht nur der Sonne sondern auch der Erde zu, sich selber schreibt er sie performativ zu, wobei sein Schreiben die Form der Handschrift, der Maschineschrift (Typographie) und der Handzeichnung annimmt, während ich in diesem neuen Jahrtausend längst zu einer neuartigen Typographie übergegangen bin, die ich neulich anhand meines Maus-Problems auch eigens erwähnt habe. Wir dürfen also vorläufig resümieren, daß wir mitten in einem polygraphischen Universum agieren – daher wir. Es sieht weniger als nach einer Heliologie nach einer (?) Heliographie aus und nicht nur Helio-.

 

Am 27. Februar 1954 hört Francis Ponge im Palais de le Découverte in Paris einen Vortrag von Félix Trombe, einem der Pioniere für die Nutzung der Sonnenenergie in Frankreich – über „Sonne, Leben und Energie“. Ponge mischt seine Vortragsnotizen mit älteren Aufzeichnungen zur Photosynthese. Und äußert sich skeptisch zur Domestikation der Sonnenenergie. (700ff.)

 

So kommt Ponge im Verlauf seines jahrzehntelangen heliographischen Unternehmens bereits mit der heliotechnischen Problematik in Berührung - keineswegs nur anekdotisch sondern intensiv und professionell, da er genau in jenem Jahr auch seinen Text über die Elektrizität verfaßt hat und zwar für andere Professionisten nämlich die Architekten.  

 

 

Einige seiner neulich formulierten Überlegungen wiederholend meint Ponge nun, daß sein Buch auf eine „Rhetorik“ in Sachen Sonne hinauslaufe. Damit modifiziert er seine Äußerung, die von ars poetica gesprochen hatte. (708) Auch die Rhetorik gehört zum Kanon des antiken und mittelalterlichen Bildungssystems, zielt aber mehr auf pragmatische Lebensbewältigung: eine Redeweise finden, die den Dingen gerecht wird und damit die Verständigung zwischen den Menschen fördert. 

 

Ponge bleibt keineswegs in irgendeinem Eck für Lyrik stecken. 

 

 

Walter Seitter




[1] Die „mise en abîmeist eine heraldische Figuration, in der ein „Herzschild“ über die gespaltene Mitte eines Wappens gelegt wird, womit dessen gegenstrebige Fügung überdeckt und nicht aufgehoben wird. Zum heraldischen Zeichensystem siehe Walter Seitter: Menschenfassungen. Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft (Weilerswist 2012): 13-33.

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