τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 21. Januar 2016

In der Metaphysik lesen (1022b 15 – 21)

Die Begriffe, welche in den einzelnen Abschnitten von Buch V bestimmt und differenziert werden, werden nicht immer gegen zuvor bestimmte streng abgegrenzt, sondern gelegentlich mit Bezug auf sie bestimmt. So ist die Hexis im letzten Abschnitt zu einer Disposition in einem bestimmten Sinn erklärt worden. Und im Abschnitt 21 werden die Erleidungen mit den Qualitäten gleichgesetzt, mit Geschmacks- oder Farbqualitäten – sofern etwas sie bekommen kann (z. B. schwarz werden) oder sofern etwas sie schon bekommen hat (schwarz geworden ist).

„pathos“ ist das Substantiv zum Verb „paschein“, das seinerseits zu den Kategorien gehört und „erleiden“ bedeutet. Es bedeutet ein qualitatives Werden oder Erleiden – ein passives Werden. Zunächst ein neutrales Verändertwerden, Bewirktwerden, ein neutrales passives Affiziertwerden. Daher auch die deutsche (und englische) Übersetzung mit „Affektion“. Die direkten lateinischen Entsprechungen zu „paschein“ und „pathos“ lauten „pati“ und „passio“. In diesen Wörtern leben die griechischen Wörter direkter weiter und zu ihrem Wortfeld gehört eben auch die Passivität, welche den Wortsinn sehr neutral bewahrt. Vor den emotionalen Profilierungen, wie sie sowohl im Leiden als auch in der Leidenschaft zum Ausdruck kommen. Leiden, Schmerz, Unglück bilden dann bei Aristoteles die dritte (bzw. die zweite) Bedeutungsebene von „pathos“. In seinem bzw. im griechischen Vokabular gehört auch die Leidenschaft dazu – wie wir in der Poetik gelesen haben.

Der Übergang zu dieser Bedeutungsebene ergibt sich daraus, dass Passivität bei den Griechen von vornherein als Übel, jedenfalls als Mangel betrachtet worden ist. Und als Charakteristik den Frauen und den Sklaven zugeschrieben worden ist. Wohlgemerkt als qualitativer also akzidenzieller Mangel und nicht, jedenfalls laut aristotelischer Kategorienlehre, als Wesensmangel (denn wenn kein Mensch menschlicher ist als ein anderer, dann ist auch kein Mensch weniger menschlich als ein anderer – womit dem Rassismus immerhin die Spitze gebrochen wird).[1]

Die Leidenschaften galten den Antiken als Überwältigtwerden durch irgendwelche Kräfte, als Verlust der Eigenmächtigkeit, als Einbuße an Macht und Selbstherrschaft. Bis zum Stoizismus (der noch in den lateinischen Philosophen der frühen Neuzeit weiterlebte) galt die Parole, die Leidenschaften (zu denen auch Gefühle wie Trauer und Freude gehören) müssten ausgeräumt, zumindest zurückgedrängt werden. Aristoteles hat bekanntlich auch hier jeden Radikalismus vermieden und die ethische Zulassung und Formung der Leidenschaften, etwa auch des Zorns, vorgezogen.

Platon, der das stoische Programm der Leidenschaftsniederhaltung begründet hat, hat allerdings gewisse Formen des Überwältigtwerdens von seinem Verdikt ausgenommen: die von den Göttern verhängte Raserei, die so etwas wie die Dichter (und wohl auch Platon selber) möglich macht: „enthousiasmos“, „mania“. Unterwerfung unter den Gott, Passivität unter Gott: ja.[2] 

Was aber die gewöhnlichen Passiven und Schwachen, die Passiven und Schwachen unter den gewöhnlichen Herren anlangt, also die Sklaven und die Frauen, so haben die in der Spätantike, in einer orientalischen, nicht-olympischen Sekte ihre Zuflucht gefunden. Im Christentum, das so klug war, seine eigentlich jüdische Religionsreform ins Griechische zu übersetzen und damit die eigenen Schriftgelehrten überflüssig zu machen.[3]

Die griechischen Frauen und Sklaven waren, wie aus den Paulus-Briefen zu ersehen ist, diejenige Schicht, die den Aufstand gegen die antike Herrengesellschaft, den Auszug aus der olympischen Herrenreligion, zwar still und leise, langsam und mühselig und mit vielem Leiden, vorangetrieben hat. Weil sie eben eigentlich keinen Aufstand der Passiven gegen die Aktiven vom Zaun brachen, sondern die platonische, die höhere Passivität unter dem Gott-Vater gemeinsam mit dem fremden und neuen Bruder Gott-Sohn sich zueigen machten.[4]

Die griechische Kultur hat in mehrfacher Hinsicht dem Christentum vorgearbeitet – und den unleugbaren qualitativen Sprung („pathos“) möglich gemacht (was fanatischen Philhellenen wie Nietzsche und Heidegger großes Kopfzerbrechen bereitet hat (nicht nur Kopfzerbrechen)).[5]

Aber was ist das globale politische Resultat? Abschaffung der Passiven, der Sklaven, der abhängigen Frauen? Verallgemeinerung der Bürgergesellschaft? Massensedimentierungen? Was für Transformationen („pathe“) bei den Menschen?

Übersetzen wir „pathos“ als qualitative Transformation, die auch Menschen und Kulturen treffen kann, dann wird der Bezug zu unserem Wort „Pathos“ verständlich, das aus der griechischen Rhetorik stammt.

Zum Schluß wurde die Frage aufgeworfen,  was für eine Art von Untersuchung oder Disziplin hier in diesem aristotelischen Wörterbuch vorliegt. Gianluigi Segalerba hat darauf - unter anderem - mit dem Vorschlag geantwortet: "analytische Ontologie". Und nachträglich schreibt er dazu:

Bei der Analyse eines Buches von Joshua Hoffman und Gary S. Rosenkrantz habe ich soeben eine Beschreibung des Begriffes "analytische Ontologie" gefunden, die am besten wiedergibt, was ich innerhalb der gestrigen Sitzung darlegte (aus: "Substance among other categories", Seite 7):

"Instead, our project ist an example of what D. C. Williams has called "analytic ontology."

(Es folgt das Zitat aus dem Buch von D. C. Williams "The Principles of Empirical Realism")

"Concerned with what it means to be a thing or kind at all, [analytic ontology] is in some wise prior to an independent of the other great branch of metaphysics, speculative cosmology: what kinds of things are there, what stuff are they made of, how are they strung together?"

Walter Seitter 


PS.: Donald Cary Williams (1899-1983) ist ein amerikanischer Philosoph, dessen Werk ein breites Spektrum an Themen und Positionen ausbreitet: von "analytischer Philosophie" bis zu einer Art von "Materialismus".
Walter Seitter  
 
Sitzung vom 13. Jänner 2016






[2] Michel Foucault, der auf den Aktiv-Passiv-Kontrast in der antiken Kultur aufmerksam gemacht hat, hat gleichwohl einer gewissen Selbsttransformation durch Unterwerfung unter die Wahrheit das Wort geredet.
[3] Friedrich Kittler, der bekennende Nicht-Christ, hat in der christlichen (und griechischen) Außerkraftsetzung der jüdischen Schriftgelehrten sowohl ein Motiv für die Kreuzigung Jesu wie auch für die ökumenische Durchsetzung des Christentums gesehen.
[4] Einer Bemerkung von Aris Fioretos kann man entnehmen, dass die – heutigen – Griechen drei griechische Helden verehren; in dieser Reihenfolge: Jesus, Herakles, Alexander.
[5] Siehe dazu Michael Brumlik: Was wir auch den Griechen verdanken? Das Christentum!, in: Neue Rundschau 125, 2014, 4: 98ff. Papst Benedikt XVI. hat in seiner Regensburger Vorlesung vor einer „Enthellenisierung“ des Christentums gewarnt. 15. Jänner  2016

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