Die im Laufe der Metaphysik entfaltete Ontologie
spielt insgesamt weniger eine fundierende denn eine supplementäre Rolle. Und
ihre innere Struktur hat additiven Charakter – Stück für Stück wird sie
zusammengebaut. (Siehe die aristotelischen Beispiele: bauen, gebaut werden).
Der in der letzten Stunde gelesene
Abschnitt 9 fügt dieser Ontologie nur dann eine neue, eine zusätzliche Version
hinzu, wenn er nicht als Lehre vom Guten oder von den Gütern zu verstehen ist.
Diese Lehre mag es zwar auch geben – und sogar geben müssen. Um einen Beitrag
zur aristotelischen Ontologie handelt es sich aber nur, wenn er besagt, das
Seiende als solches ist gut – oder schlecht (adjektivisch). Allerdings basiert
dieser Abschnitt auf den Ausführungen über Vermögen und Verwirklichung und
seine Aussage geht dahin, dass die Verwirklichungen, also Tätigkeiten,
Verhalten, Leistungen erstens besser sind als die entsprechenden Vermögen (und
schlechter als die schlechten Vermögen) und zweitens sind sie in sich gut,
vortrefflich, exzellent – oder aber fehlerhaft, mangelhaft, schlecht. Mit den
Verwirklichungen werden also bereits „Höhepunkte“ von „seiend“ aufgerufen und
so mag auch verständlich werden, dass Aristoteles hier die Möglichkeit der
Indifferenz kaum berücksichtigt. Verwirklichungen sind Emergenzen,
Fulgurationen, die notwendigerweise Exzellenz beanspruchen – und wenn sie diese
verfehlen, fallen sie ins Gegenteil.[1]
Als Beispiel für so eine erfolgreiche energeia führt Aristoteles über
geometrisches Zeichnen die Denktätigkeit (noesis) vor. Die erweist sich als gut und tüchtig, weil sie
etwas findet, das so ist, wie es ist. Und damit leitet er direkt zur nächsten
Stufe der Ontologie über, welche „seiend“ als wahr – oder falsch -
qualifiziert.
Dieser Abschnitt 10 deklariert sich selber mit
größter Deutlichkeit als zusätzliche Etappe der Ontologie – nach der
Kategorien-Analyse und nach der Potenz-Akt-Analyse. Unter dem Aspekt des
Wahr-oder-falsch-seins werden die Sachen als zusammengefügt oder als getrennt
bezeichnet, weil die wahrheitsfähigen Aussagen Zusammenfügungen oder Trennungen
– von Subjekt und Prädikat – vollziehen. Die Aussagen aber sind nur wahr, wenn
sie tatsächlich vorliegende Zusammenfügungen oder Trennungen feststellen. In Bezug
auf das Wahre gibt es also einen formalen Primat der Aussagenebene und einen
materialen Primat der Sachebene. So verhält es sich bei zusammengesetzten
Sachverhalten wie etwa dem Zusammenhang zwischen dir und deiner weißen
Hautfarbe – beispielsweise. Ist so eine Sache zusammengesetzt, so ist sie nur,
wenn beide Teile vereint sind. Sind die Teile nicht vereint, so gibt es die
zusammengesetzte Sache nicht – sondern eben die Teile in ihrer Pluralität.
Dann geht Aristoteles zu den
nicht-zusammengesetzten Sachen über, die ganz einfach sind. Und von denen er
die Zusammenfügungen „Diagonale“ und „inkommensurabel“ sowie „Holz“ und
„weiß“ unterscheidet. Die erste von den beiden ist mir insofern bekannt, als
sie in diesem Buch schon öfter genannt worden ist und ein Gesetz der Geometrie
formuliert: die Diagonale eines Quadrates ist inkommensurabel zur Seitenlänge.
Die zweite Zusammenfügung ist mir unbekannt – da dürfte es sich um einen
empirischen Zusammenhang in der Naturkunde handeln, bei dem zwei Aspekte
unterscheidbar sind.
In Bezug auf die einfachen Sachverhalte postuliert
Aristoteles ein ganz bestimmtes Wissen, das mit Erfassen und Nennen (nicht mit
Behaupten) verbunden ist, ein Wissen, bei dem keine Täuschung möglich ist, da
es weder um Akzidenzien geht noch um Möglichkeit. Sondern um „das Seiende
selbst“, das weder entsteht noch vergeht – das Wesen ist und Verwirklichung.
(Dieses Seiende ist nicht mit dem mannigfaltigen „ontologischen“ Seienden
identisch, es deckt nur dessen höhere Stufen ab).
Da gibt es nur Denken oder Nicht-Denken. Das
Denken ist kompatibel mit dem Erforschen der Dinge – ob sie solche sind
oder nicht. Das Nicht-Denken führt zu Nicht-Wissen – nicht aufgrund des Mangels
an natürlichen Fähigkeiten – sondern zu Ignorieren, aufgrund eines Mangels an
richtiger Einstellung, womit dem ersten Satz der
Metaphysik zuwidergehandelt wird. So hebt Aristoteles den moralischen
Zeigefinger in einem Abschnitt, der mindestens zehn Erkenntnistätigkeiten, -modalitäten
und -zustände nennt und positioniert. Es handelt sich also um eine auffällige
Verdichtung der erkenntnispolitischen Problematik.
Deren ethischen Aspekt berührt Aristoteles hier
nur flüchtig und ohne Emphase. Im Unterschied zu seinem Wutanfall gegen die
„dialektischen“ und „sophistischen“ Pseudophilosophen, die er im Moment der
Gründung der Ontologie, also am Anfang von Buch IV, aufs Korn nimmt.[2]
Walter Seitter
Seminarsitzung vom 26. Juni 2019
[1] Wie in Abschnitt 6 mit den selbstzweckhaften Handlungen wird
jetzt mit deren möglicher (aber nicht notwendiger!) Vortrefflichkeit von der
Ontologie aus das Konzipieren praktischer Begriffe wie Tugend, Freundschaft,
Kooperation eingeleitet. Dazu siehe Andrius Bielskis: Existence, Meaning, Excellence. Aristotelian
Reflections on the Meaning of Life (London – New York 2017).
[2] Ethische Fehleinstellungen, die das Wissen beeinträchtigen (und zwar
keineswegs nur bei Wissenschaftlern) hat neuerdings Pascal Engel zum Thema
gemacht: Les vices du savoir.
Essai d’éthique intellectuelle (Paris 2019).
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