τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 24. September 2021

In der Metaphysik lesen * Ponge - Sonne VII

22. September 2021

 

Wenn Ponge die Sonne zum einen als Ding unter Dingen (eher wohl über den Dingen), zum anderen aber als Bedingung aller Dinge wie auch des beobachtenden Menschen bezeichnet, dann nähert er sich faktisch der kosmologischen Ursachen-Problematik an, die wir aus der aristotelischen Metaphysik 1071a 15 (von Ponge nie direkt erwähnt, seine philosophischen Autoritäten heißen eher Lukrez und Whitehead) kennen, wo die Sonne und ihre Ekliptik (genau der Gesichtspunkt des Zuganges von Ponge) als „zweite“ Bewegursache für solche wie wir sind genannt wird (der Vater rangiert dann als xte oder yte). Doch Aristoteles setzt über die Sonne noch eine „erste“ Ursache, die nicht physisch sondern eher psychisch und fast schon anthropomorph sein soll, ein aktives und geradezu aktivistisches Prinzip, dem er auch den Ehrentitel „Gott“ zuspricht. 

 

Bei Aristoteles also ungefähr zwei höchste Ursachen (tatsächlich ein bißchen mehr), von denen nur die allerhöchste unkörperlich und unwahrnehmbar ist. Bei Ponge – für die Weltraumgegend um die Erde herum - nur eine höchste und stärkste Ursache, nämlich die Sonne, die alle Zuständigkeiten und Titel auf sich vereinigt, welche Aristoteles auf mindestens zwei Prinzipien verteilt. Beide verstehen sich als empirische Kosmographen (auch abschreibende), wobei Aristoteles das Ganze der emotionalen und vitalen und physikalen Wucht, die von der Sonne ausgeht, auf zwei (und sogar mehr Objekte) verteilt, während Ponge nur diese eine sowohl überwältigende wie auch permanente und nicht ganz permanente, also gegenteilig wirksame Erscheinung vor Augen hat und in Begriffe ganz unterschiedlicher Herkunft fassen will, nicht nur in Begriffe fassen will sondern auch disparate Verhalten vorzuschlagen sich genötigt sieht. 

 

Gerade weil Ponge Aristoteles überhaupt nicht erwähnt (indirekt wird er es vielleicht doch noch tun), kann ich und will ich die Aussagen des einen und des anderen (trotz der riesigen Abstände zwischen ihnen) miteinander vergleichen, ohne so etwas wie „Sympathie“ oder „Antipathie“ in Rechnung zu stellen. Sympathie oder Antipathie beziehungsweise beide Passionen im Widerstreit sind zwischen Ponge und Sonne festzustellen – ausgesprochen von Ponge, einem Menschen des zweiten zweiten Jahrtausends überhaupt, das sich gegenüber Aristoteles‘ erstem Jahrtausend überhaupt durch Steigerung der Aufgeregtheit auszeichnet (wie ich in diesem zweiten dritten Jahrtausend festzustellen mir erlaube). Ponges Sonnen-Aufgeregtheit wiederum zeichnet sich vermutlich gegenüber der russisch-suprematistischen Oper "Sieg über die Sonne" vom Anfang seines Jahrhunderts durch ein deutliches Minus an Dummheit und Bösartigkeit aus (was näher aufzuweisen wäre). Allerdings geht es auch im aristotelischen Text nicht ganz apathisch zu. Immerhin setzt er zwischen der allerersten und unkörperlichen Bewegursache und „uns“ Bewegten eine erotische Motivik als Motorik an. Sie scheint die Bedingung dafür zu sein, daß wir oder Ponge oder die besagten Russen sich so oder so verhalten können (müssen). Und die Verhalten beschränken sich nicht auf wissenschaftliche oder literarische. 

 

Die Sonne „ist also das Gegenteil eines Objekts, weil sie nicht nur der Vater, sondern Schöpfer und Medium des Subjekts, das sie wahrnimmt, ist. Sie werden mir entgegnen, daß ich meinen Vater, obwohl er mich erschaffen hat, beschreiben kann, weil er für mich zum Gegenstand geworden ist. Doch die Sonne erschafft uns wieder jeden Augenblick. Es wäre, würde sie verschwinden oder auch nur schwächer scheinen, unser Untergang. Man wird einräumen: ein befremdliches Objekt.“ (714f.)

 

„Sie ist der Prinz, die petitio principii.“ (712)

 

Da Ponge französisch schreibt (und er tut es bewußt und stolz), steht er dem Latein noch näher als wir und dem Vokabular unserer Aristoteles-Übersetzungen viel näher als dessen griechischem Wortschatz. Und so schlüpft nun gerade auch der eben zitierte und ziemlich spröde Übersetzungs-Begriff „Prinzip“ in seine heliographische Titel- und Ursachen-Rhetorik herein - hat da aber einen extrem rhetorischen Auftritt, indem er sich in zwei sehr disparate Stil-Aphorismen kleidet:

       

der Prinz, hier nicht der Königssohn, sondern der Fürst selber, der Erste, der König (die französische Sonne ist ja ein Herr). Der Prinz ist die personale Ausgabe des Prinzips. Ponge führt die Personalisierung der Sonne viel expliziter, barocker, auch religiöser durch als Aristoteles diejenige seines „Prinzips“. Allerdings nimmt er sie auch wieder zurück, weil ihm das Religionsstifterische noch weniger liegt als Aristoteles. Hier also einfach: der Fürst. 

 

Und in derselben Zeile einfach angehängt die theoretische Bedeutung des Wortes – aber dessen unseriöse, leicht kritisierbare und seit Jahrtausenden immer wieder höhnisch vorgebrachte Replik: dieses Prinzip, das die da eingeführt, nein aufgezeigt und bewiesen haben und als unerschütterlich und unwiderleglich verkünden, sei es in diesem oder in jenem Jahrhundert, sei es durch den Stagiriten, durch Descartes, Hegel oder Gabriel - alle diese Prinzipien sind nur scheinbar und schwindlerisch bewiesen, da sie vielleicht mit anderen Formulierungen von vornherein in die Beweisführungen eingeführt worden sind, man beweist, was man beweisen will. Das Prinzip wird gewollt, petiert – also herbeigewünscht und irgendwie geschickt oder weniger geschickt herbeigeschwindelt.

 

Auch so eine Spielart der aristotelischen Prinzipien-Erotik?

 

„Wir müssen noch einige Worte an den Leser richten und ihn bitten, die folgende Erklärung nicht zu vergessen. Die größte Schwierigkeit mag für ihn daher kommen, daß einige Passagen dieses Buches viel ausgefeilter, viel drängender sind als andere. Diese haben wir so zustandegebracht, wie wir den gesamten Text realisieren hätten wollen. Darin liegt die hauptsächliche Unvollkommenheit des Textes, die den Gesamteindruck unangenehm oder sogar unerträglich machen kann… 

 

Gelegentlich haben wir den traditionellen Standpunkt des Menschen unter Menschen eingenommen, für den die Wichtigkeit der Menschheit (über den anderen animalischen Spezies) sowie diejenige des menschlichen Individuum (über der Menschheit) keinen Zweifel zuläßt. Es geht darum, innerhalb der Gesellschaft der Menschen zu kommunizieren. Gewiß ein beschränkter Standpunkt – angesichts unseres Gegenstandes. 

 

Wir haben uns aber auch auf den Standpunkt der Erde gestellt (auf den Standpunkt des Kosmos, soweit er für uns zugänglich ist). Denn die Erde setzt die Grenzen unseres Universums. Und die Sonne erscheint da nur als eine Lampe oder eine Uhr, die sich um die Erde dreht. 

 

Auf den kosmischen Gesichtspunkt unseres Sonnensystems eingeschränkt erscheint unsere Sonne als der Gott oder das Zentrum des Universums. 

 

Unter einem weiteren Gesichtspunkt erscheint die Sonne nur als ein Stern unter anderen innerhalb unserer Galaxie. 

 

Unter einem letzten Gesichtspunkt wird unsere Galaxie nur als eine der vielen Sternnebel eines weit unermeßlicheren Universums….

 

Und noch eine andere Unvollkommenheit, eine ebenso wichtige. Die alten Mythologien haben wir nur selten einbezogen, aber der Versuchung zu reizvollen Vergleichen und Metaphern haben wir leider oft nachgegeben, was es den zeitgenössischen Kritikern leicht gemacht hat, uns eher zu den Dichtern als zu den Prosaautoren zu zählen (was uns dummerweise und blöderweise schmeicheln konnte). 

 

Dabei geht es um den Gesichtspunkt der Rhetorik. Wir wissen, daß diese nicht sehr angesehen ist, sie gilt als wenig vergnüglich, wenig charmant. Und wir müssen unsere Schuld eingestehen. Wäre uns die Sache so gelungen, wie wir gewünscht haben, dann wäre sie die reizendste überhaupt geworden: gleichzeitig erhaben und bescheiden. Astronomisch und geistvoll (im Sinn von witzig) und so weiter – in der Art von Rameau und Mozart. Aber leider leben wir nicht in einer Epoche, in der eine solche Vollkommenheit leicht zu erreichen ist. 

 

Leider? Aber nein. Eher glücklicherweise. Wir bereiten die Zukunft einer (schönen) neuen derartigen Epoche.

 

(Einer Epoche der Zivilisation)

 

Die wir gern die Epoche des Gegenspiels nennen würden.“  (726ff.)

 

„Wir sind eben in der Lage gewesen zu denken, in bezug auf die Sonne etwas zu sagen zu haben, und wir wußten von Anfang an, es nur sagen zu können, indem wir eine neue poetische Gattung erfinden. Aber wir konnten diese neue Gattung nicht a priori imaginieren – sie mußte sich selber im Laufe unserer Arbeit formieren. Wir glauben, in dieser Hinsicht zugleich Beharrlichkeit und Geduld bewiesen zu haben. Wir haben, so gut es ging, die Zeit ins Vertrauen gezogen, wir haben mit ihr gearbeitet ….

 

eine Schwierigkeit in bezug auf diesen Gegenstand kommt daher, daß er in keiner Weise die Sympathie, die (Bruder)Liebe, den Zwang oder das Mitleid befiehlt. Und daß wir nicht daran denken, ihr das Wort zu erteilen.

 

Sie befiehlt eher die (Bewunderung), die Anbetung oder die Antipathie. Sie mag, sie kann nicht beherrscht werden. Sie kann nur in die abgründige Mitte gesetzt werden.“ (734)

 

„Die Sonne ist wahrhaft ein besonderer Gegenstand,

 

Erstens ist sie ein Gegenstand (und muß also auch Gegenstand eines Buches sein können, denn sie zeigt sich sichtbar in der Natur. Aber die geringste Reflexion überzeugt uns davon, daß sie die conditio sine qua non aller übrigen Gegenstände und folglich auch des sie wahrnehmenden Subjekts ist. Und in diesem Sinn bedingt sie denjenigen, dem sie als Gegenstand erscheint. Sie ist also der metaphysische Gegenstand par excellence. Und damit könnte die Reflexion abgeschlossen werden.“ (762)

 

Das Attribut „metaphysisch“ wird von Ponge äußerst selten, um nicht zu sagen ungern, vergeben, denn er hält das Physische für realer als das Unkörperliche. An dieser Stelle setzt er das Attribut in einem durchaus positiven Sinn ein, nicht für eine Negation des Physischen, sondern für eine Bedingungs-, also Konditionierungs-, also Kausierungskompetenz, die nicht nur alle gewöhnlichen Objekte, sondern sogar das wahrnehmende Subjekt umfaßt. Es ist der Status der universellen Ursache, die allerdings im Physischen verbleibt, welcher dem Objekt namens „Sonne“ den sehr raren Titel und höchst ansehnlichen Titel des Metaphysischen verschafft.

 

Es bestätigt sich also recht klar die weiter oben schon angedeutete begriffliche Nähe zum Ursachenkomplex in der aristotelischen Metaphysik (welche von Ponge aber nicht namentlich gekennzeichnet wird (und von Aristoteles auch nicht)).

 

„Eine weitere bereits erwähnte Besonderheit dieses Gegenstands liegt darin, daß er der einzige Gegenstand ist, der eher die Anbetung oder die Verabscheuung und daher die Antipathie erheischt als die Sympathie.“ (762)

 

Und zur neuen Gattung, die mit diesem Text entstehen soll, wird noch gesagt, sie sollte „eine Art Lob, Eloge oder Hymne sein; aber ohne allzuviel Wärme, ohne übertriebene Ehrerbietung oder Unterwerfung, ohne Devotheit; einfach die Feststellung einer (relativen) Oberhoheit.“  (764)

 

„Wir denken nicht, daß man die Sonne anders definieren kann denn als den sichtbaren Gott und die Reflexion hat ihm für etwas zu danken, nämlich dafür, daß sie sich derart sichtbar gemacht hat, daß es uns unmöglich ist, sie anzubeten. Oder vielmehr dafür, daß sie es uns möglich gemacht hat, etwas anderes zu tun, als sie anzubeten. Aber was?

 

Wir sind anscheinend für sie ebenso notwendig, wie sie für uns sein kann. Da sie uns geschaffen hat, damit wir um sie herum kreisen und sie betrachten, sind wir für sie zweifellos ebenso notwendig, wie sie für uns zu sein scheint. 

 

Die Sonne ist gewissermaßen das ontologische Gestirn.“ (766)

 

Auch ohne diesen letzten Satz, der ja nur terminologisch interessant scheint, stehen die hier zitierten Aussagen dem, was wir im Buch XII der Metaphysik gelesen haben, sinngemäß verblüffend nahe. Verblüffend, weil sie keinerlei direkten Textbezug andeuten, welcher nach allem, was über Ponge bekannt ist, ohnehin kaum vermutet werden kann.

 

Terminologisch ist das „ontologische Gestirn“ viel erstaunlicher als das „metaphysische Objekt“, weil dieses unweigerlich in der Spannung zwischen physisch und nicht-physisch angesiedelt ist – selbst wenn unklar ist, wo. 

 

Das Attribut „ontologisch“, das historisch von Aristoteles noch weiter entfernt ist als „metaphysisch“, da es erst um 1600 von einigen deutschen Gelehrten erfunden worden ist, allerdings mit eindeutigem Bezug zum Aristoteles-Verständnis, scheint hier aber doch kaum in der Bedeutung gebraucht zu werden, die für das Verständnis des Gesamtwerkes der Metaphysik entscheidend ist, aber Ponge eher unbekannt gewesen sein dürfte. Im Buch XI, das allerdings das Pech hat, selbst von Koryphäen der Aristoteles-Deutung gering geschätzt zu werden, entschließt sich der Text endlich, das Eigenständige der Ontologie von der Physik wie auch von der Theologie zu unterscheiden (1064b 6ff.)

 

Das Wort kursiert allerdings in philosophisch gebildeten Kreisen mit unterschiedlichen Bedeutungsnuancen. Man kann zunächst vermuten, daß Ponge es irgendwie so ähnlich versteht wie das geläufigere „metaphysisch“. Aber warum dann in diesem Satz, der immerhin wie ein feierlicher Schlußakkord klingt – das „Gestirn“ als Subjekt des „Ontologischen“? 

 

Ohne auf die Aristoteliker des 17. Jahrhunderts zurückzukommen, versuche ich mich jetzt einmal mit einer gewaltsamen aber wortwörtlichen Übersetzung von „ontologisch“ ins Deutsche – „wirklich-wörtlich“. 

 

Die darin anklingende Polarität verweist auf den Impetus, der Ponge in seinen Texten, zu seinen Texten antreibt, und der richtet sich zunächst auf die Dinge, gegen die Dinge, geht aber über sie hinaus und wirft sich auf die Wörter, mit denen er Dinge beschreibt und anspricht und ihrerseits zum Reden überreden will. 

 

 

Walter Seitter

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