Die Begriffe,
welche in den einzelnen Abschnitten von Buch V bestimmt und differenziert
werden, werden nicht immer gegen zuvor bestimmte streng abgegrenzt, sondern
gelegentlich mit Bezug auf sie bestimmt. So ist die Hexis im letzten Abschnitt
zu einer Disposition in einem bestimmten Sinn erklärt worden. Und im
Abschnitt 21 werden die Erleidungen mit den Qualitäten gleichgesetzt, mit
Geschmacks- oder Farbqualitäten – sofern etwas sie bekommen kann (z. B. schwarz
werden) oder sofern etwas sie schon bekommen hat (schwarz geworden ist).
„pathos“ ist
das Substantiv zum Verb „paschein“, das seinerseits zu den Kategorien gehört
und „erleiden“ bedeutet. Es bedeutet ein qualitatives Werden oder Erleiden –
ein passives Werden. Zunächst ein
neutrales Verändertwerden, Bewirktwerden, ein neutrales passives Affiziertwerden.
Daher auch die deutsche (und englische) Übersetzung mit „Affektion“. Die direkten
lateinischen Entsprechungen zu „paschein“ und „pathos“ lauten „pati“ und
„passio“. In diesen Wörtern leben die griechischen Wörter direkter weiter und
zu ihrem Wortfeld gehört eben auch die Passivität, welche den Wortsinn sehr
neutral bewahrt. Vor den emotionalen Profilierungen, wie sie sowohl im Leiden
als auch in der Leidenschaft zum Ausdruck kommen. Leiden,
Schmerz, Unglück bilden dann bei Aristoteles die dritte (bzw. die zweite)
Bedeutungsebene von „pathos“. In seinem bzw. im griechischen Vokabular gehört
auch die Leidenschaft dazu – wie wir in der Poetik gelesen haben.
Der Übergang
zu dieser Bedeutungsebene ergibt sich daraus, dass Passivität bei den Griechen
von vornherein als Übel, jedenfalls als Mangel betrachtet worden ist. Und als
Charakteristik den Frauen und den Sklaven zugeschrieben worden ist. Wohlgemerkt
als qualitativer also akzidenzieller Mangel und nicht, jedenfalls laut
aristotelischer Kategorienlehre, als Wesensmangel (denn wenn kein Mensch
menschlicher ist als ein anderer, dann ist auch kein Mensch weniger menschlich
als ein anderer – womit dem Rassismus immerhin die Spitze gebrochen wird).[1]
Die
Leidenschaften galten den Antiken als Überwältigtwerden durch irgendwelche
Kräfte, als Verlust der Eigenmächtigkeit, als Einbuße an Macht und
Selbstherrschaft. Bis zum Stoizismus (der noch in den lateinischen Philosophen
der frühen Neuzeit weiterlebte) galt die Parole, die Leidenschaften (zu denen
auch Gefühle wie Trauer und Freude gehören) müssten ausgeräumt, zumindest
zurückgedrängt werden. Aristoteles hat bekanntlich auch hier jeden Radikalismus
vermieden und die ethische Zulassung und Formung der Leidenschaften, etwa auch
des Zorns, vorgezogen.
Platon, der
das stoische Programm der Leidenschaftsniederhaltung begründet hat, hat
allerdings gewisse Formen des Überwältigtwerdens von seinem Verdikt ausgenommen:
die von den Göttern verhängte Raserei, die so etwas wie die Dichter (und wohl
auch Platon selber) möglich macht: „enthousiasmos“, „mania“. Unterwerfung unter
den Gott, Passivität unter Gott: ja.[2]
Was aber die gewöhnlichen Passiven und Schwachen, die Passiven und Schwachen unter den gewöhnlichen Herren anlangt, also die Sklaven und die Frauen, so haben die in der Spätantike, in einer orientalischen, nicht-olympischen Sekte ihre Zuflucht gefunden. Im Christentum, das so klug war, seine eigentlich jüdische Religionsreform ins Griechische zu übersetzen und damit die eigenen Schriftgelehrten überflüssig zu machen.[3]
Was aber die gewöhnlichen Passiven und Schwachen, die Passiven und Schwachen unter den gewöhnlichen Herren anlangt, also die Sklaven und die Frauen, so haben die in der Spätantike, in einer orientalischen, nicht-olympischen Sekte ihre Zuflucht gefunden. Im Christentum, das so klug war, seine eigentlich jüdische Religionsreform ins Griechische zu übersetzen und damit die eigenen Schriftgelehrten überflüssig zu machen.[3]
Die
griechischen Frauen und Sklaven waren, wie aus den Paulus-Briefen zu ersehen
ist, diejenige Schicht, die den Aufstand gegen die antike Herrengesellschaft,
den Auszug aus der olympischen Herrenreligion, zwar still und leise, langsam
und mühselig und mit vielem Leiden, vorangetrieben hat. Weil sie eben
eigentlich keinen Aufstand der Passiven gegen die Aktiven vom Zaun brachen,
sondern die platonische, die höhere Passivität unter dem Gott-Vater gemeinsam
mit dem fremden und neuen Bruder Gott-Sohn sich zueigen machten.[4]
Die
griechische Kultur hat in mehrfacher Hinsicht dem Christentum vorgearbeitet –
und den unleugbaren qualitativen Sprung („pathos“) möglich gemacht (was
fanatischen Philhellenen wie Nietzsche und Heidegger großes Kopfzerbrechen
bereitet hat (nicht nur Kopfzerbrechen)).[5]
Aber was ist das globale politische Resultat? Abschaffung der Passiven, der Sklaven, der abhängigen Frauen? Verallgemeinerung der Bürgergesellschaft? Massensedimentierungen? Was für Transformationen („pathe“) bei den Menschen?
Übersetzen wir „pathos“ als qualitative Transformation, die auch Menschen und Kulturen treffen kann, dann wird der Bezug zu unserem Wort „Pathos“ verständlich, das aus der griechischen Rhetorik stammt.
Zum Schluß wurde die Frage aufgeworfen, was für eine Art von Untersuchung oder Disziplin hier in diesem aristotelischen Wörterbuch vorliegt. Gianluigi Segalerba hat darauf - unter anderem - mit dem Vorschlag geantwortet: "analytische Ontologie". Und nachträglich schreibt er dazu:
Bei der Analyse eines Buches von Joshua Hoffman und Gary S. Rosenkrantz habe ich soeben eine Beschreibung des Begriffes "analytische Ontologie" gefunden, die am besten wiedergibt, was ich innerhalb der gestrigen Sitzung darlegte (aus: "Substance among other categories", Seite 7):
"Instead, our project ist an example of what D. C. Williams has called "analytic ontology."
(Es folgt das Zitat aus dem Buch von D. C. Williams "The Principles of Empirical Realism")
"Concerned with what it means to be a thing or kind at all, [analytic ontology] is in some wise prior to an independent of the other great branch of metaphysics, speculative cosmology: what kinds of things are there, what stuff are they made of, how are they strung together?"
Walter Seitter
PS.: Donald Cary Williams (1899-1983) ist ein amerikanischer Philosoph, dessen Werk ein breites Spektrum an Themen und Positionen ausbreitet: von "analytischer Philosophie" bis zu einer Art von "Materialismus".
Walter Seitter
Sitzung vom 13. Jänner 2016
[2]
Michel
Foucault, der auf den Aktiv-Passiv-Kontrast in der antiken Kultur aufmerksam
gemacht hat, hat gleichwohl einer gewissen Selbsttransformation durch Unterwerfung
unter die Wahrheit das Wort geredet.
[3]
Friedrich
Kittler, der bekennende Nicht-Christ, hat in der christlichen (und
griechischen) Außerkraftsetzung der jüdischen Schriftgelehrten sowohl ein Motiv
für die Kreuzigung Jesu wie auch für die ökumenische Durchsetzung des
Christentums gesehen.
[4]
Einer
Bemerkung von Aris Fioretos kann man entnehmen, dass die – heutigen – Griechen
drei griechische Helden verehren; in dieser Reihenfolge: Jesus, Herakles,
Alexander.
[5]
Siehe
dazu Michael Brumlik: Was wir auch den Griechen verdanken? Das Christentum!,
in: Neue Rundschau 125, 2014, 4: 98ff. Papst Benedikt XVI. hat in seiner
Regensburger Vorlesung vor einer „Enthellenisierung“ des Christentums
gewarnt. 15. Jänner 2016
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