Versuchen wir,
die Frage, was denn nun hier im „Wörterbuch“ gemacht wird oder zumindest
angestrebt wird, nicht mit Disziplinbezeichnungen, sondern „direkt“ oder
beschreibend zu beantworten, so können wir sagen: es werden allgemeinste Begriffe,
insgesamt immerhin 30, ausgewählt, aneinandergereiht und jeweils erklärt,
zumeist in ihrer Bedeutungsvielfalt auch mit Beispielen erläutert; und durch
diese Begriffsordnung sollen die Dinge der Welt, die Dinge der nächsten und der
weiteren Umwelt, geordnet werden; indem sie allgemeinen Begriffen zugeordnet
werden, sollen die Gemeinsamkeiten zwischen vielen verschiedenen Dingen (auch
Eigenschaften, Beziehungen usw.) sagbar gemacht werden – aber auch die
Unterscheidungen, die vielen verschiedenen Unterscheidungen, sollen ihre
Begrifflichkeit bekommen.
Keine Rolle
spielen hier allgemeine Begriffe, welche die Realitätsbereiche
kennzeichnen: geistig-materiell, organisch-anorganisch, natürlich-kulturell;
also sozusagen inhaltliche Begriffe. Die Begriffe des Wörterbuchs haben eher
formalen Charakter – sie bezeichnen Seinsmodalitäten, die eine Tendenz
zum Dramatischen haben
Auch wenn bei
Aristoteles den Dingen ein Vorrang etwa gegenüber den Ereignissen (hat er
überhaupt einen Begriff für „Ereignis“?)[1] zukommt,
beziehen sich die meisten der Stichworte von Buch V keineswegs direkt auf
Dinge, Wesen, Körper sondern vielmehr auf Zusatzbestimmungen, die in der
Fachsprache Akzidenzien heißen und denen manchmal die Konsistenz eines
ordentlichen Begriffs zu fehlen scheint (dasselbe, wonach). Schon in der
Kategorientafel steht es 9:1 für die Akzidenzien gegen die Substanz. Und an der
zweiten „Gründungsstelle“ der Ontologie (Met. 1003a 23ff.) werden an die ousia
mehrere andere Seinsmodalitäten angefügt, auch solche, die in ihrer
Dramatik über die neun Akzidenzien hinausgehen: etwa Entstehung und Vergehung
und sogar das Nicht-Seiende.
Dort wird auch
schon die steresis genannt, die nun das Thema von Abschnitt 22 ist. Und
die, wenn man das Wort genau anschaut, semantisch für eine Aktion steht, und
zwar für eine negative. Die Bedeutungen, die Aristoteles zuerst nennt,
beschränken sich auf Zustände des Nicht-Habens: sowohl solche, die als ein
„Mangel“, ein „Fehlen“, gelten - Blindheit bei einem Menschen, wie auch solche,
die jedenfalls gemäß traditionellem botanischem Wissen keinen Verstoß gegen die
Normalität darstellen: Augenlosigkeit bei Pflanzen.
Erst die
zweite Bedeutung schöpft den Vollsinn des Wortes aus und kommt in die Nähe
eines kriminellen Aktes: gewaltsame Wegnahme von etwas. Ein verwandter
Krimineller kam schon einmal vor. Die Beispiele bleiben also nicht alle im
Bereich der „Physik“. Dann aber werden unter Privation irgendwelche
Eigenschaften genannt, deren negativer Charakter durch das sogenannte Alpha
privativum gekennzeichnet ist, wenn man nicht gar dieses Alpha als „Räuber“
bezeichnen will: das Unsichtbare (Unfarbige) oder fast Unsichtbare (fast
Unfarbige), das Fußlose oder Schlechtfüßige (also ein gravierender Defekt bei
Wesen mit Füßen – woraus Aristoteles noch ein eigenes Stichwort machen wird).
Oder das Kernlose. Mein Übersetzer fügt zu diesem Adjektiv das Obst dazu, was
dem Sinn des Wortfeldes entspricht. Allerdings versteht Aristoteles unter dem
Kernlosen solches Obst, das nur wenige oder unzureichend Kerne hat: ein
Mangelzustand, der in der Natur gar nicht „vollkommen“ vorkommt. Eklatanter
Unterschied zu heutigen kernlosen Trauben, die kulturell, d. h. industriell auf
Kernlosigkeit gezüchtet sind, weil das irgendwelchen Geschmacksvorlieben
entspricht.
Im letzten
Satz des Abschnitts springt Aristoteles mit negativen Begriffen wie „schlecht“,
„ungerecht“ ziemlich eindeutig auf das Gebiet der Ethik und macht dazu die
Aussage, die Menschen seien nicht unbedingt schlecht oder gut - sondern häufig
irgendwo dazwischen.
Das
Interessante dieses Abschnitts wird kaum von einer derartigen Aussage
resümiert. Sondern es liegt in dem Sammelsurium verschiedenster Negativitäten,
banaler wie auch existenzieller Art.
Den eher
banalen oder logischen Privationen kommt aber auch eine generelle Bedeutung zu:
jedes Seiende besteht aus Form, Privation und Stoff. Zum Beispiel Farbe: weiß,
schwarz, Oberfläche; Gesundheit, Krankheit, Körper; Haus: Form, Unordnung,
Ziegel. Und aufgrund dieser Dreierzusammensetzung gibt es Werden (wozu noch ein
Bewegendes kommen muß). Siehe Met. XII, 1070b 18ff.
Walter Seitter
Sitzung vom 27. Jänner 2016
[1]
Am
ehesten kommen bei Aristoteles wohl die pragmata in die Nähe des
Ereignisses. Bezeichnenderweise kommen sie in den Texten, denen üblicherweise
die „Ontologie“ entnommen wird, gar nicht vor – sondern in der Poetik,
die von der literarischen Zubereitung von Ereignissen handelt. Siehe Walter
Seitter: Poetik lesen (Berlin 2010, 2014). Aristoteles-Kritiker werfen
ihm allerdings vor, er habe mit der Literarisierung den Ereignis-Charakter des
musikalisch-tänzerisch-kultischen Theaters bereits reduziert.
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