Warum ist
überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?
Das Thema des gestrigen
Philosophen-Cafés war die Frage „Warum existiert die Welt?“ und diese verdient
es, protokollarisch festgehalten zu werden. Einmal weil sie durch ihre Eigenart
imstande ist, die Position der Philosophie zu markieren: als die Fähigkeit oder
das Interesse, auch solche Fragen zu stellen, die in Richtung
Unbeantwortbarkeit tendieren. Mit dem Begriff „Welt“ nimmt sich die Frage eine
Größe vor, welche schon an den Rand unserer Fassungskraft grenzt (wiewohl der
neulich erwähnte griechische Kosmos-Begriff den Welt-Begriff fassbar zu machen
sucht). Doch die Warum-Frage scheint das Phänomen „Welt“ auch noch zu
übersteigen. Vor allem, wenn man an die uns bekannten Schöpfungsreligionen
denkt, welche der Welt einen transzendierenden Gott „vorsetzen“ – um die Frage
zu beantworten (auch wenn sie sie gar nicht stellen). Die Spezialität der
Religionen liegt ja darin, Antworten auf alle möglichen Fragen zu liefern, auch
auf solche, die vom menschlichen Verstand weder aufgeworfen noch beantwortet
werden. Doch unsere Frage positioniert die Philosophie auch im Verhältnis zu
den Einzelwissenschaften, welche aufgrund begrenzter Erkenntnisse weitere –
aber begrenzte – Fragen aufwerfen. In unserem Fall etwa die Frage nach einem
eventuellen zeitlichen Anfang der Welt.
Falls der
Begriff „Welt“ hier die Gesamtheit des Existierenden meint, könnte die Frage
ohne wesentliche semantische Änderung durch eine klassische Formel ersetzt
werden, die da lautet „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“.
Sie wird häufig auf Leibniz zurückgeführt, findet sich aber auch bei anderen
Autoren.[1] Es
geht dabei nicht einfach um die Gegenüberstellung von „etwas“ und „nichts“,
schon gar nicht um ein substantiviertes „Nichts“, sondern um das Warum für die
vorausgesetzte Tatsache, dass es überhaupt etwas gibt (und nicht gar nichts).
Eine
Voraussetzung, die schwerlich zu bestreiten ist (höchstens einige griechische
Sophisten mögen sich dazu verstiegen haben) und die bei näherem Zusehen auch
noch Spezielleres impliziert: etwa die Existenz der Frage selber sowie die der
Fragenden.
Der Fragesatz
setzt also die Existenz von etwas voraus – und trotzdem fragt er nach dem
Warum. Ich höre da einen leisen Protest heraus, ein leises Plädoyer dafür, dass
es „vielmehr“, d. h. „eher“, d. h. „lieber“ nichts geben möge – weil dann
vielleicht „alles“ einfacher, leichter wäre. Jedenfalls könnte bzw. müsste man
dann nicht so eine schwierige, ja unbeantwortbare Frage stellen. Ich bin darauf
schon einmal eingegangen – am 29. Mai 2013.
Ich vermute da
eine Tendenz zum Einfacheren, ja zum Bequemeren. Eine Tendenz, die ich mit der
„Moderne“, einer bestimmten Moderne, assoziiere: Tendenz zu weniger Arbeit, zu
weniger Anstrengung, zu mehr „Freizeit“ (nicht: Muße). Eine Tendenz zu weniger
Unterscheidung, zu weniger Ordnungsaufbau, zu weniger Unwahrscheinlichem. Zu
Wahrscheinlicherem.
Also die
Tendenz, die man seit dem 19. Jahrhundert als Tendenz zu höherer „Entropie“ in
geschlossenen Systemen bezeichnet. Dabei handelt es sich um einen irreversiblen
Prozeß in geschlossenen Systemen. Einfachstes Beispiel: Auflösung einer aus
vielen Schneekristallen bestehenden weißen Schneedecke in eine weniger
geordnete Bewegung einzelner Wassermoleküle, die ins Erdreich versinken.
Weniger einfaches Beispiel: Verwesung eines abgestorbenen Organismus, etwa
eines verendeten Rehes, und Auflösung in seine Bestandteile, die irgendwann
dann nicht mehr organischen Charakter haben. Dabei handelt es sich um
irreversible Prozesse in geschlossenen Systemen, also in begrenzten Formaten.
Während die Leibniz-Frage sich auf viel größere Dimensionen bezieht. Weshalb
sie ja auch das Übergewicht der „Negentropie“ akzeptiert; ich sage: akzeptieren
muß.
Der Vorläufer
des Begriffs „Negentropie“, nämlich „negative Entropie“, wurde von Erwin
Schrödinger eingeführt, und zwar zur Charakterisierung von Lebewesen.[2]
Schrödinger hielt daran fest, dass auch Lebewesen den Gesetzen der Physik
folgen. Sie zeichnen sich jedoch durch Energiezufuhr, -speicherung und -umwandlung
aus, sind also offene Systeme und fähig, das Gegenteil von Entropie zu leisten.
Ähnliches
geschieht beim Aufbau von kulturellen Organisationen, Werken, Praktiken. Auch
da kommt es zu unwahrscheinlichen Gebilden und Prozessen.
In bezug auf
die Leibniz-Formel vermute ich nun: gerade weil sie einen leisen
pro-entropischen Ton anschlägt, legt sie eine anti-entropische Beanwortung der
in ihr enthaltenen Frage nahe: es gibt etwas – und nicht etwa gar nichts, weil
in dem von ihr eröffneten Raum eine Kraft am Werk ist, die für Etwas überhaupt,
für das Sein von Etwas überhaupt optiert und arbeitet. Eine Kraft und eine Art
Wille. Ein Art Wille, der sich gegen das Leichtere und Einfachere entscheidet:
für Differenzierung, Strukturierung, Ordnung, für Leistung und Tätigkeit, für
die Fortsetzung und Vermehrung von Tätigkeit.
Eine Option
für das Existieren, die mit dem Einsatz für Tätigkeit und Relation, für
Differenz und Pluralität Hand in Hand geht. Ich setze diese Option in einer
ontologischen Schicht an, in der ich noch keine getrennten Entitäten, etwa
Subjekte oder Objekte ausmachen kann. Auch keine unterscheidbaren Aktivitäten
wie Lieben oder Erkennen oder Hassen. Aber irgendwelche Kristallisierungen
müssen da stattfinden, die wohl zu solchen Differenzen führen, wie sie uns in
der Welt der Erscheinungen begegnen. Begegnungen und Erscheinungen – ja solche
banalen Phänomene müssen da zustande kommen. Was denn sonst? Allerdings
Begegnungen und Erscheinungen mit Bedeutungen.
Wenn mein
Antwortversuch von einer fundamentalen Willensschicht spricht, mag man daran
denken, dass Philosophen wie Arthur Schopenhauer oder Friedrich Nietzsche einen
„Willen zum Leben“, einen „Willen zur Macht“ angenommen haben. Inwieweit der
von mir angesetzte Grundwille mit diesen Konzeptionen konvergiert, sei
dahingestellt.
Walter Seitter
[1]
Siehe
dazu die umfangreiche Publikation von R. Hauswald, J. Lemanski, D. Schubbe
(Hg.): Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? (Hamburg 2013).
[2]
Siehe
Erwin Schrödinger: Was ist Leben? – Die lebende Zelle mit den Augen des
Physikers betrachtet (München 1951). Auch Ludwig von Bertalanffy erforschte
den Zusammenhang zwischen Entropie und Leben.
Thema „Warum existiert die Welt?“, Heideggers „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?". Walter bringt das thermodynamische Beispiel: „Auflösung einer aus vielen Schneekristallen bestehenden weißen Schneedecke in eine weniger geordnete Bewegung einzelner Wassermoleküle, die ins Erdreich versinken. Weniger einfaches Beispiel: Verwesung eines abgestorbenen Organismus, [..]“ Aber das Beispiel ist nicht einfach. Denn es hat, wie fast alles in der Welt, zwei Seiten. Die Platonischen Körper wurden von den Pythagoreern und von Theaitetos von Athen [1, 2] untersucht. Im Dialog Thimaios hat Platon die fünf Symmetrietypen beschrieben. Das wissen wir ja. Als Kepler Astronomia Nova [3] publizierte schrieb er auch „Strena sue de nive sexangula“ (Die hexagonalen Schneeflocken) [4]. Flüssiges Wasser hat dagegen eine dynamische Polymerstruktur, in der trigonale, Tetraeder, …, Ikosaeder, kurzum alle Symmetrien vorkommen [5 – 8] und einen höchst ordentlichen Tanz aufführen. Es gibt kaum schönere Ordnungen als die tanzenden Tetraeder der Wassermoleküle mit ihren tunnelnden Protonen. Die Verflüssigung der Schneeflocken, ihr Schmelzen, kann als Rückkehr zu einer größeren und beweglichen Ordnung angesehen werden. Es kommt eben darauf an, wie wir auf was schauen. Für die Wasserpolymere brauchen wir ‚kymatische‘ Apparate [9] oder Laser und Spektrometer.
AntwortenLöschen[1] Corpus dei Papiri Filosofici Grecie Latini (CPF), Teil 1, Bd. 1***, Firenze 1999, S. 466–474.
[2] Sachs, Eva. Die fünf platonischen Körper. Zur Geschichte der Mathematik in der Elementenlehre Platons und der Pythagoreer (= Philologische Untersuchungen Bd. 24), Berlin 1917
[3] Kepler, Johannes. Astronomia Nova, Prag 1609. http://www.keplersdiscovery.com/AstronomiaNova.html [aufgerufen am 12.01.2015]
[4] Kepler, Johannes. Strena sue de nive sexangula (Über die Sechseckige Schneeflocke),
Prag 1611. http://www.thelatinlibrary.com/kepler/strena.html
[5] Viant, M. R., Cruzan, J. D., Lucas, D. D., Brown, M. G., Liu, K., Saykally, R. J., Pseudorotation In Water Trimer Isotopomers Using Terahertz Laser Spectroscopy, J Phys Chem. A 101, 9032 (1997).
[6]J.D. Cruzan, J. D., Viant, M. R., Saykally, R. J., Terahertz Laser Vibration-Rotation-Tunneling Spectroscopy of the Water Tetramer, J Phys Chem. A 101, 9022 (1997).
[7] Liu, K., Brown, M. G., Cruzan, J. D., Saykally, R. J., Terahertz Laser Spectroscopy of the Water Pentamer: Structure and Hydrogen Bond Rearrangement Dynamics, J Phys Chem. A101, 9011 (1997).
[8] Liu, K., Brown, M. G., Saykally, R. J. Terahertz Laser Vibration-Rotation-Tunneling Spectroscopy and Dipole Moment of a Cage Form of the Water Hexamer, J Phys Chem. A 101, 8995 (1997).
[9] Jenny, Hans, Kymatik: Wellenphänomene und Schwingungen, AT Verlag, Baden, München 2009.