τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 1. September 2022

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres – Lukrez V

 

31. August 2022

 

Im Fernsehen gesehen, was nur im Fernsehen gesehen werden kann, weil die Fernsehaufzeichnung das, was aufgezeichnet worden ist (und im einzelnen auch nahgesehen werden kann), so aufgezeichnet und zusammengeschaltet hat, daß es ingesamt nicht nahgesehen werden kann. Obwohl der Vorgang des Fernsehens im Wohnzimmer dann natürlich auch ein Nahsehen ist – eigentlich gibt es ja nur das.

Das Nahsehen, das ich oben gemeint habe, ist dasjenige, das der im typischen griechischen Theater sitzende Zuschauer auch heute noch hat: er sieht neben und um sich viele andere auf den Stufen sitzende Zuschauer, vor sich unten das Bühnengeschehen, darüber zumeist ein Bühnengebäude und darüber noch einen weiten Landschaftsausschnitt mit Himmel darüber.

Aus dem Theater von Delphi, das wie jedes typische griechische Theater die Form eines partialen (ca. 190 gradigen) Innenkegelstumpfes (eines Rotationskörpers, wie er auch von Serres: Lukrez erwähnt wird) aufweist, wurde eine Aufführung der siebenten Symphonie von Beethoven übertragen, aber die Kamera beschränkte sich nicht darauf, die Körperbewegungen der Musiker (inklusive Dirigent) und die dadurch bewegten Musikinstrumente (deren Bewegungen die (allerdings unsichtbare aber Töne erzeugende) Luftbewegungen hervorrufen) aufzunehmen. Simultan dazugeschaltete Kameras haben auch die Tanzbewegungen einer Tänzergruppe aufgenommen, die ein paar Meter unterhalb der Bühne agiert hat und die von den (übrigens leeren) Zuschauersitzen aus nicht zu sehen gewesen wären, denn Delphi, das ist ein Steilhang im Gebirge (so viel zur Geographie – und ohne Geographie gibt es gar nichts (auch das gehört zur „notwendigen“ Physik aller Dinge)). Außerdem hat die Kamera bzw. das Kamera-Team und die Kamera-Regie zwischendurch und immer wieder auf die um und um liegende, fallende und steigende Landschaft sich ausgerichtet, auf den Hang gegenüber, auf die Bergspitzen, von denen sich die Abendsonne aus dem Westen mehr und mehr zurückzog, auf die archäologischen Stätten, die sich unterhalb des Theaters am Steilhang festzuhalten versuchen, hinfällig seit über 2000 Jahren.

 

Dieses viele Auseinander- und Hinundher-Sehen (simultan zum vergleichsweise zurückhaltenden Musikgeräusch) hat sich erst in den letzten Minuten zusammengezogen, als die Tänzergruppe sich auf den Weg machte und zum Bühnenort hinaufging, sich hinter dem Dirigenten anstellte und in wilden mehr oder weniger parallelen Bewegungswellen dessen einsame Dirigierbewegungen karikierend übertreibend vermehrend und steigernd zu einem Bewegungsrausch verdichtet und verknotet hat. Diese letzten Minuten dauerten nur ein paar Minuten (das haben Minuten so an sich), aber da bekam die Theaterbühne eine Qualität, die ihr die Beethoven-Musik kaum einzuhauchen vermocht hat: die Qualität, die einstmals oder im Nietzsche-Text der Chor in der Tragödie erzeugt hat, der Tanz einer Menschengruppe - angesichts eines typisch menschlichen, oftmals eines typisch königlichen Verhaltens und Versagens.

 

*

 

Wenn Serres: Lukrez auf Aristoteles, auf das sehr andere Physik-Paradigma der Antike zu sprechen kommt, dann muß ich natürlich darauf eingehen. Jedenfalls dann, wenn diese Bemerkungen eine gewisse Konsistenz erreichen. Denn dann müßten sie einen für uns sogenannte Moderne kaum erträglichen Skandal präsentieren: daß es in der Antike durch Jahrhunderte hindurch, also permanent simultan, mindestens zwei ganz unterschiedliche Paradigmen für die wissenschaftliche(!) Wahrnehmung, vielleicht Beobachtung, jedenfalls begriffliche Besprechung der „Natur“, derselben (?), gegeben hat. Die einzelnen „Schulen“ mögen an ihrem jeweiligen Paradigma festgehalten haben. Sie haben wohl auch voneinander gewußt, vielleicht miteinander diskutiert. Wieso war so eine friedliche Koexistenz möglich? Oder war sie gar nicht so friedlich?

 

Serres streut immer wieder Namen von Göttern ein: Venus und Mars. Diese Namen stehen bei ihm für zwei andersartige Paradigmen als für die eben gemeinten der Antike. Sie stehen für zwei Wissenschaftsauffassungen, Wissenschaftsrichtungen, die Serres in der Moderne ansiedelt, wobei er die eine, die martialische, die kriegerische und zerstörerische eher für tatsächlich am Werk befindlich ansieht, die andere, die venerische oder aphroditische, eher für die Zukunft, für unsere Zukunft, herbeiwünscht.

 

Also zwei ganz unterschiedliche Paradigmengegensätze.

 

Beide haben wohl zur Voraussetzung, daß in jeder Wissenschaft eine Option am Werk ist, die ich als „erkenntnispolitische“ Einstellung bezeichne.

 

Vorläufig lassen sich also vier unterscheiden:

 

A 1 : die hylomorphistische (oder aristotelische) Theorierichtung

A 2 : die atomistische (und vielleicht materialistische) Theorierichtung

 

B 1 : die aggressiv-destruktive (oder martialische) Theorieeinstellung („dies und das gibt es gar nicht“)

 

B 2: die verträglich-friedliche (oder aphroditische) Theorieeinstellung

 

Während unter A verschiedene theoriepolitische Richtungen verglichen werden, handelt es sich unter B um politische Theorieinstellungen im engeren Sinn. Und damit sind kaum alle möglichen Paradigmaverzweigungen schon genannt. Die aus der Philosophiegeschichte bekannte Kluft zwischen Realismus und Idealismus ist damit, daß letzterer jetzt häufig unter dem modischen Label „Konstruktivismus“ auftritt, keineswegs aus der Geschichte verschwunden.

 

Serres‘ apodiktische Reduktion der Seele auf den Körper, der Psychologie auf die Physik erinnert an extrem „materialistische“ Programme des 18. oder 19. Jahrhunderts. Da er seine Erklärung in Übereinstimmung mit einem antiken Lehrgedicht abgibt und da er selber als Philosoph auch anderweitig sich oftmals geäußert hat, wird man mit derartigen Identifikationen vorsichtig sein müssen. Aber eine gewisse Skepsis gegenüber einer allzu selbstsicheren Reflexivität, eine Neigung zur Hochschätzung von Oberflächen und Äußerlichkeit wird man ihm unterstellen dürfen.

 

 

Diese vier Einstellungen können so oder so miteinander kombiniert sein – und sie müssen gar nicht die einzigen möglichen sein.

 

„Jedwedes Objekt emergiert aus einem Fluten der Elemente – wie Aphrodite. Wie vorhin gesagt. Geboren irgendwo, komplex, ineinander geschlungen, mit seinem langen Haar spielend, schickt es sich an, einen Strahlenkranz aus Wogen in alle Richtungen auszusenden, sein Verhalten und seine Dauer. Es strahlt diverse Wellen aus: Wärme, Gerüche, Geräusche, Simulakren, subtile Atome. Ebenso und umgekehrt nimmt es Fluten auf, die von seiner Umwelt wie von den Rändern des offenen Universums ausgehen, sei dieses nun Felsen, Ernte, Pferd oder Frau. Insgesamt fließt die Welt an sich und für sich, sie verändert ihre Flüsse in den Niederungen bis zur Verzehrung und Rückkehr im Wasserfall.“ (65)

 

 

Also, was ist die Physik? Sie reduziert sich auf zwei Wissenschaften: eine allgemeine Theorie der Wege und Bahnen sowie eine globale Theorie der Welle. Eine Topologie der Verflechtungen sowie eine Hydrologie von dem, was darin fließt.

 

Die cartesianische Wissenschaft arbeitet mit der euklidischen Geometrie. Sie ist eine Metrik, welche den Raum der Natur meistert und besitzt. Da ist Mars am Werk, der die Dinge in Schlachtlinien und Achsen koordiniert. Der Venus-Vertrag hingegen läßt ihn, wie er ist, zufallhaft und komplex. Die atomistische Welle ist eine materielle Bewegung: Wärme, Gewicht, Licht, Flüssigkeiten …

Die alte Physik ist stärker als die moderne, obwohl sie in den Augen vieler keine Wissenschaft ist.

Über dem globalen Kreislauf, der physisch konstituiert ist, sind noch andere Zirkulationen zu erkennen. Nicht nur die Wärme, das Leuchten, der Abfall, das Wahrnehmbare überhaupt. Es geht auch um die erste Menschheit: der Kreislauf der Gewalt, der Kraft. Er gehorcht denselben Gesetzen, der Regel des Extremen. Die stärkste Kraft setzt sich durch, sie beseitigt den schwächeren Druck. Die Gewalt ist ein gesteigertes Fluten. Sie erklimmt die höchsten Klippen, die höchsten Spitzen – über das gemeine Niveau hinaus. Ad summum, e summo . . . Die Könige errichten ihre Zitadelle als Verteidigungsanlage und Rückzugsort. So auch mit der Schönheit: die schönsten Herden und die besten Fluren werden von den Mächtigsten und Großartigsten angeeignet. Das Starke ist das Stärkste, das Schöne ist das Schönste, das Intelligente ist das Scharfsinnigste.

 

Daher die Erfindung des Reichtums. Das Gold vermag das Prestige der Gewalt zu reduzieren. Der Begüterte zieht immer die schlagendsten Herzen, die schönsten Körper an. Der Reiche übertrifft an Stärke den Stärksten, an Schönheit den Prächtigsten. Die Plutokratie kommt an die Macht, indem sie auf Baisse spielt. Der Wirtschaftsfluß transformiert alles, was ihm auf seinem Weg unterkommt, in Schwemmkegel. Mag die pure Gewalt den Zugang zum Gipfel der Macht, zur Königswürde, bahnen, so überwindet doch der Goldfluß so einen Gipfel, da er das Flußbett vertieft. Der Geldfluß ist, oh Wunder, isomorph zur Bewegung der Simulakren. (Siehe 65ff.)

 

Der Mächtigste findet immer einen, der noch gewalttätiger ist, der Stärkste ist gar nicht der Stärkste, der Neid schlägt zu und stürzt ihn in den Tartarus hinunter. Der sogenannte Sinn der Geschichte führt in die niedersten Niederungen.

 

Spielt eher die Gleichheit, genießet das Wenige! Wo kein Ort sich über einen anderen erhebt: weder Herr noch Sklave. Die Physik der Ströme, die Wissenschaft ihres Gesetzes, die archimedianische Logik der maximalen Wege – sie alle rufen eine moralische Technologie hervor. Diejenige der gleichmäßigen Abwägung, der Gleichmütigkeit. Diejenige eines befriedeten Materialismus.

Die Menschendinge fügen sich ein in die Naturdinge, sie sind ja selber welche. Und zu denen gehören auch die vier Elemente, die schon für die antiken Atomisten als überholt gelten mußten. Ganz zu schweigen von den modernen, zu denen sich heute ja alle Zeitgenossen zählen, auch wenn sie nur meinungsmäßige Atomisten sind, die dergleichen nie gesehen haben, was umso leichter fällt, wenn man meint, die Atome könne man gar nicht sehen, es genüge, sie zu berechnen, dann wisse man schon von ihnen. Die Elemente der modernen Chemie übernehmen von den antiken Elementen mindestens den begrifflichen Namen.

 

Lukrez hingegen verbindet die demokritische Atomenlehre mit der älteren Elementenlehre, weil mit der qualitative Bestimmtheiten und Unterschiede in die Physik Eingang finden.

Erde. Universelle Mutter und gemeinsames Grab – sie spendet Nahrung, wird ausgesaugt, stellt sich wieder her. Die Erde ist in der Gesamtheit ihrer Ströme homöostatisch. Vom Wasser gilt, daß die Welle überschwappt, alles geht zum Meer. Alles verliert, doch das Wasser verliert sich, der warme Wind trocknet die feuchten Oberflächen aus, bringt zu den Quellen die Flüssigkeiten zurück, die aufgestiegen, den Weg hinunter finden. Nirgendwo geht der Ozean über, schreibt Lukrez in einem Jahr 55, Serres in einem Jahr 1972 (es gibt ja von jedem mit einer Jahreszahl benannten Jahr zwei Exemplare). Die Sintflut zu ihrer Zeit.

Die Luft – der andere Ozean. Sie nimmt die Ausdünstungen auf und gibt sie den Dingen zurück. Sie weht und egalisiert. Die Kreisläufe der Erde, der Wasser und der Luft fließen und stabilisieren. Man badet also doch fast immer in denselben Flüssen. Was ich mit Epikur, Lukrez oder Descartes als Wirbel bezeichne, entspricht genau jenen (quasi) homöostatischen Kreisläufen.

 

Wenn es eine Zeit der Dinge selber gibt, also die Zeit der Physik, dann weil die Wirbel stabil sind. Der Geniestreich der Atomphysik ist der: es gibt keinen Kreis, es gibt den Wirbel. Aus dem Kreis wird eine kegelförmige Spirale. Der pythagoreische oder platonische Kreis wird archimedisch-kegelförmig. Anders gesagt: kein perpetuum mobile in der Natur.

Es gibt nur laminare, schichtenweise Strömung. Jeder Fluß folgt seiner Neigung, die Gesamtheit der Flüsse bildet einen Zyklus aus der generalisierten Neigung der Naturmaterialien. Ein Umkreis mitsamt einem Winkel, wie klein er auch sein mag, produziert eine Spirale. Die Sache ist in Lukrez, das Theorem bei Archimedes.

 

Es existiert etwas – eher als nichts: der Abstand überwindet das Homogene. Dennoch keine Ewigkeit der Zeit: jede Bewegung kommt an ihr Ende.

 

Theorem der Welt: weder nichts noch Ewigkeit.

Die Natur, das heißt die Geburt, das heißt der Tod – das ist die Gerade, geneigt vom Winkel, der einen Zyklus erzeugt. Einen Zyklus, der von dem Winkel gebeugt wird, der einen globalen Wirbel hervorruft, welchen der Ablauf der Zeit zur Geraden zurückführt.

 

Wiederaufnahmen, Wiederanfänge, Wiederernährungen – Quasi-Stabilität bis zum schließlichen Tod. Physik der Fluktuationen ohne ewige Wiederkehr. Gipfel der hellenischen Wissenschaften – vielleicht auch der unsrigen.

Schließlich das Feuer. Wärme und Licht verstreuen und verlieren sich: irreversible Abflüsse. Während Erde, Luft und Wasser zumal Quelle sind und Ziel, muß das Feuer erlöschen, das Licht sich verdunkeln, die Strahlen kehren nicht zum Herd zurück.

 

Man mußte auf Joseph Fourier (1768-1830), Edmond Halley (1656-1742), Nicolas Carnot (1796-1832) warten, um Aufklärung über die großen thermischen Vorgänge zu erhalten, die den Diskurs unserer Geschichte bestimmen. Doch der Zyklus des Feuers und des Feuerverlustes waren bereits Heraklit von Ephesos (520-460) bekannt, der den Ersten und den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik intuitiv erfaßt hat – einschließlich der Negentropie der Information, was Serres zur Vermutung veranlaßt, nach Heraklit würde sich der Logos selber verstärken.[1]

Die Welt insgesamt resümiert Serres mit

tanta stat.

Die Elemente Erde, Wasser, Luft mit

fluere omnia constat.

Und die flackernden Feuer mit

instant, instant.

 

Die drei Terme formulieren die Bewegungstheorie, mit der Ontologie und Metaphysik Verstecken gespielt haben. Tatsächlich geben sie das Konkrete exakt wieder, das noch kürzer auf den Abstand gegenüber der Stabilität reduziert werden kann. Das clinamen gibt nicht auf: es führt zur Geburt, es hält eine Zeit lang am Existieren, es führt zum Tod.

Es macht sein, es macht sich bewegen, es führt zum phänomenalen nicht-sein.

 

Sein, Bewegung, Nicht-Sein.

 

Das ist die Reihe, die das 19. Jahrhundert vermieden und ersetzt hat durch die ewige Wiederkehr oder den wunderbaren Fortschritt.

 

Stanzen, Konstanzen, Instanzen.

Die einzige exakte Dialektik ist die der Zirkumstanz, der Umständlichkeit.

Serres stellt die unvermeidliche Frage: warum befaßt sich ein atomistischer Physiker überhaupt mit den vier Elementen? Das scheint doch eine Regression in der Ordnung der Wissenschaft zu sein.

 

Die Antwort ist einfach und verblüffend: Das Element ist das Atom. Es ist unsterblich – wie die Leere.

 

Die Leere ist der Nullzustand der Materie, das Atom ist der Minimalzustand.

(Anscheinend übergeht Serres hier eine bekannte Tatsache: daß nämlich in der modernen Wissenschaftssprache der Begriff „Element“ eine andere Bedeutung angenommen hat. Ungefähr seit 200 Jahren spricht man von den „chemischen Elementen“ (beispielsweise Wasserstoff, Helium, Gold), inzwischen kennt man 118 davon; sie werden nach der Anzahl der im Atomkern befindlichen Protonen gereiht. Einerseits begründen sie viele wahrnehmbare Eigenschaften von Stoffen, andererseits verweist ihre Struktur auf die moderne Atomphysik, eine andere als die lukrezianische.)

 

Was aber ist nun ein gewöhnliches Element, ein „traditionelles“ Element (im Sinne der vier oder fünf antiken Elemente) für einen Atomisten? Es ist das Gegenteil eines Atoms: es ist maximal. Es ist der materielle Komplex in seiner größten Ausdehnung. Dieses Element ist der Maximalzustand.

 

Im Viereck der Elemente zeichnen sich Erde und Luft durch größere Stabilität aus: was sie geben, nehmen sie wieder zurück. Feuer und Wasser hingegen schwanken zwischen Extremen wie Brand und Flut und Dürre.

Die Zivilisationen der Erde variieren nur wenig, ebenso die Segelschiffahrt. Hingegen die Zivilisationen des Feuers, die wie Blitze einschlagen. Sobald durch die industrielle Revolution der Motor erfunden wurde, laufen alle theoretischen und praktischen Fragen auf Eskalation oder Ermüdung hinaus.[2] Die Kulturen der Überflutung oder der Feuersbrunst haben uns an die Maximierung der Energie gewöhnt. Wir essen nur noch Feuer, unsere Zeit ist an die Dauer der Flammen gebunden. An ihre vertikale Ausbreitung und ihr plötzliches Erlöschen.[3] Maximalbewegungen und extreme Ungleichgewichte. Erschöpfung von quasi ewigen Beständen in kürzester Zeit.

 

Man müßte zu den alten Lagen zurückkommen, zu den Beständen mit geringer Zirkulation. Das Feuer und das Wasser loslassen, die Luft und die Erde wieder finden. Die Industrie verlassen und zur Landwirtschaft mit ihren langsamen Metastabilitäten kommen.

 

Entweder eine perpetuierte Bewegung, die ohne tiefgehende Zerstörungen nicht möglich ist – oder eine aufrecht erhaltene Invarianz.

 

Entweder das Feuer oder die Erde.

Gleichgewicht oder Dynamik.

 

Die „neue Wissenschaft“, nämlich die lukrezianische, so Serres, entkommt diesem Dilemma. Denn sie konzipiert die Welt durch Abstand gegenüber dem Gleichgewicht. Weder archaische Konstanz noch unaufhörlich Zerstörung durch unaufhörliche Bewegung. Sondern im Moment der Diskrepanz drängen und verschieben.

 

So macht es das Leben, um dem Tod zeitweise zu entrinnen. So machen es die Gewebe, um trotz der Abnutzung zu existieren. Theorie und Praxis der Umstände, Raum der Wiedergeburt.

Es hat uns an Technologien gefehlt, um das Feuer entlang der Kanäle oder Kreisläufe arbeiten zu lassen und seine Kraft nutzbar zu machen. Eine Meisterung, die wir für global gehalten haben, sie ist aber nur lokal.

 

Erde und Luft laden zu einem stabilen Gleichgewicht ein – Erdbeben und Gewitter dauern nur kurz.

Feuer und Wasser folgen extremen Logiken, sie laufen schnellstens auf alles oder nichts hinaus.

Terror, Angst, Geburt der Götter. 

 

Phaeton

Dem jungen Phaeton wird von einem anderen Knaben, einem Sohn des Zeus, der ein Schwarzer ist, gesagt, er sei gar nicht der Sohn des Sonnengottes. Daraufhin versichert seine Mutter dem Phaeton, er sei tatsächlich der Sohn des Helios und er solle sich das von seinem Vater bestätigen lassen. Phaeton erbittet sich von Helios das Geschenk, für einen Tag den Sonnenwagen lenken zu dürfen, was der ihm widerwillig gewährt. Phaeton besteigt den kostbaren Wagen, kommt von der Bahn ab und löst eine Katastrophe aus: „Überall, wo die Erde am höchsten ist, wird sie vom Feuer ergriffen, bekommt Spalten und Risse und dörrt aus, weil ihr die Säfte entzogen werden. Das Gras wird grau, samt seinen Blättern brennt der Baum, und das trockene Saatfeld liefert seinem eigenen Untergang Nahrung …“; Ovid erklärt, so sei die dunkle Hautfarbe der Äthiopier entstanden, so die Wüste in Libyen, die Sahara. Schließlich habe die Mutter Erde Zeus angerufen, der dem unglückseligen Wagenlenker in die Tiefe gestürzt habe …  

 

Feuer und Wasser variieren katastrophisch – aber sie sind kovariant. Man muß sie als konkreszent konzipieren. Als Kriegselemente mit gleichen Chancen: aequo certamine. Die Varianz einer Seite führt zur Nichtigkeit der anderen Seite. Das ist der Nulldurchgang der Komparative und der Superlative. Die Sonne zersetzt das Meer, verflüchtigt die Wasser, hält die Fluten niedrig. Die Hitze steigt, das Hochwasser geht zurück. Umgekehrt würden die Feuer des Universums es verschlingen, wenn die Flüsse nicht steigen und sie auslöschen möchten. Dieses Gleichgewicht ist delikat, es ist fragil und temporär. . . . (Siehe 68ff.)

 

 

Walter Seitter

 

 




[1] Bevor sich der negative Begriff „Negentropie“ durchgesetzt hat, sprach der deutsche Physiker Felix Auerbach (1856-1933) von „Ektropie“ als jener Energieform, die Differenzierung und Ordnung verstärkt und die es daher verdient, logisch positiv benannt zu werden. Auerbach hat auf das griechische Wort ektrope zurückgegriffen, das Abwendung, Abweichung bedeutet und daher auf clinamen verweist. Siehe Felix Auerbach: Ektropismus und die physikalische Theorie des Lebens (Leipzig 1910). Die erfolgreiche Verdrängung des Wortes „Ektropie“ dürfte auf Erwin Schrödinger zurückgehen, der Auerbach sehr gut gekannt hatte. Michel Serres erwähnt dieses Detail nicht, wohl aber verweist er gerade hier auf die in der Wissenschaftsgeschichte häufigen „Vätermorde“.

[2] Französische Soziologen und Philosophen präferieren seit dem frühen 19. Jahrhundert zur Kennzeichnung der modernen Zivilisation Begriffe, die auf die „Industrie“ abheben, weil damit die materielle Produktionsweise in den Blick kommt und so ein gewisser Physikalismus zum Zug kommt. Siehe dazu Walter Seitter: „Industrie“ in: H. Ebner, I. Gurschler; W. Seitter (Hg.): Wörter, Bilder, Körper. Zu Pierre Klosswskis ‚Lebendes Geld (Wien-Berlin 2018): 91ff.

[3] In diesen immer noch heißen Spätsommertagen wird in Rußland Erdgas, das nicht nach Westeuropa exportiert werden soll oder kann, in großen Mengen „abgefackelt“, das heißt einfach in die Luft verbrannt. Die Gasverbrennung ist eine Konstante geworden, die so oder so durchgeführt werden muß, weil die „Förderung“ des Erdgases seit Jahrzehnten institutionalisiert ist.

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