Im letzten
Protokoll wurden zwei abstrakte oder metahafte Ordnungsdimensionen
unterschieden: die Realitätsbereiche und die Seinsmodalitäten.
Zweifellos
stehen die Realitätsbereiche dem Wissenschafts- und Erfahrungswissen
ziemlich nahe, denn da geht es um inhaltliche oder thematische Gliederungen
oder Stufen, die man in Gegensatzpaaren ordnen kann aber nicht muß:
anorganisch, organisch, pflanzlich, tierisch, menschlich, göttlich, natürlich,
künstlich (technisch), physisch, psychisch – das sind einige solcher Bereiche
(hier allerdings einander überschneidend angehäuft). Ob die Bezeichnung
„Realitätsbereich“ besonders gut ist, sei dahingestellt.
Den Begriff
„Seinsmodalität“ hat mir erstens die Lektüre der Poetik eingeflößt – und
zwar anhand der logischen Modalitäten (zwischen unmöglich und notwendig);
sodann die aristotelische Kategorienlehre, die den Übergang von der Logik zur
Ontologie ausarbeitet, und dann vor allem das Buch IV der Metaphysik, wo die
Ontologie explizit als Programm formuliert wird und zusätzliche „kategoriale“
Modalitäten genannt werden, darunter so elementare wie Möglichkeit und
Wirklichkeit. Im Wörterbuch von Buch V werden 30 Stichworte aneinandergereiht
und jeweils immanent differenziert (wodurch sie dann auch miteinander verkettet
werden). Alle 30 sind als Seinsmodalitäten erkennnbar (wenngleich die Beispiele
notwendigerweise aus den Realitätsbereichen stammen) – mit einer Ausnahme: physis=Natur;
dieser Begriff bezeichnet einen großen Realitätsbereich – wie auch noch heute
(aber heute mit Verunsicherungen). In anderen Schriften von Aristoteles wird
mit diesem Begriff außerdem noch eine Seinsmodalität bezeichnet (synonym mit
„Wesen“); diese Bedeutungsrichtung wird in Metaphysik V höchstens leise
angedeutet.
Das Stichwort
für den Abschnitt 23 lautet „Haben“ – zum ersten Mal ein Verb im Infinitiv;
folgend auf steresis=Nicht-Haben und bald folgend auf hexis=Habe.
Das sis-Wort liegt semantisch sehr nahe beim Infinitiv. Also beinahe derselbe
Begriff zweimal in einem Wörterbuch. Dem „Sein“ wird so ein Auftritt nicht
zuteil.
Hier wird
speziell das transitive Bedeutungsspektrum aufgetan, beginnend mit einer sehr
aktiven Bedeutung, die einer Kategorienvermengung nahekommt: echein=agein,
etwas haben als etwas nach eigenem Trieb treiben, führen ... : so das Fieber
den Menschen, die Tyrannen die Städte, die Bekleideten das Gewand. Nach eigenem
Trieb agieren ist die typisch animalische Aktivität. Die zweite Bedeutung von
Haben: ein Material hat eine Form oder Qualität. Dritte Bedeutung: haben als
umfassen; so das Gefäß die Flüssigkeit, die Stadt die Menschen, das Schiff die
Matrosen. Übrigens spricht Aristoteles dem Ort eben dieses Umfassen zu; jeder
Ort hat seine Sache. Vierte Bedeutung: haben als halten, festhalten,
auseinanderhalten zusammenhalten (und daran hindern, nach eigenem Trieb
zusammenzufallen oder auseinanderzufliegen) – also gegen den Trieb eines
anderen wirken. Und „in etwas sein“ folgt dem „haben“ und ist
gleichbedeutend mit „gehabt werden“.
Dem Haben wird
da eine Kraft zugesprochen, eine Art Übermacht über das Gehabte. Wobei die
Stadt einmal in der Rolle des Schwächeren, ein ander Mal in der Rolle des
Stärkeren vorkommt.
schwächer
stärker
Leute
Stadt
Tyrann
Die Stadt ist
stärker als die Leute: aufgrund ihrer baulichen, seinerzeit festungsartigen
Struktur, außerdem Übermacht des Kollektivs gegen die Einzelnen; wenn dann das
Kollektiv auch noch einem übermächtigen Einzelnen untersteht, dann sind die
kleinen Einzelnen schlecht dran. Das kann sich ändern, wenn die Stadt von den
Leuten selber gehabt, innegehabt wird – und zwar von den Leuten, welche die
natürliche Übermacht des Kollektivs über die Einzelnen politisch konterkarieren
können, sodaß die Stadt Leute hat, welche die Stadt haben, und sich keine
schroffe Übermacht bildet.
Die
Unterscheidung von „schwächer“ und „stärker“ gehört zur Dimension der
Seinsmodalitäten – woraus hoffentlich hervorgeht, dass diese nicht unwichtig
ist.
Walter Seitter
Sitzung vom 3. Februar 2016
PS.: Erstes
Wiener Philosophen-Café im Café Korb am Samstag, 6. Februar 2016, um 16
Uhr : „Philosophie und Sexualität“
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